Aktenzeichen I B 186/09
§ 11 KStG 2002
§ 12 Abs 1 S 1 KStG 2002
Art 2 Abs 1 Nr 4 Buchst c DBA FRA
SEStEG
Leitsatz
1. NV: Die Liquidationsbesteuerung infolge der Verlegung des Sitzes oder der Geschäftsleitung einer Körperschaft ins Ausland (hier: nach Frankreich) gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 11 KStG i.d.F. vor dem SEStEG setzt das Ausscheiden aus der unbeschränkten Steuerpflicht voraus. Das ist nicht der Fall, wenn eine GmbH lediglich ihre Geschäftsleitung, nicht aber auch ihren satzungsmäßigen Sitz ins Ausland verlegt.
2. NV: Dass die GmbH nach Maßgabe des DBA-Frankreich als in Frankreich ansässig gilt, ist nicht mit dem Ausscheiden aus der unbeschränkten Steuerpflicht gleichzusetzen.
Verfahrensgang
vorgehend Finanzgericht des Saarlandes, 26. August 2009, Az: 1 K 1197/06, Urteilnachgehend BFH, 22. August 2012, Az: I B 86, 87/11, Beschluss
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, hat mit dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt –FA–) eine tatsächliche Verständigung dahingehend getroffen, dass sie den Ort ihrer Geschäftsleitung im Jahr 2002 …/Deutschland nach …/Frankreich verlegt hat. Sie hat für die Streitjahre (2001 und 2002) keine vollständigen Körperschaft- und Umsatzsteuererklärungen abgegeben. Das FA erließ daraufhin im Wege der Schätzung gemäß § 162 der Abgabenordnung u.a. Körperschaftsteuerbescheide und Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre. Es legte dabei Umsätze von 1,75 Mio. DM (2001) bzw. 1,295 Mio. € (2002) und Gewinne von 18.714 DM (2001) und 99.405 € (2002) zugrunde. Bei der Ermittlung des Gewinns hat das FA für das Streitjahr 2002 aufgrund der Verlegung des Orts der Geschäftsleitung nach Frankreich einen auf 100.000 € geschätzten “Aufgabegewinn” berücksichtigt.
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Die gegen die genannten Bescheide erhobene Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) des Saarlandes hat sie mit Urteil vom 26. August 2009 1 K 1197/06 als unbegründet abgewiesen.
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Die Klägerin beantragt die Zulassung der Revision gegen das FG-Urteil und begründet ihr Begehren mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, mit der Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und mit Verfahrensmängeln.
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Das FA hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat teilweise Erfolg, teilweise ist sie unzulässig.
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1. In Bezug auf die Festsetzung der Körperschaftsteuer für das Streitjahr 2002 ist die Nichtzulassungsbeschwerde begründet und führt insoweit zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).
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a) Dem FG ist insofern ein Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO unterlaufen, als es sich in Bezug auf den vom FA bei der Gewinnermittlung für das Streitjahr 2002 angesetzten “Aufgabegewinn” mit einem wesentlichen rechtlichen Einwand der Klägerin nicht befasst und damit deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO).
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Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht grundsätzlich dazu, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen, sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen und bei der Begründung zu berücksichtigen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG– vom 10. März 1992 2 BvR 430/91, Neue Juristische Wochenschrift 1992, 2217; BFH-Beschluss vom 5. November 2009 II B 4/09, BFH/NV 2010, 229). Allerdings ist das Gericht nicht verpflichtet, in der Begründung seiner Entscheidung zu jedem Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich Stellung zu nehmen. Auch ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat (BVerfG-Beschluss vom 19. Mai 1992 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133; Senatsbeschluss vom 22. April 2009 I B 162/08, BFH/NV 2009, 1458, m.w.N.).
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Im Streitfall besteht indes Grund zu der Annahme, dass das FG den im Schriftsatz der Klägerin vom 25. August 2009 geltend gemachten Rechtseinwand, die vom FA vorgenommene Sofortbesteuerung der stillen Reserven des Betriebsvermögens als “Aufgabegewinn” verstoße gegen die gemeinschaftsrechtliche Grundfreiheit der Niederlassungsfreiheit, übersehen hat. Denn die Klägerin bezieht sich in dem Schriftsatz ausdrücklich auf Entscheidungen der Finanzgerichte Köln (Urteil vom 18. März 2008 1 K 4110/04, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2009, 259) und Rheinland-Pfalz (Urteil vom 17. Januar 2008 4 K 1347/03, EFG 2008, 680), die beide in der Sofortbesteuerung des Aufgabegewinns beim Wegzug von Einzelunternehmern in das Ausland nach der Theorie der finalen Betriebsaufgabe (aufgegeben durch Senatsurteile vom 28. Oktober 2009 I R 99/08, BFHE 227, 83, und I R 28/08, BFH/NV 2010, 432) einen klaren Verstoß gegen das EU-Recht gesehen haben. Vor diesem Hintergrund erscheint es als ausgeschlossen, dass das FG den Einwand der Klägerin –bezogen auf die Sofortbesteuerung des “Aufgabegewinns” einer Kapitalgesellschaft– zwar zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung bedacht, ihn jedoch als so unwichtig bzw. abwegig eingeschätzt hat, dass er in den Entscheidungsgründen keiner besonderen Erwähnung bedürfe.
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b) Bei der erneuten Befassung mit der Sache wird das FG zu bedenken haben, dass als Rechtsgrundlage für die Sofortbesteuerung der stillen Reserven aufgrund des Wegzugs einer GmbH in das Ausland im Streitjahr 2002 die Bestimmung des § 12 Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes 2002 i.d.F. vor Inkrafttreten des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften vom 7. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2782, BStBl I 2007, 4) –KStG 2002 a.F.– maßgeblich ist. Danach ist eine Liquidationsbesteuerung entsprechend § 11 KStG 2002 a.F. durchzuführen, wenn eine unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaft ihre Geschäftsleitung und ihren Sitz oder eines von beiden ins Ausland verlegt und dadurch aus der unbeschränkten Steuerpflicht ausscheidet. Ein Verlust der unbeschränkten Steuerpflicht setzt indes voraus, dass die Kapitalgesellschaft nicht nur den Ort ihrer Geschäftsleitung, sondern auch ihren statutarischen Sitz in das Ausland verlegt. Denn auch eine Kapitalgesellschaft, die nur ihren Sitz im Inland hat, ist hier gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG 2002 a.F. unbeschränkt steuerpflichtig. Ob die Klägerin im Streitjahr 2002 nicht nur ihre Geschäftsleitung, sondern auch ihren statutarischen Sitz nach Frankreich verlegt hat, bedarf deshalb noch der Aufklärung, bevor sich ggf. die Frage der Vereinbarkeit des § 12 Abs. 1 Satz 1 KStG 2002 a.F. mit dem EU-Recht stellt.
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Nicht mit dem Verlust der unbeschränkten Steuerpflicht gleichzusetzen wäre es, wenn die Klägerin ihren Sitz im Inland behalten hätte, sie jedoch nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21. Juli 1959 (BGBl II 1961, 398) i.d.F. vom 28. September 1989 (BGBl II 1990, 772) als in Frankreich ansässig gelten würde (vgl. Lambrecht in Gosch, Körperschaftsteuergesetz, 2. Aufl., § 12 Rz 15; Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, § 12 KStG Rz 16, m.w.N., auch zur Gegenauffassung). Denn diese Bestimmung fingiert die Ansässigkeit lediglich für Abkommenszwecke.
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2. Im Übrigen (Körperschaftsteuer 2001, Umsatzsteuer 2001 und 2002) ist die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig, weil sie insoweit entgegen § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht hinreichend begründet worden ist. Die Klägerin hat nicht dargetan, welchen Einfluss das von ihr problematisierte Thema –die Berücksichtigung des “Aufgabegewinns” im Rahmen der Gewinnermittlung für das Streitjahr 2002– auf die Rechtmäßigkeit dieser Bescheide haben könnte. Es ist damit im Hinblick auf diese Bescheide nicht ersichtlich, dass die von der Klägerin aufgeworfenen Rechtsfragen in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig wären oder dass das FG-Urteil auf den geltend gemachten Verfahrensmängeln beruhen könnte.