Arbeitsrecht

Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und die Anforderungen an die Erfolgsaussicht des Klageziels

Aktenzeichen  10 C 19.1664

Datum:
5.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 22540
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 146 Abs. 1, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 2, § 127 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Ein Fachgericht, das § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren „durchentschieden“ werden können, verkennt die Bedeutung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutzgleichheit. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Prozesskostenhilfeverfahren sind die Erfolgsaussichten eines Klageziels positiv zu bewerten, wenn die Rechtsfrage, ob ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für einen drittstaatsangehörigen, die tatsächliche Sorge wahrnehmenden Elternteil eines Unionsbürgers ausscheidet, sofern die praktische Wirksamkeit des Freizügigkeits- bzw. der Kernbestand des Unionsbürgerschaftsrechts aus Art. 21 Abs. 1 bzw. 20 AEUV durch die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels oder eine gleichwertige Berechtigung gewährleistet wird, noch nicht obergerichtlich geklärt ist. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 18.395 2019-07-29 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Unter Abänderung von Ziffer II. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 29. Juli 2019 wird dem Kläger für das Klageverfahren Au 6 K 18.395 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T. O., Ulm, bewilligt.

Gründe

Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger seinen in erster Instanz erfolglos gebliebenen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten für seine Klage auf Aufhebung des durch den Beklagten festgestellten Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt als Familienangehöriger eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers weiter.
Gegenstand der Klage ist Nr. 2 des Bescheids des Beklagten vom 27. Februar 2018, mit dem der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt und der Kläger aufgefordert wurde, seine Daueraufenthaltskarte an den Beklagten zurückzureichen. Der Kläger beantragte für die hiergegen am 14. März 2018 erhobene Anfechtungsklage Prozesskostenhilfe, was das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 29. Juli 2019 mangels hinreichender Erfolgsaussichten ablehnte.
Die Beschwerde gegen die die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist zulässig (§ 146 Abs. 1 VwGO) und begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Unrecht abgelehnt, weil zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, hier nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (vgl. BVerwG, B.v. 12.9.2007 – 10 C 39.07 u.a. – juris Rn. 1 m.w.N.; BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 C 18.2522 – juris Rn. 17; B.v. 3.6.2019 – 10 C 19.616 – juris Rn. 4 m.w.N.), die Erfolgsaussichten der Klage zumindest als offen zu erachten waren (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen die Anforderungen an das Vorliegen einer Erfolgsaussicht nicht überspannt werden und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlen. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Prozesskostenhilfe ist allerdings nicht bereits zu gewähren, wenn die entscheidungserhebliche Frage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als „schwierig“ erscheint. Ein Fachgericht, das § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren „durchentschieden“ werden können, verkennt jedoch die Bedeutung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutzgleichheit. Denn dadurch würde dem unbemittelten Beteiligten im Gegensatz zu dem bemittelten die Möglichkeit genommen, seinen Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (BVerfG, B.v. 4.10.2017 – 2 BvR 496/17 – juris Rn. 13; B.v. 16.1.2013 – 1 BvR 2004/10 – juris Rn. 18; B.v. 14.6.2006 – 2 BvR 626/06 u.a. – juris Rn. 12 f.; B.v. 13.3.1990 – 2 BvR 94/88 – juris -Ls- und Rn. 25 ff.).
Gemessen hieran ist dem Kläger Prozesskostenhilfe zu gewähren. Zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Klageziels, hier spätestens mit Eingang der Klageerwiderung des Beklagten beim Verwaltungsgericht am 2. Mai 2018, war die vorliegend inmitten stehende Rechtsfrage, ob ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für den drittstaatsangehörigen, die tatsächliche Sorge wahrnehmenden Elternteil eines Unionsbürgers ausscheidet, wenn die praktische Wirksamkeit des Freizügigkeits- bzw. der Kernbestand des Unionsbürgerschaftsrechts aus Art. 21 Abs. 1 bzw. 20 AEUV durch die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels oder eine gleichwertige Berechtigung gewährleistet wird, noch nicht obergerichtlich geklärt. Auch das Verwaltungsgericht hat in einer ähnlich gelagerten Verwaltungsstreitsache noch mit Urteil von Ende Dezember 2017 (Au 6 K 17.1538 – n.v.) einer Klage auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte stattgegeben und die Berufung zugelassen. Der Kläger hatte zum maßgeblichen Zeitpunkt damit alles ihm Mögliche getan und im Laufe der Zeit mehrfach wegen des Verfahrensstands nachgefragt. Die zwischenzeitlich erfolgte Klärung der entscheidungserheblichen Frage in einem dem Kläger nachteiligen Sinne (vgl. BayVGH, U.v. 25.5.2019 – 10 BV 18.281 – juris) rechtfertigte mithin nicht die Versagung von Prozesskostenhilfe (vgl. BVerfG, B.v. 4.10.2017 – 2 BvR 496/17 – juris Rn. 14; B.v. 14.6.2006 – 2 BvR 626/06 u.a. – juris Rn. 16).
Da die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint, war dem Kläger sein Bevollmächtigter beizuordnen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO).
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO). Gerichtsgebühren fallen nicht an.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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