Arbeitsrecht

Verlustfeststellung, Wiederholungsgefahr, Keine persönlichen Bindungen im Bundesgebiet

Aktenzeichen  M 10 K 19.5956

Datum:
16.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 44977
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

A. Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der angefochtene Bescheid vom 4. November 2019 ist in seiner aktuellen Fassung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.
Nach dieser Vorschrift kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
Ob der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung aufgrund seiner beruflichen Situation die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllte, kann offen bleiben, da das Bestehen eines Freizügigkeitsrechts keine Voraussetzung für die Feststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist (vgl. VG München, U.v. 13.2.2020 – M 10 K 18.6271 – BeckRS 2020, 7932 Rn. 47 ff. m.w.N.; U.v. 15.7.2021 – M 10 K 19.4620 – juris). Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU mit der Folge der erhöhten Anforderungen an die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU hat der Kläger, der sich seit dem Jahr 2018 und damit noch keine fünf Jahre in der Bundesrepublik aufhält, nicht erworben.
II. Die Beklagte hat den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in zutreffender Weise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt.
1. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU.
Das Gericht teilt die Einschätzung der Beklagten, dass die Umstände, die den vom Kläger begangenen Straftaten zugrunde lagen, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellt.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 – EuZW 2004, 402).
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 – 30/77 „Bouchereau“ – BeckRS 2004, 73063). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 389); bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist.
Gemessen an diesen Vorgaben ist bei dem Kläger prognostisch eine Wiederholungsgefahr für die Begehung weiterer Vermögensdelikte und damit in Zusammenhang stehender Körperverletzungsdelikte gegeben.
Der Kläger hat zwischen seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2018 und seiner Inhaftierung im April 2019 mit hoher Rückfallgeschwindigkeit insgesamt 10 einschlägige Vermögensdelikte (Diebstahl, Erschleichen von Leistungen) begangen (abgeurteilt mit Entscheidungen vom 17.9.2018, 26.11.2018, 29.11.2018, 4.12.2018, 23.1.2019, 5.2.2019, 17.4.2019, 23.4.2019, 5.6.2019 und 5.7.2019). Dabei sticht insbesondere hervor, dass der Kläger am 30. April 2019 straffällig wurde (abgeurteilt mit Entscheidung vom 5.7.2019), obwohl er nur eine Woche zuvor, am 23. April 2019, durch das Amtsgericht München erstmals zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Auch die Inhaftierung vom 30. April 2019 bis 12. Dezember 2019 konnte den Kläger nicht von der Begehung weiterer Delikte abhalten. Stattdessen wurde der Kläger seither dreimal wegen weiterer Taten verurteilt (Entscheidungen vom 3.3.2020, 20.5.2021 und 20.7.2021). Am 14. Dezember 2019 – und damit nur zwei Tage nach seiner Entlassung – machte sich der Kläger wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung strafbar. Insoweit ist ebenfalls zu beachten, dass den Kläger auch die streitgegenständliche Verlustfeststellung vom 4. November 2019 einschließlich der dagegen gerichteten Klage nicht von der Tat am 14. Dezember 2019 abhalten konnte. Gleiches gilt für die Taten vom 4. April 2021 und 3. Mai 2021, wobei auch hier zu beachten ist, dass der Kläger erst am 22. März 2021 aus der Haft entlassen worden war. Daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger auch nach Entlassung aus der aktuellen Haft sein strafbares Verhalten fortsetzen wird. Durchgreifende Anhaltspunkte für eine nachhaltige Verhaltensänderung sind nicht ersichtlich. Der Kläger hat vielfach gezeigt, dass ihn weder Geld- noch Haftstrafen oder der drohende Verlust des Freizügigkeitsrechts von weiteren Delikten abhalten können. Dass im Zusammenhang mit der Begehung derartiger Delikte auch die Gefahr besteht, dass der Kläger gewalttätig wird, zeigt die Tat vom 14. Dezember 2019. Eine fehlende Akzeptanz der geltenden Rechtsordnung ist offensichtlich.
Zu Lasten des Klägers ist auch zu berücksichtigen, dass sowohl die Tat vom 30. April 2019 als auch die Tat vom 14. Dezember 2019 unter nicht unerheblichem Alkoholeinfluss begangen wurden. Auch wenn in den dem Gericht vorliegenden Strafurteilen keine Alkoholabhängigkeit festgestellt wurde, liegt hierin ein Aspekt, der sich im Rahmen der Prognose negativ auswirkt. Ausweilich des Führungsberichts der Justizvollzugsanstalt … vom 16. Juli 2021 liegt bei dem Kläger eine Suchtbehaftung vor. Ausweislich des Urteils vom 3. März 2020 hat der Kläger im dortigen Verfahren selbst angegeben, in der Vergangenheit Diebstahlstaten begangen zu haben, um seinen regelmäßigen Alkoholkonsum finanzieren zu können. Eine Therapie hinsichtlich der Alkoholproblematik hat der Kläger in der Bundesrepublik nicht durchlaufen (vgl. zum Erfordernis einer erfolgreichen Therapie für den Wegfall der Wiederholungsgefahr: BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.). Wie gerade sein Verhalten in der Bundesrepublik zeigt, hatten die beiden nach Angaben des Klägers in Polen absolvierten Therapien keinen anhaltenden Erfolg. Es ist daher sowohl davon auszugehen, dass sich das Risiko für erneute Straftaten unter Alkoholeinfluss erhöhen wird, als auch davon, dass der Kläger weiterhin versuchen wird, seinen Alkoholkonsum durch Diebstahlstaten zu finanzieren.
Damit liegt eine hohe Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer Eigentumssowie Körperverletzungsdelikte und damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Kläger vor.
2. Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Es ist vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Güter- und Interessenabwägung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorzug gegeben hat.
Das öffentliche Interesse wiegt vorliegend schwer. Der Kläger hat innerhalb von drei Jahren mit hoher Rückfallgeschwindigkeit eine Vielzahl an Straftaten begangen; es besteht eine konkrete Wiederholungsgefahr.
Demgegenüber ist insbesondere keine besonders schützenswerte soziale, familiäre und wirtschaftliche Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet festzustellen. Der Kläger befindet sich erst seit dem Jahr 2018 im Bundesgebiet. Er hat hier weder eine eigene Kernfamilie noch Verwandte. Einer meldepflichtigen beruflichen Tätigkeit ist der Kläger in der Bundesrepublik nicht nachgegangen, sodass eine wirtschaftliche Integration des Klägers kaum stattgefunden hat. Auch wenn der Kläger angegeben hat, nach seiner Entlassung in einer Baufirma arbeiten zu können, wurde hierzu kein Nachweis vorgelegt. Zudem wäre ein Interesse des Klägers an einer künftigen Beschäftigung im Bundesgebiet im Hinblick auf die beträchtlichen Interessen der Bundesrepublik jedenfalls nicht durchschlagend.
Auch im Übrigen sind keine Umstände erkennbar, weshalb dem Kläger eine Reintegration in Polen, wo er aufgewachsen ist und lange gelebt hat, nicht zumutbar sein sollte. Insbesondere hat der Kläger nach seinen eigenen Äußerungen in der mündlichen Verhandlung „kein Problem“ damit, nach Polen zurückzugehen.
III. Auch die von der Beklagten in Nummer 2 des angegriffenen Bescheids auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Satz 5 und 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet für die Dauer von vier Jahren ist insbesondere vor dem Hintergrund fehlender familiärer Bindungen des Klägers im Bundesgebiet rechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU wäre grundsätzlich eine Frist von über fünf Jahren möglich gewesen, sodass die Beklagte den zulässigen Rahmen bei weitem nicht ausgeschöpft hat.
IV. Schließlich stellt sich auch Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheids in seiner aktuellen Fassung als rechtmäßig dar. Die für den Fall, dass der Kläger aus der Haft entlassen wird, bevor seine Abschiebung durchgeführt wird, in Nummer 3 Satz 2 gesetzte Ausreisefrist von einem Monat ab Haftentlassung und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht stützt sich auf § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU. Die Abschiebung wurde zutreffend auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU bzw. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 59 Abs. 5 AufenthG angedroht.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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