Medizinrecht

Arzthaftung, grober Befunderhebungsfehler, unterlassene Abklärung einer Basilaristhrombose, individueller Heilversuch als Therapieoption, Pflicht zur Verlegung des Patienten

Aktenzeichen  4 U 84/19

Datum:
17.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 46367
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB 823 Abs. 1
ZPO 286
ZPO 304
ZPO 538 Abs. 2 Nr. 4

 

Leitsatz

1. Die bei einem notfallmäßig eingelieferten Patienten unterlassene Abklärung der aufgrund der Symptomatik gebotenen Differentialdiagnose einer Basilaristhrombose im Wege bildgebender Verfahren stellt einen groben Befunderhebungsfehler dar.
2. Bei einem groben Befunderhebungsfehler kehrt sich die dem Patienten oblie-gende Beweislast für einen Ursachenzusammenhang zwischen ärztlichem Fehler und Gesundheitsschaden um, sofern nicht die Behandlerseite nachweist, dass ein haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahr-scheinlich ist.
3. In einem solchen Fall ist ein Ursachenzusammenhang nicht deshalb völlig un-wahrscheinlich, weil die sich nach einer ordnungsgemäßen Befunderhebung ergebenden Behandlungsmöglichkeiten (hier: intra-arterielle Lyse oder mecha-nische Rekanalisation) im Behandlungszeitpunkt nicht dem Facharztstandard entsprochen hatten, aber gleichwohl geeignet gewesen wären, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.
4. Im Fall einer lebensbedrohlichen Basilaristhrombose steht einem solchen ur-sächlichen Zusammenhang auch nicht entgegen, dass eine geeignete Therapieoption nur in einer Spezialklinik bestanden hätte und deshalb die sofortige Verlegung des Patienten dorthin erforderlich gewesen wäre.

Verfahrensgang

34 O 331/10 2019-03-12 Urt LGBAYREUTH LG Bayreuth

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 12.03.2019, Az. 34 O 331/10, abgeändert.
2. Der Anspruch der Klägerin auf Ersatz des Schadens aus der ärztlichen Behandlung durch die Beklagte vom 04.01. – 05.01.2009 ist dem Grunde nach gerechtfertigt
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen wie immateriellen Schäden, die aus der fehlerhaften Behandlung entstanden sind oder noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese nicht von den im Berufungsverfahren gestellten Klageanträgen 1 bis 3 umfasst sind oder die Forderungen auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
4. Zur Entscheidung über die Höhe des Anspruchs gegen die Beklagte und die Kosten des Verfahrens wird der Rechtsstreit an das Landgericht Bayreuth zurückverwiesen.
5. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Klägerin begehrt Schadensersatz nach einer Notfallbehandlung im Klinikum der Beklagten im Januar 2009.
Die Klägerin wurde am 04.01.2009 gegen 12:48 Uhr notfallmäßig vom Rettungsdienst mit der Verdachtsdiagnose einer Subarachnoidalblutung (SAB) in das Klinikum H. in B., dessen Träger die Beklagte ist, eingeliefert. Nach Durchführung einer Aufnahmeuntersuchung und Aufnahme der Klägerin um 13:25 Uhr in die Schlaganfallabteilung Station 10 Stroke Unit wurde vom dort diensthabenden Arzt eine craniale Computertomographie (CCT) wegen „V.a.
Subarachnoidalblutung bei plötzlicher Bewusstlosigkeit, Sopor, Erbrechen m Hör und Sehstörung, Differenzialdiagnose dissoziative Störung“ angefordert.
Das um 13:52 Uhr durchgeführte CCT erbrachte folgenden Befund:
„Keine intrakranielle Blutung, insbesondere kein Nachweis einer SAB. (…) Beurteilung: intrakranieller Normalbefund. Bildmorphologisch im CCT kein Korrelat für die angegebene Symptomatik. Falls Verdacht auf Hirnstammsymptomatik gegebenenfalls CTA zum Ausschluss akuter Basilararterien-Verschluss notwendig.“
Um 14:01 Uhr erfolgte ein Aufnahmelabor. Eine computertomographische Angiographie (CTA) oder eine Magnetresonanzangiographie (MRA) mit Kontrastmittel wurden nicht durchgeführt. Das Labor ergab eine mikrozytäre Anämie mit einem auffällig niedrigen Hb-Wert von 7,7 g/dl und einem Hämatokrit von nur 26%. Aufgrund anamnestischer Angaben des Lebensgefährten der Klägerin war der Verdacht auf ein Gebärmutterhalskarzinom Pap V bei der Klägerin bekannt.
Gegen 17:00 Uhr wurde eine Lumbalpunktion durchgeführt. Das Ergebnis lag um 17:58 Uhr vor und bestätigte den Ausschluss einer SAB. Im weiteren Verlauf wurden der Klägerin Acetylsalicylsäure (1 Amp. Aspisol) sowie zwei Erythrozytenkonserven verabreicht und es wurde eine MRT-Untersuchung des Beckens angeordnet.
Am 05.01.2009, 18:25 Uhr, erfolgte die Verlegung der Klägerin in die neurologische Klinik des Bezirksklinikums B.. Dort wurde sie bis 09.01.2009 und vom 11.01. – 02.02.2009 stationär behandelt. Am 16.01.2009 wurde nach Anfertigung einer MRT mit Kontrastmittel ein Schlaganfall diagnostiziert.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.
Die Klägerin ist der Ansicht, es sei grob fehlerhaft gewesen, dass nach Anfertigung des CCT keine weiteren bildgebenden Untersuchungen vorgenommen worden seien. Zur Abklärung der Differenzialdiagnose Basilaristhrombose (BT) hätte eine CTA sowie ein MRT gefertigt werden müssen. Zwar sei aufgrund der Tumorerkrankung eine intravenöse Lyse-Therapie kontraindiziert gewesen. Allerdings hätten weitere Therapieoptionen zur Verfügung gestanden, nämlich die mechanische Rekanalisation (Thrombektomie) sowie die intraarterielle Lyse, gegebenenfalls nach Verlegung der Klägerin in ein dafür geeignetes Krankenhaus.
Die Klägerin behauptet, sie habe aufgrund der fehlerhaften Behandlung folgende Gesundheitsschäden erlitten:
Homonyme Hemianopsie rechts (Gesichtsfeldausfall), Dysarthrie (neurologisch bedingte Sprechstörung) mit ataktischer Sprache, psychopathologische Verlangsamung, spastische Parese mit Hemi-Ataxie rechts (halbseitige Störung der Bewegungskoordination), Störung der Feinmotorik rechts, Bradydiadochokinese des rechten Arms, Gangunsicherheit mit Gleichgewichtsstörung und Hyperästhesie des linken Beins, Tinnitus nach Hörsturz, Einschränkung der Merkfähigkeit und des Konzentrationsvermögens, Störung der Orientierungsfähigkeit, Störung des Empfindungsvermögens für Temperaturen, depressive Verstimmungen.
Die Klägerin hat in erster Instanz von der Beklagten und vom Bezirksklinikum B. den Ersatz materieller und immaterieller Schäden gefordert.
Das Landgericht Bayreuth hat Beweis erhoben durch Einvernahme des Lebensgefährten der Klägerin sowie Erholung eines Gutachtens durch den Sachverständigen L., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, den es zu seinem schriftlichen Gutachten vom 25.11.2011 am 17.07.2012 und am 17.05.2013 angehört hat. Es hat die Klage mit Endurteil vom 17.05.2013 abgewiesen.
Mit Urteil vom 17.03.2014 hat der Senat auf die Berufung der Klägerin das nur bezüglich der Beklagten angefochtene Urteil insoweit aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Bayreuth zurückverwiesen.
Das Landgericht Bayreuth hat in der Folge als weiteren Sachverständigen I., Facharzt für Neuroradiologie, hinzugezogen, der am 20.12.2015 (GA I), 06.07.2016 (GA II) und 24.01.2017 (GA III) schriftliche Gutachten erstattet hat und am 09.11.2017 und 05.07.2018 zu diesen vernommen worden ist.
Die Klägerin hat in erster Instanz zuletzt folgende Anträge gestellt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nicht unter 120.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Klagezustellung zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen weiteren Betrag in Höhe von 46.476,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine monatliche Geldrente in Höhe von mindestens 1.648,30 €, beginnend ab dem 01.10.2010, vierteljährlich vorschüssig zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren materiellen wie immateriellen Schäden, die aus der fehlerhaften Behandlung entstanden sind oder noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese nicht mit den Klageanträgen 1 bis 3 abgegolten sind oder die Forderungen auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Mit Endurteil vom 12.03.2019 hat das Landgericht Bayreuth die Klage erneut abgewiesen. Es hat ausgeführt, es sei zwar von einem groben Befunderhebungsfehler auszugehen, weil die Abklärung der Differenzialdiagnose BT in schlechterdings nicht nachvollziehbarer Weise unterlassen worden sei. Allerdings sei der Beklagten der Nachweis gelungen, dass der Befunderhebungsfehler nichts am Verlauf des Krankheitsgeschehens verändert habe. Denn weder die Durchführung einer mechanischen Rekanalisation noch die Durchführung einer intraarteriellen Lysebehandlung wären vom seinerzeit einschlägigen fachärztlichen Standard gefordert gewesen. Die Methode der mechanischen Rekanalisation sei von der Beklagten erst 2011 eingeführt worden. Es hätten daher keine alternativen Behandlungsmethoden zur Verfügung gestanden.
Die Klägerin hat gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 18.03.2018 zugestellte Urteil am 10.04.2019 Berufung eingelegt, die sie nach Fristverlängerung bis 20.06.2019 am 18.06.2019 begründet hat.
Sie erhebt im Wesentlichen folgende Einwendungen:
Die mechanische Rekanalisation und intraarterielle Fibrinolyse hätten als Therapiemöglichkeiten zur Verfügung gestanden; es hätte eine Verlegung an die Uniklinik E. erfolgen können bzw. müssen. Diese habe bereits 2008 die mechanische Rekanalisation als anerkanntes Heilverfahren angewandt. Auch 2009 wäre bekannt gewesen, dass die mechanische Rekanalisation die Aussichten des Patienten verbessere. Zudem werde bereits in der Leitlinie von 2008 die Empfehlung getroffen, betroffenen Patienten in ein Zentrum zur Durchführung der genannten Behandlungsmöglichkeiten zu verlegen, was auch der Sachverständige I. bestätigt habe.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf die Berufungsbegründung verwiesen.
Der Senat hat im Termin vom 18.11.2019 darauf hingewiesen, dass eine Haftung der Beklagten aufgrund eines groben Befunderhebungsfehlers in Betracht kommt. Mit Zustimmung der Parteien ist gemäß § 128 Abs. 2 ZPO ein Übergang ins schriftliche Verfahren erfolgt und eine Frist zur Einreichung von Schriftsätzen bis zum 30.01.2020 bestimmt worden.
Die Beklagte hat mit Schriftsätzen vom 15.01.2020 und 30.01.2020 weiter zum Haftungsgrund ausgeführt. Sie behauptet, eine BT habe bei der Klägerin am 04.01./05.01.2020 überhaupt nicht vorgelegen, ein Nachweis hierfür fehle. Folglich könne auch keine Pflichtverletzung der Beklagten vorliegen. Die Behandlung sei leitliniengerecht erfolgt. Das Unterbleiben eines individuellen Heilversuchs könne keinen Behandlungsfehler darstellen. Jedenfalls sei kein haftungsbegründender Zusammenhang gegeben, weil eine Verlegung in die Uniklinik E. frühestens um 19:30 Uhr hätte erfolgen können und zu diesem Zeitpunkt das Zeitfenster für eine erfolgreiche Alternativbehandlung bereits abgelaufen gewesen sei. Eine vollständige Wiederherstellung sei ausgeschlossen oder zumindest völlig unwahrscheinlich. Zudem sei nach der Verlegung ins Bezirkskrankenhaus auch ohne Thrombektomie eine deutliche Besserung des Gesundheitszustands eingetreten. Schließlich müsse auch berücksichtigt werden, dass in mehr als 50% der Fälle bei Anwendung der Thrombektomie keine Verbesserung, sondern sogar eine Verschlechterung zu beobachten sei.
Mit Schriftsatz vom 28.01.2020 hat die Klägerin die Klage hinsichtlich des Klageantrags Ziffer 2 in Höhe von 9.431,20 € teilweise zurückgenommen.
Die Klägerin beantragt nunmehr im Berufungsverfahren:
1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nicht unter 120.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Klagezustellung zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen weiteren Betrag in Höhe von 37.045,20 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine monatliche Geldrente in Höhe von mindestens 1.648,30 €, beginnend ab dem 01.10.2010, vierteljährlich vorschüssig zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren materiellen wie immateriellen Schäden, die aus der fehlerhaften Behandlung entstanden sind oder noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese nicht mit den Klageanträgen 1 bis 3 abgegolten sind oder die Forderungen auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Sie beantragt hilfsweise, den Rechtsstreit für das Betragsverfahren an das Landgericht Bayreuth zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf die in erster Instanz und im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze samt Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
II.
Die Berufung ist zulässig (§§ 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 513 Abs. 1, 517, 519 f. ZPO). Sie hat auch in der Sache insoweit Erfolg, als dem erhobenen Feststellungsantrag im Wege des Teilurteils stattzugeben und die Klage im Übrigen durch Zwischenurteil dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären ist (§ 304 ZPO).
Der Klägerin steht gegen die Beklagte dem Grunde nach ein vertraglicher Anspruch auf materiellen und immateriellen Schadensersatz zu. Die Entscheidung über die Höhe der Ansprüche bleibt dem Betragsverfahren vorbehalten; insoweit ist der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif und wird zur Durchführung des Betragsverfahrens an das Landgericht Bayreuth zurückverwiesen, § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO.
Soweit die Klägerin die Feststellung beantragt, dass weitere materielle und immaterielle Schäden zu ersetzen sind, die nicht vom Schmerzensgeldantrag sowie den bezifferten Klageanträgen umfasst sind, war der Klage im Wege des Teilurteils stattzugeben.
1. Es kann offenbleiben, ob zwischen der Klägerin und der Beklagten, vertreten durch ihren Lebensgefährten, nach der notfallmäßigen Einlieferung ein Behandlungsvertrag geschlossen worden ist oder ob die für die Beklagte tätigen Ärzte die Behandlung im Wege der Geschäftsführung ohne Auftrag vorgenommen haben (vgl. hierzu Lafontaine in jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 630a, Rn. 50). In beiden Fällen sind identische Sorgfaltspflichten zu beachten (PalandtSprau, BGB, 79. Aufl., § 823, Rn. 143). Ein Anspruch gegen die Beklagte besteht daher jedenfalls gemäß §§ 677, 280 Abs. 1, 278 BGB. Zudem entsprechen die einem Arzt bei der Behandlung obliegenden dienstvertraglichen Sorgfaltspflichten auch den deliktischen Sorgfaltspflichten nach §§ 823 ff. BGB (BGH, Urt. v. 20.09.1988, VI ZR 37/88, Rn. 13, zitiert – wie auch die folgenden Urteile – nach juris), woran sich auch durch das Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes zum 26.02.2013 nichts geändert hat (Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl., B 22a).
2. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass den behandelnden Ärzten ein grober Befunderhebungsfehler bei der Behandlung der Klägerin vorzuwerfen ist. Dieser Befunderhebungsfehler liegt in der unterlassenen Abklärung der Differenzialdiagnose Basilaristhrombose (BT) durch bildgebende Verfahren (CTA, MRA).
a) Wird die Erhebung eines medizinisch gebotenen Befundes unterlassen, so liegt hierin ein Behandlungsfehler (BGH, Urt. v. 26.01.2016, VI ZR 146/14, Rn. 6; Urt. v. 30.09.2003, VI ZR 438/02, Rn. 14). Im vorliegenden Fall wäre der behandelnde Arzt verpflichtet gewesen, durch weitere diagnostische Maßnahmen abzuklären, ob bei der Klägerin eine BT vorliegt. Dabei wird im Folgenden der Begriff der Basilaristhrombose entsprechend der klinischen Praxis im weiten Sinne verwendet, so dass sowohl der Verschluss der Arteria basilaris durch einen Abscheidungsthrombus aufgrund einer arteriosklerotischen Wandveränderung umfasst ist (klassische BT) als auch der Gefäßverschluss ohne Erkrankung des Gefäßes selbst durch einen Embolus über den Blutstrom, beispielsweise aus dem Herzen (vgl. I., GA III, S. 13).
Beide Sachverständige haben ausgeführt, dass die bei Einlieferung bekannten anamnestischen Daten sowie die bestehende Symptomatik mit Hinstürzen, Bewusslosigkeit bzw. veränderter Bewusstseinslage, Sehstörungen, Blickabweichung, Schwindel, Erbrechen und Sprach- bzw. Sprechstörungen deutliche Hinweise auf eine BT lieferte (L., GA, S. 61 und S. 45, Ziffer 5; I., GA I, S. 2; GA II, S. 2 „naheliegend“). Beide weisen darauf hin, dass in der Pflegedokumentation auf der Station X die Basilaristhrombose als Differenzialdiagnose eingetragen worden ist (Anlage B3, roter Aktenordner Anlagen Beklagte). Primäres Ziel einer Diagnostik im Falle klinischer Anzeichen einer BT ist es, eine solche mit hinreichender Sicherheit auszuschließen (I., GA III, S. 8). Die Abklärung, ob eine BT vorliegt, hätte in der Klinik der Beklagten mittels einer CTAngiographie erfolgen können, alternativ auch mittels einer MRT (I., GA I, S. 3).
Seitens des behandelnden Arztes Dr. K. war zunächst die Verdachtsdiagnose einer Subarachnoidalblutung gestellt worden. Ein wesentliches Indiz hierfür fehlte jedoch, weil laut Anamnese kein Meningismus (Nackensteifigkeit) vorlag, der als typisches klinisches Zeichen für die SAB anzusehen ist (I., GA II, S. 1). Fehlerhaft war es daher nach Angaben des Sachverständigen I. bereits, den Auftrag an die Radiologie auf die Anfertigung einer CCT ohne intravenöses Kontrastmittel zu beschränken: Diese Untersuchungsmethode war zum medizinisch gebotenen Ausschluss eines Gefäßverschlusses nicht geeignet (I., GA II, S. 2). Auch in der Folge wurde bis zur Verlegung der Klägerin am Abend des 05.01.2009 in das Bezirkskrankenhaus keine CT- oder MR-Angiographie veranlasst. Hierin ist nach übereinstimmender Auffassung der beiden Sachverständigen ein Behandlungsfehler zu sehen.
Der Senat schließt sich dieser von den Sachverständigen in der gebotenen Tiefe und nachvollziehbar begründeten Bewertung an. Beide Gutachter haben auf die Sorgfaltspflichten abgestellt, die bei der Behandlung eines Patienten auf einer neurologischen Station zu beachten sind. Der Sachverständige L. ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und als Oberarzt an der neurologischen Klinik mit Poliklinik der Universität E. tätig. Der Sachverständige I. ist Facharzt für Neuroradiologie und ärztlicher Direktor des Instituts für Neuroradiologie der C.. An der fachlichen Kompetenz der Sachverständigen bestehen keine Zweifel.
b) Es handelt sich um einen groben Behandlungsfehler.
(1) Ein grober Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn die Vornahme einer medizinisch gebotenen Untersuchung zum Ausschluss einer Verdachtsdiagnose zwingend geboten war, aber aus schlicht nicht nachvollziehbaren Gründen unterblieben ist (M/W, a.a.O., Rn. U 2 m.w.N.). Dies kann etwa der Fall sein, wenn ein Aufnahmebefund auf einen Schlaganfall deutet, aber gleichwohl keine computertomographische Befundung zur weiteren diagnostischen Abklärung erfolgt (OLG Koblenz, Urt. v. 25.08.2011, 5 U 670/10, Rn. 16, 22f.). Dabei muss sich die rechtliche Bewertung eines Versäumnisses als grober Fehler auf eine entsprechende medizinische Bewertung des Sachverständigen stützen können (BGH, Urt. V. 24.02.2015, VI ZR 106/13, Rn. 16).
(2) Der Sachverständige L. hat ausgeführt, es sei für ihn „unverständlich“, dass man die vorhandene Symptomatik nicht im Sinne einer Basilaristhrombose würdigte, und „nicht nachvollziehbar“, dass man einer entsprechenden Differenzialdiagnose nicht nachging (GA, S. 45, 47). Die Ursache des Zustands der Klägerin sei bei der Erstaufnahme und einige Zeit danach „fundamental verkannt“ worden (GA, S. 57). Ein Schlaganfall im weitesten Sinne habe „ernsthaft und vordringlich erwogen werden“ müssen (GA, S. 62). Es liege ein „grober Fehler“ bei der Befunderhebung vor (GA, S. 63). In die gleiche Richtung geht die Bewertung durch den Sachverständigen I., der darlegt, dass „unbedingt“ eine weitere Diagnostik hätte erfolgen müssen (GA I, S. 3), und von einem „schweren Behandlungsfehler“ durch Unterlassung spricht (GA II, S. 4).
(3) Auf der Grundlage dieser Bewertung sieht auch der Senat in Übereinstimmung mit dem Landgericht in der unterlassenen Befunderhebung einen groben Behandlungsfehler. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass ein akuter Verschluss der Arteria basilaris lebensbedrohlich ist (L., GA, S. 46; I., GA II, S. 2), der Verdacht in der Pflegedokumentation ausdrücklich aufgeführt war und zusätzlich von Seiten des Radiologen in der Befundung der CCT – Aufnahme von 13:52 Uhr ein Hinweis darauf erfolgte, dass ein CTA zum Ausschluss eines akuten Basilararterienverschlusses notwendig ist, wenn der Verdacht auf eine Hirnstammsymptomatik besteht (I., GA II, S. 2). Dieser Verdacht musste sich aufgrund der Symptomatik – wie bereits dargelegt – aufdrängen. Deshalb war es jedenfalls nach Vorlage des CCT-Befunds gegen 14:00 Uhr grob fehlerhaft, kein CTA oder MRA zum Ausschluss einer Basilaristhrombose anzuordnen. Ein Abwarten bis zum Vorliegen der Ergebnisse einer Lumbalpunktion zum definitiven Ausschluss einer SAB, der hier um 17:58 Uhr erfolgt ist, war nicht gerechtfertigt. Denn eine SAB, die im CCT nicht erkennbar ist, hätte aufgrund der hieraus abzuleitenden geringen Ausprägung den Zustand der Klägeri nicht erklären können (I., S. 3 des Protokolls vom 05.07.2018, Bl. 1029 d.A.). Zudem fehlte ein wesentliches klinisches Anzeichen (Meningismus). Demgegenüber war der Ausschluss einer BT dringlich und durch Anordnung einer Angiographie auch sofort möglich. Es ist schlichtweg unverständlich, warum dies nicht geschehen ist.
Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers steht im Übrigen auch im Einklang mit der Bewertung durch die außergerichtlich beauftragten Gutachter Dr. Z. (Gutachten MDK vom 30.12.2009, Kl-Anl. zu Bl. 51 ff., S. 12: „völlig unverständlich“) und R. (Gutachten im Ermittlungsverfahren 117 UJs 366/09 vom 25.03.2010, Kl-Anl zu Bl. 1 ff., S. 39: „nicht nachvollziehbar“).
c) Die Einwendung der Beklagten, die Annahme einer Pflichtverletzung scheide bereits deshalb aus, weil der Nachweis, dass bei der Klägerin am 04.01.2009 tatsächlich eine Basilaristhrombose vorlag, nicht erbracht worden sei, geht ins Leere.
(1) Es ist nicht Sache des Patienten, im Falle einer pflichtwidrig unterlassenen Befunderhebung einen den Anforderungen des § 286 ZPO genügenden Nachweis zu führen, dass die Befunderhebung ein bestimmtes Befundergebnis erbracht hätte. Denn indem der Arzt die Pflicht verletzt, nach medizinischem Standard gebotene Untersuchungen durchzuführen, erschwert oder vereitelt er dem Patienten wegen des Fehlens des sonst als Beweismittel zur Verfügung stehenden Untersuchungsergebnisses die Beweisführung in einem späteren Haftpflichtprozess. Das pflichtwidrige Unterlassen verhindert die Entdeckung eines möglichen Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf, so dass als Folge dieser Pflichtverletzung das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen verbreitert oder verschoben wird. Dies rechtfertigt es, ihm Beweiserleichterungen zu gewähren (BGH, Urt. v. 07.06.2011, VI ZR 87/10, Rn. 7; Urt. v. 23.03.2004, VI ZR 428/02, Rn. 15). Deshalb ist bereits bei einem einfachen Befunderhebungsfehler eine Beweislastumkehr anzunehmen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und dieser Fehler generell geeignet ist, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (ständ. Rspr., vgl. etwa BGH, Urt. v. 26.01.2016, VI ZR 146/14, Rn. 4 m.w.N.). Hinreichend wahrscheinlich ist ein Befundergebnis dann, wenn es im Falle der Erhebung mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% zu erwarten gewesen wäre (OLG Celle, Urt. V. 22.10.2007, 1 U 24/06, Rn. 51, 52; Martis/Winkhart, a.a.O., U 57).
(2) Handelt es sich jedoch um einen groben Befunderhebungsfehler, so folgt bereits hieraus die Umkehr der Beweislast hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zwischen ärztlichem Fehler und Gesundheitsschaden. Sie ist nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (BGH, Urt. v. 29.09.2009, VI ZR 251/08, Rn. 8, Urt. v. 07.06.2011, VI ZR 87/10, Rn. 8). Die Beweislast hierfür trägt der Arzt (BGH, VI ZR 87/10, Rn. 8). Kein Hinderungsgrund für den Eintritt der Beweislastumkehr ist es daher, wenn bei späterer Begutachtung offen bleibt, ob die unterbliebene Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Erkenntnisse geliefert hätte, auf die therapeutisch hätte reagiert werden müssen (OLG Koblenz, Urt. v. 25.08.2011, 5 U 670/10, Rn. 20).
Ein grober Befunderhebungsfehler ist daher auch dann anzunehmen, wenn offen bleibt, welches Ergebnis die Vornahme der gebotenen Befunderhebung erbracht hätte.
3. Die Beklagte hat nicht den Nachweis erbracht, dass ein haftungsbegründender Ursachenzusammenhang zwischen der unterbliebenen bildgebenden Diagnostik zur Abklärung der Differenzialdiagnose BT und den von der Klägerin behaupteten Gesundheitsschäden völlig unwahrscheinlich ist.
a) Der Sachverständige L. hat bei seiner Untersuchung der Klägerin am 04.11.2011 folgende Gesundheitsschäden festgestellt: Eine zentrale Sehstörung, eine motorische und sensible Symptomatik, eine Ataxie sowie kognitive Einbußen (GA, S. 37 – 39). Einwendungen gegen diese Feststellungen sind nicht erhoben worden. Er hat weiter ausgeführt, dass das Potential einer Vermeidung oder Abschwächung dieser Gesundheitsschäden bei einer intravenösen Lysebehandlung gegeben gewesen wäre, jedoch keine zuverlässige Vermeidbarkeit (GA, S. 65).
b) Die an dieser Stelle relevante Behauptung der Beklagten, eine BT habe bei der Klägerin am 04.01./05.01.2009 gar nicht vorgelegen, ist durch die durchgeführte Beweisaufnahme widerlegt. Auch der weitere Vortrag der Beklagten in den Schriftsätzen vom 15.01.2020 und 30.01.2020 gebietet kein Eintreten in eine weitere Beweisaufnahme.
Die Frage, ob bei der Klägerin überhaupt eine BT vorlag, war bereits Gegenstand der Beweisaufnahme in erster Instanz (vgl. L., Protokoll vom 17.05.2013, S. 3, Bl. 518 d.A.; I., GA III, S. 13, Ziff. 4 „Vorliegen einer Basilaristhrombose“) und ist auf der Grundlage der erfolgten Begutachtung dahingehend zu beantworten, dass am 04.01.2009 eine BT vorlag, die die Ursache für den pathogenen Zustand der Klägerin war. Zwar ist es richtig, dass der Nachweis eines am 04.01.2009 vorliegenden Strömungshindernisses nicht erfolgt ist. Das Vorliegen einer BT am 04.01.2009 konnte ex post weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden. Nachgewiesen ist jedoch durch eine MRT vom 16.01.2009 und eine CTA vom 28.01.2009, dass eine Ischämie im Versorgungsgebiet der Arteria basilaris vorgelegen hat (L., GA, S. 48; I., Prot. v. 09.11.2017, S. 9, Bl. 962 d.A.). In der rückblickenden Betrachtung bietet sich aus Sicht des Sachverständigen L. keine andere Deutung als die einer BT an. Er spricht insoweit von der „einzig zutreffenden Diagnose“ (L., GA, S. 45, 62, 65), auch wenn er diese Einschätzung bei seiner Anhörung im Termin vom 17.05.2013 dahin ergänzte, dass ex post der sichere Nachweis eines Strömungshindernisses nicht mehr möglich sei (Protokoll S. 3, Bl. 518 d.A.). Der Sachverständige I. führt aus, dass eine akute Durchblutungsstörung im Bereich der Arteria basilaris „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ die Ursache für die Symptomatik der Klägerin war (GA III, S. 13). Beiden Sachverständigen war bei dieser Einschätzung der weitere Krankheitsverlauf der Klägerin bekannt. Der Vortrag der Beklagten enthält keine neuen Gesichtspunkte, die eine nochmalige Anhörung der Sachverständigen erfordern. Insbesondere folgt aus dem Umstand, dass ein Embolus, der ein Strömungshindernis hervorruft und hierdurch bleibende Schäden verursacht, vom körpereigenen System abgebaut werden kann (L., Protokoll vom 17.05.2013, S. 3, Bl. 518 d.A.), dass aus dem Zustand der Klägerin am 08.01.2009 oder später kein Rückschluss auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Embolus am 04.01.2009 geschlossen werden kann.
c) Ein Ursachenzusammenhang ist entgegen der Auffassung des Landgerichts auch nicht bereits deshalb völlig unwahrscheinlich, weil die in den seinerzeit gültigen Leitlinien als Therapie vorgesehene intravenöse Lysetherapie bei der Klägerin kontraindiziert war und die weiteren Behandlungsmöglichkeiten einer intraarteriellen Lyse oder einer mechanischen Rekanalisation (Thrombektomie) zum damaligen Zeitpunkt noch nicht dem Facharztstandard entsprachen und deshalb von der Beklagten nicht gefordert werden konnten.
(1) Die Pflichtverletzung ist im vorliegenden Fall allein darin zu sehen, dass eine zwingend gebotene weiterführende Diagnostik aus nicht nachvollziehbaren Gründen unterblieben ist. Das Unterlassen der gebotenen Therapie ist in diesen Fällen nicht Voraussetzung für eine Beweislastumkehr zugunsten des Patienten, ebensowenig, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache für den Schaden ist. Es genügt, dass er generell geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen (BGH, Urt. v. 29.09.2009, VI ZR 251/08, Rn. 8). Maßstab für diese generelle Eignung ist folglich nicht, ob eine bestimmte Therapie vom behandelnden Arzt nach dem zum Zeitpunkt der Behandlung geltenden Facharztstandard gefordert werden konnte. Eine Eignung zur Schadensverursachung besteht vielmehr immer dann, wenn eine Therapieoption bestanden hätte, die geeignet war, eine positive Entwicklung des Krankheitsverlaufes herbeizuführen.
Dies war hier der Fall.
(a) Richtig ist, dass die von den Leitlinien vorgesehene Möglichkeit einer intravenösen Lysetherapie aufgrund einer bestehenden Kontraindikation (V.a. Gebärmutterhalskarzinom) ausgeschlossen war.
(b) Allerdings hätte daneben die Möglichkeit einer mechanischen Rekanalisation sowie einer intraarteriellen Lyse bestanden.
In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Stand 2008, wird ausgeführt:
„Bei klinischen Zeichen einer Basilaristhrombose oder -embolie sollte zu der Schnittbildgebung eine CT-Angiografie oder MR-Angiografie vorliegen, um entscheiden zu können, ob im Rahmen eines individuellen Heilversuches eine intraarterielle oder systematische intravenöse Thrombolyse in einem Zeitfenster von bis zu 12 Stunden durchgeführt werden kann.“ (I., GA III, S. 11).
Hierzu hat der Sachverständige I. ausgeführt, dass es sich bei der intraarteriellen Lysebehandlung mit dem Wirkstoff Alteplase um einen individuellen Heilversuch gehandelt hätte, weil der Wirkstoff zum damaligen Zeitpunkt nur für die intravenöse Lysebehandlung zugelassen war, und dass bei der Klägerin die Voraussetzungen für eine Anwendung gegeben gewesen wären.
Er hat weiter ausgeführt (GA III, S. 9-13; Protokoll vom 05.07.2018, S. 3), dass zum Behandlungszeitpunkt die Möglichkeit einer mechanischen Rekanalisation bestanden hätte. Für eine solche hätten 2009 fünf CEzertifizierte Systeme zur Verfügung gestanden. Eine entsprechende Behandlung wäre im Universitätsklinikum E., für das das Klinikum der Beklagten Lehrkrankenhaus sei, angeboten worden. Im Klinikum D., an dem er seinerzeit tätig gewesen sei, seien 2009 etwa 10% aller Schlaganfallpatienten mittels Thrombektomie behandelt worden, die Methode werde dort seit 2006 eingesetzt. Es sei 2009 bereits bekannt gewesen, dass die Anwendung der intraarteriellen Lyse oder der mechanischen Rekanalisation im Vergleich zum unbehandelten Verlauf ein deutlich besseres klinisches Ergebnis ermöglicht.
Diese Ausführungen, die auch das Erstgericht seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat, zeigen, dass zwei Therapieoptionen zur Verfügung gestanden hätten, die eine „nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Heilungsverlauf“ geboten hätten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005, 1 BvR 347/98, Rn. 64 zur Erstattungspflicht für nicht zugelassene Behandlungsmethoden bei lebensbedrohlichen Erkrankungen).
(3) Die genannten Therapieoptionen waren am Klinikum der Beklagten selbst zwar nicht verfügbar. Allerdings hätte eine Verlegung der Klägerin an das Universitätsklinikum E. erwogen werden müssen, wo beide Therapien hätten durchgeführt werden können. Das Zeitfenster hierfür war zu dem Zeitpunkt, ab dem die Vornahme weiterer Diagnosemaßnahmen schlichtweg unverständlich war, noch nicht geschlossen.
Nach Angaben des Sachverständigen I. ist für das Durchführen einer MRT eine Zeitdauer von maximal einer Stunde anzusetzen (GA I, S. 5). Die Vorbereitung einer mechanischen Rekanalisation in der Zielklinik erfolgt während der Dauer des Transports der Patientin. Nach Ankunft der Patientin sind lediglich noch Intubation und Narkoseeinleitung erforderlich, für die ca. 15 Minuten zu veranschlagen sind (Protokoll vom 09.11.2017, S. 7, Bl. 960 d.A.). Legt man dies zugrunde, so hätte jedenfalls nach Anfertigung des CCT um 13:52 Uhr eine weitergehende bildgebende Diagnostik durchgeführt und anschließend, also um ca. 16:00 Uhr, eine Verlegung in die Wege geleitet werden können. Berücksichtigt man weiter den Umstand, dass Berichte existieren, wonach auch bei einer mechanischen Rekanalisation nach mehr als 24 Stunden akzeptable klinische Ergebnisse erzielt wurden, dass eine zeitliche Obergrenze für die Anwendung der mechanischen Rekanalisation nicht besteht und eine Rekanalisation grundsätzlich innerhalb von 12 Stunden nach Beginn der Symptomatik angestrebt wird (I., GA III, S. 7, 8), so wäre selbst dann, wenn man – anders als der Senat – eine grobe Pflichtwidrigkeit erst nach Vorliegen der Ergebnisse der Lumbalpunktion als gegeben ansieht, vom Bestehen einer Therapieoption auszugehen. Dies gilt ohnehin, wenn man auf die ebenfalls gegebene Möglichkeit einer intraarteriellen Fibrinolyse abstellt, die bereits nach den Leitlinien in einem Zeitfenster von 12 Stunden zu erwägen war.
Der mündlich geäußerten Einschätzung des Sachverständigen L., „dass ab 17:00 Uhr eine Situation jedenfalls gegeben war, in der der Eingriff (die mechanische Rekanalisation, Anm. d. Verf.) (…) wohl nicht mehr durchgeführt worden wäre“ (Prot. v. 17.05.2013, S. 3, Bl. 518 d.A.), steht der Annahme, dass weitere Therapieoptionen zur Verfügung standen, nicht entgegen. Denn zum einen bezieht er sich nur auf die mechanische Rekanalisation, während für die intraarterielle Lyse bereits nach der geltenden Leitlinie ein Zeitfenster von 12 Stunden gegeben war. Zum anderen erfolgt die Anwendung der mechanischen Rekanalisation durch den Neuroradiologen (Prot. v. 09.11.2017, S. 8), so dass die Einschätzung des Sachverständigen I. vorrangig ist, der von einem deutlich längeren Zeitfenster ausgeht.
(4) Die im Berufungsverfahren erneut vorgebrachte Behauptung der Beklagten, die Universitätsklinik E. hätte eine Thrombektomie nicht durchgeführt, weil dies den Nachweis des Vorliegens einer BT erfordere, beruht auf einem Zirkelschluss und ist nicht geeignet, eine Beweislastumkehr auszuschließen. Denn der Umstand, dass Unklarheit über das Vorliegen einer BT am 04.01.2009 besteht, beruht gerade auf der grob pflichtwidrigen Unterlassung der Beklagten, die gebotenen Befunde zu erheben. Es ist daher unzulässig, aus dem fehlenden Befundergebnis auf die fehlende Erforderlichkeit der im Falle rechtzeitiger Befunderhebung gebotenen Therapiemaßnahmen zu schließen. Zudem hat der Sachverständige I. zu diesem Einwand bereits ausgeführt, dass lediglich der sichere Ausschluss eines Strömungshindernisses eine Thrombektomie nicht erforderlich macht (GA II, S. 3). Von einem solchen kann jedoch – wie bereits dargelegt – nicht ausgegangen werden.
(5) Auch der Einwand, eine vollständige Wiederherstellung der Klägerin wäre ausgeschlossen oder jedenfalls äußerst unwahrscheinlich gewesen, bleibt ohne Erfolg. Es ist bereits ausreichend, dass eine mögliche Verbesserung des Gesundheitszustands verhindert worden ist. Dass diese Möglichkeit bestand, ist durch die Ausführungen des Sachverständigen I. zu Erhebungen über den Einsatz der mechanischen Rekanalisation belegt (GA III, S. 7-10). Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass bei der Klägerin der Fall eines frühen Eintreffens im Klinikum gegeben war, so dass sich bei der zwei Stunden nach dem Ereignis gefertigten CCT noch keine Zeichen eines bereits eingetretenen strukturellen Schadens zeigten, was zu einer günstigen Prognose bei Anwendung der mechanischen Thrombektomie führt (GA III, S. 7).
Dahinstehen kann an dieser Stelle auch, inwiefern nach der Verlegung in das Bezirkskrankenhaus eine Verbesserung des Zustands der Klägerin eingetreten ist und inwiefern weitere Schlaganfallereignisse mit hieraus resultierenden Schäden aufgetreten sind. Dies ändert nichts daran, dass Schäden verblieben sind, die möglicherweise auf das Unterbleiben einer Befunderhebung zurückzuführen sind.
(6) Schließlich kann die Beklagte auch nicht mit Erfolg einwenden, eine Einwilligung der Klägerin hätte nicht herbeigeführt werden können. Angesichts der Gefahr erheblicher und dauerhafter zerebraler Schäden bis hin zum Versterben hätten die Behandler von einer mutmaßlichen Einwilligung der Klägerin ausgehen dürfen (M/W, a.a.O., Rn. A 1700).
d) Die Beweislastumkehr erstreckt sich auf den bei der Klägerin eingetretenen Primärschaden sowie denjenigen Sekundärschaden, der typische Folge des Primärschadens ist (BGH, Urt. v. 05.11.2013, VI ZR 527/12, Rn. 32). Die vom Sachverständigen L. festgestellten Gesundheitsschäden (GA, S. 37 – 39 und oben S. 12) sind als unmittelbare Folgen einer cerebralen Schädigung als Primärschäden anzusehen (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 12.08.2013, 3 U 122/12, Rn. 35; M/W, a.a.O., Rn. 105b, 105c). Die Beklagte haftet folglich dem Grunde nach für die hieraus resultierenden materiellen und immateriellen Schäden der Klägerin.
4. Eine Entscheidung durch Grundurteil ist zulässig, weil Grund und Betrag streitig sind und nur der Streit über den Grund entscheidungsreif ist, § 304 ZPO.
Eine Entscheidung über die Schadenshöhe kann noch nicht ergehen. Die Klägerin macht Schmerzensgeld, Verdienstausfall sowie einen Haushaltsführungsschaden geltend. Der Umfang der sich aus den festgestellten Primärschäden ergebenden Beeinträchtigung der Klägerin steht bislang noch nicht fest. Es ist daher Beweis zu erheben über den Umfang des entstandenen Schadens, also die Höhe des Schmerzensgeldes und die Höhe der Ansprüche auf Ersatz von Verdienstausfall- und Haushaltsführungsschaden. Dabei besteht nach jetzigem Stand eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass nach Durchführung des Betragsverfahrens irgendein Betrag für immaterielle Schäden sowie für einen entstandenen Verdienstausfall- oder Haushaltsführungsschaden von der Beklagten zu zahlen sein wird.
Der Senat macht aus diesem Grund von der ihm gemäß § 304 Abs. 1 ZPO eröffneten Möglichkeit Gebrauch, ein Zwischenurteil über den Grund zu erlassen. Denn dadurch wird Klarheit über den Haftungsgrund geschaffen, ehe zur Höhe des Anspruchs weiterer umfangreicher Beweis erhoben wird. Der Umstand, dass dem Feststellungsantrag im Wege des Teilurteils stattgegeben wird, führt nicht zur Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Denn Gegenstand des Feststellungsantrags sind – bei sachgerechter Auslegung – lediglich die Schäden, die nicht bereits vom Streitgegenstand der Klageanträge Ziffer 1 – 3 umfasst sind.
5. Der Senat macht auch von der in § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das Betragsverfahren an das Landgericht Bayreuth zurückzuverweisen. Ein entsprechender Antrag ist von der Klägerin gestellt worden. Einwendungen hiergegen sind von der Beklagten nicht erhoben worden. Die Zurückverweisung erscheint trotz der langen Verfahrensdauer aufgrund der erforderlichen umfangreichen Beweisaufnahme und der Nähe zum Wohnsitz der gesundheitlich eingeschränkten Klägerin sachdienlich.
6. Ein Eintreten in die mündliche Verhandlung aufgrund der teilweisen Klagerücknahme war nicht geboten, weil eine Entscheidung über die Höhe und über die Kosten des Verfahrens nicht ergangen ist. Die teilweise Klagerücknahme bleibt daher unabhängig von ihrer Wirksamkeit für das ergangene Grundurteil ohne Auswirkung. Zur Vermeidung einer weiteren Verzögerung des bereits zehn Jahre andauernden Verfahrens wurde deshalb von einem Vorgehen nach § 269 Abs. 2 S. 2 ZPO und einem Wiedereintreten in die mündliche Verhandlung abgesehen.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Eine Sicherheitsleistung war mangels eines vollstreckungsfähigen Tenors der Entscheidung nicht zu bestimmen.
Über die Kosten des Verfahrens ist im Schlussurteil zu entscheiden.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.


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