Sozialrecht

Sozialgerichtliches Verfahren – Prozessvollmacht – ernstliche Zweifel am Bestehen – Nachweis – nicht nachgewiesene Prozessvollmacht – Verwerfung des Rechtsmittels – Kostenentscheidung

Aktenzeichen  L 2 AS 419/21

Datum:
19.4.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 2. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:LSGST:2022:0419.L2AS419.21.00
Normen:
§ 73 Abs 6 S 1 SGG
§ 73 Abs 6 S 5 SGG
§ 158 SGG
§ 183 SGG
§ 193 Abs 1 SGG
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Spruchkörper:
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Leitsatz

1. Bei ernstlichen Zweifeln an dem Bestehen einer Prozessvollmacht kann das Sozialgericht von Amts wegen einen entsprechenden Nachweis fordern. (Rn.15)


2. Wird eine Prozessvollmacht nicht nachgewiesen, ist das Rechtsmittel zu verwerfen. (Rn.14)


3. Wegen der Kostenentscheidung ist auf den angeblich Vertretenen abzustellen. (Rn.16)

Verfahrensgang

vorgehend SG Halle (Saale), 9. Juni 2021, S 7 AS 1608/19, Urteil

Tenor

Die Berufung wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die als Prozessvertreterin des Klägers auftretende Rechtsanwaltsgesellschaft wendet sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Halle.
Der Kläger selbst hat beim SG am 20. Juni 2019 Klage gegen einen Bescheid des Beklagten vom 5. Juni 2019 in Gestalt eines Widerspruchsbescheids vom 11. Juni 2019 erhoben. Dieser betraf die Minderung von Arbeitslosengeld II für den Zeitraum von Juli bis September 2019 wegen eines Meldeversäumnisses am 17. Mai 2019. Das Verfahren ist zunächst unter dem Aktenzeichen S 7 AS 1178/19 geführt worden.
Am 12. Juli 2019 hat der Kläger, wiederum nicht anwaltlich vertreten, beim SG Klage gegen einen Bescheid des Beklagten vom 17. Juni 2019 in Gestalt eines Widerspruchsbescheids vom 4. Juli 2019 erhoben. Auch dieser Bescheid betraf die Minderung von Arbeitslosengeld II im Zeitraum von Juli bis September 2019 wegen eines Meldeversäumnisses. Der Beklagte warf dem Kläger vor, einen Termin am 29. Mai 2019 nicht wahrgenommen zu haben. Das Verfahren ist zunächst unter dem Aktenzeichen S 7 AS 1337/19 geführt worden.
Am 20. August 2019 hat der Kläger, wiederum nicht anwaltlich vertreten, beim SG Klage gegen einen Bewilligungsbescheid des Beklagten vom 8. Juli 2019 in Gestalt eines Widerspruchsbescheids vom 15. Juli 2019 erhoben und einen Anspruch auf höhere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung in der Zeit von August 2019 bis Januar 2020 geltend gemacht. Das Verfahren ist unter dem Aktenzeichen S 7 AS 1608/19 geführt worden.
Eine vierte Klage hat am 23. Oktober 2019 die auch im vorliegenden Berufungsverfahren auftretende Rechtsanwaltsgesellschaft im Namen des Klägers beim SG erhoben und gleichzeitig Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Mit der Klageschrift hat sie ein Vollmachtformular eingereicht, in das (handschriftlich) der Name des Klägers als Vollmachtgeber eingetragen war, das jedoch weder eine Orts- und Datumsangabe noch eine Unterschrift enthielt. Die Klage richtete sich gegen einen Bescheid vom 5. August 2019 in Gestalt eines Widerspruchsbescheids vom 26. September 2019. Begehrt wurden Leistungen für eine Nachzahlung auf Betriebs- und Heizkosten. Die Klage ist zunächst unter dem Aktenzeichen S 7 AS 2005/19 geführt worden.
Mit zwei Beschlüssen vom 22. Januar 2021 hat das SG den Antrag auf PKH für das Verfahren S 7 AS 2005/19 abgelehnt und dieses Verfahren mit dem Verfahren S 7 AS 1608/19 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden; als führend hat es das Verfahren S 7 AS 1608/19 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 17. März 2021 hat die Rechtsanwaltsgesellschaft unter Angabe des Aktenzeichens S 7 AS 2005/19 die Klage zurückgenommen.
In einem Erörterungstermin am 24. März 2021, zu dem für den Kläger niemand erschienen ist, hat das SG die Verfahren S 7 AS 1178/19, S 7 AS 1337/19 und S 7 AS 1608/19 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden; als führend hat es das Verfahren S 7 AS 1608/19 bestimmt. Der Vertreter des Beklagten hat im Termin sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. In der Folgezeit hat das SG beim Kläger selbst und bei der im Verfahren S 7 AS 2005/19 aufgetretenen Rechtsanwaltsgesellschaft angefragt, ob ebenfalls Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe. Dies hat der Kläger selbst bejaht.
Mit Urteil vom 9. Juni 2021, das ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, hat das SG die Klagen abgewiesen. Dabei ging es davon aus, dass ein weiterer Minderungsbescheid (vom 16. Juli 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Juli 2019) für den Zeitraum von August bis Oktober 2019 nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden sei. Das SG hat die Berufung zugelassen. Das Urteil ist für die Klägerseite nur der (im Rubrum nicht als Prozessbevollmächtigte aufgeführten) Rechtsanwaltsgesellschaft zugestellt worden. Die Zustellung ist am 30. Juni 2021 erfolgt.
Am 23. Juli 2021 hat die Rechtsanwaltsgesellschaft „namens und in Vollmacht des Klägers“ beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.
Mit Schreiben vom 10. November 2021 hat der Berichterstatter die Rechtsanwaltsgesellschaft u.a. um eine Ablichtung der Vollmachtsurkunde gebeten. Mit Schreiben vom 11. Februar 2022, das am 15. Februar 2022 zugestellt worden ist, hat er an die noch ausstehende Vorlage der Vollmachtsurkunde erinnert und darauf hingewiesen, dass eine Vollmacht nur für eines der Ausgangsverfahren behauptet worden und die dort vorgelegte Urkunde nicht unterschrieben gewesen sei. Zur Erledigung hat er eine Frist von drei Wochen gesetzt. Mit Schreiben vom 28. März 2022, zugestellt am 29. März 2022, hat der Berichterstatter die Rechtsanwaltsgesellschaft abermals darauf hingewiesen, dass eine Bevollmächtigung nicht festzustellen sei, und ihr mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Er hat ihr Gelegenheit gegeben, sich dazu binnen zwei Wochen zu äußern. Daraufhin hat sie unter dem 4. April 2022 eine Berufungsbegründung vorgelegt. Eine Vollmacht lag nicht bei. Darauf hat der Berichterstatter unter dem 5. April 2022 hingewiesen.
Die für den Kläger auftretende Rechtsanwaltsgesellschaft meint, der Kläger habe einen Anspruch auf weitere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung, weil der Beklagte nicht über ein „schlüssiges Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verfüge. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 4. April 2022 verwiesen. Einen konkreten Antrag hat die Rechtsanwaltsgesellschaft nicht formuliert.
Der Beklagte hat sich zu der Berufung nicht geäußert.
Der Senat hat die Prozessakten des SG beigezogen.
II.
Der Senat verwirft die Berufung gemäß § 158 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss als unzulässig, weil die als Prozessvertreterin des Klägers auftretende Rechtsanwaltsgesellschaft ohne Vollmacht gehandelt hat. Sie hat weder innerhalb der ihr nach § 73 Abs. 6 Satz 2 SGG gesetzten Frist noch danach die geforderte Vollmachtsurkunde vorgelegt. Von einem vollmachtlosen Vertreter vorgenommene Prozesshandlungen sind unwirksam. Insbesondere ist ein ohne Vollmacht eingelegtes Rechtsmittel unzulässig (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 73 Rn. 66).
Gemäß § 73 Abs. 6 Satz 1 SGG ist die Vollmacht schriftlich zu den Gerichtsakten einzureichen. Zwar ist nach § 73 Abs. 6 Satz 5 SGG ein Mangel der Vollmacht nur dann zwingend von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn nicht als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt. Doch schließt dies nicht aus, dass das Gericht auch von einem Rechtsanwalt und ohne Rüge der Gegenseite unter Fristsetzung eine Vollmacht anfordert, wenn ernstliche Zweifel an der Bevollmächtigung bestehen (vgl. BSG, Beschluss vom 12. Februar 2020 – B 4 AS 8/20 B – juris Rn. 4 m.w.N.). Solche Zweifel bestehen vorliegend insbesondere deshalb, weil die Rechtsanwaltsgesellschaft erstinstanzlich lediglich eine nicht unterschriebene Vollmachtsurkunde vorgelegt hat. Hinzu kommt, dass sie vor dem SG lediglich in einem Verfahren tätig geworden war, das sich bereits erstinstanzlich erledigt hat und nicht Gegenstand des mit der Berufung angegriffenen Urteils geworden ist. Deshalb lag für den Senat der Verdacht nahe, dass der Kläger der Rechtsanwaltsgesellschaft für das vorliegende Verfahren keine Vollmacht erteilt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG, denn der Kläger gehört zum Kreis der nach § 183 SGG Kostenprivilegierten. Auch wenn er von der Rechtsanwaltsgesellschaft nicht wirksam vertreten worden ist, ergeht die Entscheidung gegen ihn und ist ihm auch zuzustellen (vgl. Schmidt, a.a.O., Rn. 76 m.w.N.). Damit ist für eine Anwendung von § 197a SGG kein Raum (vgl. LSG B.-B., Urteil vom 21. März 2019 – L 31 AS 2727/15 – juris Rn. 26 ff.; im Ergebnis auch LSG H., Urteil vom 24. April 2014 – L 4 AS 202/13 – juris Rn. 25; Arndt in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Auflage 2020, § 73 Rn. 63; zur Möglichkeit der Verhängung von Verschuldenskosten gegen den Prozessvertreter s. Schmidt, a.a.O., § 192 Rn. 2 a.E.).
Zwar wird z.T. die Auffassung vertreten, in entsprechender Anwendung von § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. gemäß § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 89 Abs. 1 Satz 3 Zivilprozessordnung (ZPO) seien die Kosten dem vollmachtlosen Vertreter aufzuerlegen und es seien, da dieser nicht zum Kreis der Kostenprivilegierten gehöre, entsprechend § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG Gerichtskosten zu erheben (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 15. April 2014 – L 5 R 1201/13 B ER – juris Rn. 18; Beschluss vom 23. Februar 2017 – L 15 AS 44/17 B ER – juris Rn. 24; Sächsisches LSG, Beschluss vom 26. Juni 2014 – L 3 AS 318/12 B ER – juris Rn. 21 f.) Dies wird jedoch der Struktur der sozialprozessualen Kostenregelungen nicht gerecht. Nach der Konzeption der §§ 193, 197a SGG ist in einem ersten Schritt zu klären, welches der beiden Kostenregime zur Anwendung kommt, bevor in einem zweiten Schritt anhand der sich daraus ergebenden (unterschiedlichen) Kriterien über die Kostenerstattung bzw. -tragung zu entscheiden ist. Daran ändert sich nichts dadurch, dass in beiden Kostenregimen bei der Entscheidung über die Kostentragung das Veranlasserprinzip zu berücksichtigen ist. Denn auch dabei handelt es sich um eine – zumindest entsprechende – Anwendung der jeweils einschlägigen kostenrechtlichen Bestimmungen (vgl. etwa Bundesarbeitsgericht [BAG], Beschluss vom 23. Juli 2007 – 3 AZB 29/05 – juris Rn. 10; Bundesgerichtshof [BGH], Beschluss vom 23. Februar 2017 – III ZB 60/16 – juris Rn. 10; Toussaint in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 1, 6. Auflage 2020, § 89 Rn. 11), die also zunächst feststehen müssen.
Es kann dahinstehen, ob dem Prozessgegner des vollmachtlos Vertretenen im gerichtskostenfreien Verfahren nach § 183 SGG ggf. trotz der Regelung in § 193 Abs. 4 SGG ein Kostenerstattungsanspruch in entsprechender Anwendung von § 89 Abs. 1 Satz 3 ZPO zustehen kann (zur Anwendung von § 173 VwGO i.V.m. § 89 Abs. 1 Satz 3 ZPO und § 179 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB] im Verwaltungsprozess siehe Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 15. August 2019 – 1 A 2/19 – juris Rn. 17 m.w.N.; zur Unterscheidung einer Kostenregelung nach § 89 Abs. 1 Satz 3 ZPO von der eigentlichen Kostengrundentscheidung s. Althammer in: Zöller, ZPO, 34. Auflage 2022, § 89 Rn. 8; Piekenbrock in: Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 44. Edition, Stand: 1. März 2022, § 89 Rn. 14). Denn beim Beklagten sind vorliegend keine von dieser Regelung möglicherweise erfassten Kosten angefallen. Er hat aufgrund seiner Kostenbefreiung nach § 64 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) keine Pauschgebühr nach § 184 SGG zu entrichten und sich im Berufungsverfahren in keiner Weise geäußert.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.


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