Verwaltungsrecht

Zur Geeignetheit einer Pflegeperson bei Vorstrafen

Aktenzeichen  12 ZB 20.152

Datum:
18.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41311
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 27, § 44, § 72a
AGSG Art. 35, Art. 40
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3

 

Leitsatz

Die Eignung als Pflegeperson entfällt nur dann automatisch, wenn eine Katalogstraftat des § 72a Abs. 1 SGB VIII vorliegt; bei anderen Straftaten kommt es auf die Relevanz für die Aufgabenstellung und den konkreten Einzelfall an (hier: BtMG-Verstöße des Großvaters). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 3 K 18.980 2019-11-14 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 18. November 2019 insoweit, als der Beklagte verpflichtet wurde, unter Aufhebung der Ziff. 2 des Bescheids des Beklagten vom 20. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juni 2018 dem Kläger Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII im Haushalt der Großeltern für seine im Dezember 2011 geborene Tochter E. zu gewähren, bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe, auf deren Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO), greifen – soweit überhaupt den Erfordernissen des § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO entsprechend dargelegt – nicht durch.
1. Die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ist nicht im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ernstlich zweifelhaft.
1.1 Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass für das Kind E. ein Hilfebedarf vorliegt und dieser grundsätzlich durch Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27 Abs. 1, 33 SGB VIII gedeckt werden kann. Im Streit steht allein die Geeignetheit der vom personensorgeberechtigten Kindsvater konkret gewünschten Pflegestelle in der Familie der Großeltern.
1.2 Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der die Hilfe zur Erziehung versagende Bescheid des Beklagten vom 20. Juli 2015 nicht erkennen lässt, weshalb der Beklagte das Kindeswohl in der Pflegestelle als nicht gewährleistet ansieht und – ebenso wenig wie der Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2018 – eine Einzelfallprüfung ersichtlich werden lässt, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Es konnte deshalb zutreffend eine Verpflichtung zur Gewährung der Jugendhilfeleistung aussprechen, weil sich der Beurteilungsspielraum dahingehend verdichtet hatte, dass letztlich nur die gewünschte Pflegefamilie für die Leistung der Hilfe zur Erziehung in Betracht kommt, da der Entscheidungsprozess beim Beklagten im Übrigen abgeschlossen ist und es nur noch auf die Frage der Geeignetheit der Pflegeperson ankommt.
1.3 Das Verwaltungsgericht läßt dabei entgegen der Auffassung des Beklagtenbevollmächtigten den Grundsatz nicht außer Acht, dass es sich bei der Entscheidung des jeweiligen Jugendamts über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung der betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, das nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern „lediglich“ eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar ist. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich daher regelmäßig darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 18.12.2012 – 5 C 21.11 -, BVerwGE 145,1 Rn. 30 ff.; BayVGH, U. v. 9.3.2010 – 12 B 19.795 – juris; U.v.15.5.2013 – 12 B 13.129 – Beck RS 2013,50876 Rn. 26 ff.). Dabei setzt die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII die Eignung der Pflegeperson voraus, wobei bei der Beurteilung der Eignung maßgeblich die Versagungsgründe aus Art. 35 AGSG zu berücksichtigen sind und zwar auch dann, wenn – wie hier – für eine geleistete Betreuung keine Pflegerlaubnis im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erforderlich ist.
1.4 Gemessen an diesem Maßstab hat das Verwaltungsgericht zu Recht die der Entscheidung wohl zu Grunde liegende Einschätzung des Beklagten, der Großvater sei allein aufgrund der geahndeten Straftaten als Pflegeperson ungeeignet, als sach-fremde Erwägung erachtet. Entgegen der Auffassung des Beklagtenbevollmächtigten argumentiert das Verwaltungsgericht gerade nicht damit, dass die Eignung als Pflegeperson nur dann entfallen würde, wenn eine Katalogstraftat des § 72a Abs. 1 SGB VIII vorliegt. Vielmehr hat es zu Recht darauf abgestellt, dass angesichts der Vorstrafen des Großvaters eine Prüfung der Umstände des Einzelfalls zu erfolgen hat, was vorliegend durch den Beklagten jedoch gänzlich unterblieben ist. Dem tritt der Beklagtenbevollmächtigte nicht substantiiert entgegen. Bei anderen als den von § 72 a SGB VIII aufgeführten Straftaten kommt es auf die Relevanz für die Aufgabenstellung und den konkreten Einzelfall an, jedenfalls entfällt die Eignung nicht automatisch (vgl. Mörsberger in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 44 Rn. 11). Soweit der Beklagte meint, die Maßstäbe des § 72a SGB VIII seien im hier vorliegenden Fall der Vollzeitpflege nicht anzuwenden, übersieht er, dass im Hinblick auf den Wortlaut „beschäftigen oder vermitteln“ auch solche Personen einbezogen sind, die von einem Träger der öffentlichen Jugendhilfe vermittelt werden. Dazu zählen insbesondere Pflegepersonen für die Kindertagespflege und die Vollzeitpflege, auch wenn diese nicht „hauptberuflich“ beschäftigt sind, was sich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift entnehmen lässt (vgl. Wiesner in: SGB VIII, Kinder und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2015, § 72a Rn. 18).
1.5 Der Senat verkennt nicht, dass die Vorstrafen und insbesondere auch die zwischenzeitlich erneut bekannt gewordenen Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz schwer wiegen. Dabei darf jedoch auch nicht außer Acht gelassen werden, dass im Hinblick auf die Großmutter offenbar keinerlei Anhaltspunkte für eine Ungeeignetheit als Pflegeperson vorliegen und auch vom Beklagten nicht vorgebracht wurden. Allein aus dem Umstand, dass beide Großeltern zusammen leben und der Einfluss des Großvaters dadurch auf beide Kinder möglich ist, entbindet den Beklagten nicht von seiner Verpflichtung zur Überprüfung des Einzelfalls, die, wie ausgeführt, vorliegend unterblieben ist. Dies gilt auch insoweit, als die vorgelegte Stellungnahme der Grundschule Kitzingen-Siedlung vom 25. Februar 2019 nicht berücksichtigt wurde. Soweit der Beklagtenbevollmächtigte meint, der Beklagte sei nicht einmal gehalten gewesen, sich mit dieser Stellungnahme näher auseinanderzusetzen, zeigt dies erneut deutlich auf, dass der Beklagte eine umfassende Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände nicht durchgeführt, sondern der Familie in ihrer Gesamtheit allein aufgrund der Vorstrafen des Großvaters die Geeignetheit als Pflegestelle abgesprochen hat.
Der Beklagte stellt auch selbst nicht infrage, dass das Jugendamt im Hinblick darauf, ob das Wohl des Kindes in der Pflegestelle nicht gewährleistet ist, grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast trägt (BayVGH, U.v. 9. März 2020, a.a.O.). Behördliche Bedenken hinsichtlich der Eignung einer Pflegeperson müssen aber substantiiert und mit konkreten Ereignissen belegt werden, um tragfähig zu sein (BayVGH, B. v. 16. Oktober 2013 – 12 C 13.1599 – juris; B.v. 29. Juli 2013 – 12 C 13.1183 – juris).
1.6 Entgegen der Auffassung des Beklagtenbevollmächtigten wurde dem Beklagten auch nicht die Möglichkeit genommen, die im Einzelfall notwendige Hilfe im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums zu prüfen, weil der sorgeberechtigte Kläger von vornherein und ausschließlich die Gewährung der Hilfe bei seinen Eltern, bei denen das Kind E. zusammen mit seiner Zwillingsschwester bereits seit 2012 lebt, gewünscht hat. Ganz im Gegenteil wäre der Beklagte verpflichtet gewesen, Alternativen aufzuzeigen, wenn er die Großeltern als nicht geeignete Pflegepersonen erachtet. Dem vom Verwaltungsgericht zutreffend aufgezeigten Widerspruch zwischen der faktischen Hinnahme des Betreuungsverhältnisses und der angeblichen Ungeeignetheit der Vollzeitpflege durch die Großeltern hat der Beklagtenbevollmächtigte im Zulassungsverfahren nichts substantiiert entgegen-gesetzt. Das Vorbringen, der Beklagte habe sein Ermessen nach Art. 40 AGSG bislang dahingehend ausgeübt, die Pflegetätigkeit nicht zu untersagen, was umgekehrt aber nicht zu einer Bestätigung deren Geeignetheit nach § 44 SGB VIII führe, vermag diesen Widerspruch nicht aufzulösen. Jedenfalls hätte es hierzu einer Erläuterung im Rahmen der fachlichen Einschätzung des Jugendamts bedurft (vgl. BayVGH, B.v. 16. Oktober 2013, a.a.O.; B.v. 29. Juli 2013 – 12 C 13.1183 – juris). Auch der Einwand, es läge keine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB vor, verfängt nicht. Denn der Begriff der Gefährdung des Kindeswohls im Familienrecht ist mit der fehlenden Gewährleistung des Kindeswohls im Bereich der Jugendhilfe nicht identisch und ein Einschreiten der Jugendhilfe ist auch bereits unterhalb der Schwelle der Gefährdung des Kindeswohls möglich (vgl. BayVGH, B.v. 16. Oktober 2013, a.a.O.).
1.7 Soweit der Beklagtenbevollmächtigte meint, die Großeltern seien nicht kooperationsbereit, sind Anhaltspunkte hierfür den vorgelegten Akten nicht zu entnehmen. Allein aus dem zunächst nicht beigebrachten Führungszeugnis lässt sich diese Annahme nicht herleiten.
1.8 Der Einwand der Beklagtenseite, sie habe trotz Darlegungs- und Beweislast nur eingeschränkte Möglichkeiten, sich die zur Beurteilung der Geeignetheit erforderlichen Angaben zu verschaffen, verfängt ebenfalls nicht. Zu Recht weist die Klägerbevollmächtigte darauf hin, dass die Möglichkeit der Kontaktaufnahme über den Allgemeinen Sozialdienst besteht. Im Übrigen verschafft die Gewährung einer Hilfe zur Erziehung und der damit verbundenen umfassenden Begleitung des Pflegeverhältnisses dem Jugendamt bessere Möglichkeiten, sich Einblick in die Verhältnisse zu verschaffen, um so auch die Gewährleistung des Kindeswohls sicherzustellen. Das Verwaltungsgericht weist zutreffend darauf hin, dass im Falle der Gewährung von Hilfe zur Erziehung, verbunden mit der Leistung von Pflegegeld, das Jugendamt die Möglichkeit hat, eventuell entstehenden Defiziten in der Erziehungsleistung der Pflegeeltern im Rahmen eines Hilfeplans, der gesetzlich vorgeschriebenen Zusammenarbeit und der Überprüfungsbefugnisse der Behörde (vgl. § 37 Abs. 1 und Abs. 3 SGB VIII) vorzubeugen.
2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) auf, die sich nicht bereits im Zulassungsverfahren hätten klären lassen können und daher die Zulassung der Berufung erfordern würden.
Besondere rechtliche Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor, wenn sich die in Rede stehenden Rechtsfragen – wie hier – ohne weiteres unter Anlegung der klassischen Auslegungskriterien aus dem Gesetz lösen lässt oder sie in der Rechtsprechung der Obergerichte oder des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt ist (BayVGH, B.v. 2.8.2016 – 6 ZB 15.20 – Beck RS 2016,50133 Rn. 25; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 32). Ungeachtete dessen wurden die vom Beklagtenbevollmächtigten als rechtlich schwierig erachteten Fragen auch bereits unter Ziffer 1 erörtert.
3. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache dient in erster Linie der Rechtseinheit und der Fortentwicklung des Rechts. Er erfordert deshalb, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich werde, bisher höchstrichterlich oder durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt ist und eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung aufweist (vgl. dazu Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124 RdNrn. 35 f.). Das ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was der Kläger innerhalb der Begründungsfrist für den Zulassungsantrag dargelegt hat (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Der Beklagtenbevollmächtigte formuliert jedoch schon keine konkrete Rechtsfrage. Auch kommt der Rechtssache keine über den Einzelfall hinausgehende grundsätzliche Bedeutung zu. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht dem Beklagten entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten auch nicht die grundsätzliche Kompetenz zur Prüfung der Eignung von Pflegeeltern abgesprochen. Es hat vielmehr zu Recht darauf abgestellt, dass diese Prüfung im Einzelfall durch den Beklagten vorliegend gerade nicht erfolgt ist.
4. Demzufolge kommt dem Antrag auf Zulassung der Berufung insgesamt kein Erfolg zu. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das verwaltungsgerichtliche Urteil nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig.
5. Die Beklagte trägt nach § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden in Angelegenheiten des Kinder- und Jugendhilferechts nach § 188 Satz 2, 1 VwGO nicht erhoben.
6. Nach alledem hätte dem Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung stattgegeben werden müssen (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO). Eine Entscheidung darüber konnte aber vorliegend unterbleiben, weil der Beklagte die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt und den Kläger demzufolge keine Kostenlast trifft.
7. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.


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