Arbeitsrecht

Prognose der dauerhaften Lebensunterhaltssicherung

Aktenzeichen  10 ZB 19.554

Datum:
25.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14542
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 2 Abs. 3, § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 31 Abs. 1, Abs. 4 S. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Bei der nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erforderlichen positiven Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist, ist auf die Gesamtdauer des Aufenthalts abzustellen, wofür der jeweilige Aufenthaltszweck maßgeblich ist (Bestätigung von VGH München BeckRS 2008, 28465). (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Prognose einer dauerhaften Lebensunterhaltssicherung erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den nachhaltig zur Verfügung stehenden Mitteln. Bei Ausländern, bei denen ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen alsbaldiger Überschreitung der Altersgrenze bevorsteht, bemessen sich Einkommen und Unterhaltsbedarf grundsätzlich nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs (SGB) Zwölftes Buch (Anschluss an VGH München BeckRS 2020, 1235 Rn. 7). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 4 K 16.5772 2019-02-12 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Klägerin verfolgt mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung ihre in erster Instanz erfolglose Klage, mit der sie die Verpflichtung der Beklagten begehrte, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 28. November 2016 ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerin im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Klageabweisung darauf gestützt, dass der Lebensunterhalt der Klägerin nicht dauerhaft gesichert sei. Es ist bei der vom Senat im Beschluss vom 5. Oktober 2018 (10 C 17.322) geforderten Prüfung davon ausgegangen, dass die Klägerin trotz ihrer noch relativ guten Einkommenssituation auf Dauer nicht in der Lage sein werde, ihren Lebensunterhalt ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu bestreiten. Die Klägerin habe bereits das Rentenalter erreicht und räume selbst ein, dass ihre Tätigkeit bei einem ambulanten Pflegedienst „nicht endlos dauern“ werde. Auch das Alter des Bekannten, der die Klägerin in einem (zusätzlichen) unbefristeten Arbeitsverhältnis beschäftige, lasse erwarten, dass es der Kläger nicht gelingen werde, durch eine eigene Erwerbstätigkeit eine auskömmliche Altersrente zu erwirtschaften. Ein Aufenthaltstitel für einen vorübergehenden Aufenthalt aus humanitären Gründen scheide aus, da die Klägerin – wie sie selbst einräume – einen dauerhaften Aufenthalt anstrebe.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, ihr Lebensunterhalt sei nicht gesichert. Außer ihrem Nettoeinkommen aus ihrer Tätigkeit bei einem ambulanten Pflegedienst in Höhe von ca. 1.250 Euro beziehe sie monatlich eine russische Rente i.H.v. durchschnittlich 250 Euro und eine deutsche Witwenrente i.H.v. 175 Euro. Darüber hinaus sei sie bei einem Bekannten dauerhaft geringfügig beschäftigt, wodurch sie weitere 450 Euro monatlich verdiene. Seit Februar 2020 beziehe sie zudem eine eigene Altersrente in Höhe von 65,61 Euro. Schließlich sei im März 2020 zu Gunsten der Klägerin bei einer deutschen Bank eine Kapitalanlage i.H.v. 15.000 Euro getätigt worden, aus der die Kläger für die Dauer von drei Jahren monatlich Zahlungen in Höhe von ca. 420 Euro erhalte. Selbst wenn man lediglich die Renteneinkünfte der Klägerin berücksichtige, sei der Grundsicherungsbedarf i.H.v. 439 Euro gedeckt, ein ergänzender Wohngeldbezug sei unschädlich. Zu berücksichtigen sei schließlich, dass Streitgegenstand nur eine befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei, sodass die notwendige Prognose nur den Zeitraum der nächsten Jahre berücksichtigen dürfe.
Dieses Vorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts.
Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel außer Betracht. Erforderlich ist mithin die positive Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Entsprechendes gilt gem. § 8 Abs. 1 AufenthG für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.
Dabei ist entgegen der Auffassung der Klägerin auf die Gesamtdauer des Aufenthalts abzustellen. Maßgeblich hierfür ist der jeweilige Aufenthaltszweck (vgl. BayVGH, U.v. 1.10.2008 – 10 BV 08.256 – juris Rn. 23). Im Falle des von der Klägerin in Anspruch genommenen grundsätzlich auf einen Daueraufenthalt angelegten selbständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 31 AufenthG) erfordert die Verlängerung nach Ablauf des ersten Verlängerungsjahres die positive Prognose, dass der Lebensunterhalt dauerhaft gesichert ist. Hieran ändert auch der Hinweis der Klägerin, Streitgegenstand sei lediglich die befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, weswegen hinsichtlich der Prognose der Lebensunterhaltssicherung nur auf einen absehbaren Zeitraum abzustellen sei, nichts. Die Klägerin räumt selbst ein, dass sie auf Dauer in Deutschland leben möchte, weshalb die Prognose auch den Zeitraum jenseits der Gültigkeitsdauer der (nächsten) Aufenthaltserlaubnis abdecken muss.
Die Prognose einer dauerhaften Lebensunterhaltssicherung erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den nachhaltig zur Verfügung stehenden Mitteln. Bei Ausländern, bei denen ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen alsbaldiger Überschreitung der Altersgrenze des § 7a SGB II (hier: 65 Jahre und 9 Monate) bevorsteht und die daher gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II keine Leistungen nach dem SGB II beanspruchen können, bemessen sich Einkommen und Unterhaltsbedarf grundsätzlich nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs (SGB) Zwölftes Buch – Sozialhilfe – SGB XII (BayVGH, B.v. 21.1.2020 – 10 CS 19.2402 – juris Rn. 7). Dies gilt auch dann, wenn der Betroffene trotz Erreichens der Regelaltersgrenze gegenwärtig noch erwerbstätig ist oder wäre (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 AufenthG Rn. 45). Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die die – mit § 7a SGB II korrespondierende – Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht haben, Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Für Ausländer gelten insoweit keine anderen Regelungen (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Unerheblich ist, ob Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden; nach dem gesetzlichen Regelungsmodell kommt es nur auf das Bestehen eines entsprechenden Anspruchs an (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – BVerwGE 146, 198 – juris Rn. 13).
Gemessen daran ist die vom Verwaltungsgericht angestellte Prognose zur nicht tragfähigen Finanzierung der Altersruhe ohne staatliche Sozialhilfe (vgl. BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 13) mit dem Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt. Über den Verweis auf die derzeitige Erwerbssituation der Klägerin hinaus behauptet das Beschwerdevorbringen Rentenbezüge von monatlich ca. 490 Euro. Unter Zugrundelegung dieser Renteneinkünfte wäre der Bedarf der Klägerin, die bereits die Regelaltersgrenze erreicht hat, nicht nachhaltig gedeckt. Bereits der Regelbedarf der Grundsicherung im Alter beträgt regelmäßig 432 Euro (§ 42 Nr. 1 i.V.m. der Anlage zu § 28 SGB XII). Im Zuständigkeitsbereich der Antraggegnerin liegt er nach § 1 Nr. 1 der Verordnung des Landeshauptstadt München über die Festsetzung der Regionalen Regelsätze, nach denen die Hilfe zum Lebensunterhalt bemessen wird (Regelsatzfestsetzungsverordnung) bei 453 Euro. Hinzukommen die Kosten für die Unterkunft (§ 42 Nr. 4 i.V.m. § 42a SGB XII), die die Klägerin im Ausgangsverfahren mit 575 Euro beziffert hat. Damit verbleibt bei der Klägerin perspektivisch ein nicht durch Renteneinkünfte gedeckter Bedarf von monatlich 538 Euro. Diese Bedarfslücke wird zwar derzeit noch durch die Erwerbstätigkeit der Klägerin und ihre Kapitalanlage geschlossen. Angesichts des von der Klägerin unstreitig angestrebten Daueraufenthalts kann von einer dauerhaften Lebensunterhaltssicherung dennoch nicht ausgegangen werden, weil die Klägerin bis zur absehbaren Aufgabe der Erwerbstätigkeit und dem Verzehr des nachgewiesenen Vermögens keine ins Gewicht fallenden zusätzlichen Rentenanwartschaften erwerben können wird. Soweit der Bevollmächtigte der Klägerin darauf verweist, dass ein etwaiger Wohngeldbezug bei der Prognose zur Lebensunterhaltssicherung unschädlich sei, verfängt dies nicht. Wohngeld gehört nicht zu den in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannten privilegierten öffentlichen Leistungen und ist daher nicht geeignet, eine bestehende Einkommenslücke zu schließen. Der Bezug von Wohngeld schadet daher nur dann nicht, wenn der Bedarf aus eigenem Einkommen, Vermögen oder aufenthaltsrechtlich unschädlichen öffentlichen Leistungen bereits gedeckt ist (BVerwG, U.v. 29.11.2012 – 10 C 4/12 – BVerwGE 145, 153 – juris Rn. 29).
Unabhängig davon wird mit der Beschwerde nicht dargelegt, dass die Klägerin nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dem damit einhergehenden Wegfall des Krankenversicherungsschutzes für Arbeitnehmer (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) als gesetzliches Pflichtmitglied krankenversichert sein oder dauerhaft die entsprechenden Mittel zum Abschluss einer freiwilligen (gesetzlichen oder privaten) Krankenversicherung aufbringen können wird. Es fehlt an jedem Vortrag oder gar Nachweis, dass sie die Voraussetzungen für eine Krankenversicherung der Rentner nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V (eine gesetzliche Krankenversicherung während 9/10 der zweiten Hälfte des Arbeitslebens) erfüllt. Die derzeit noch ausgeübte geringfügige Beschäftigung würde nach Wegfall einer versicherungspflichtigen (Haupt-)Erwerbstätigkeit auch keine Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung begründen (§ 7 SGB V). Eine Pflichtmitgliedschaft nach der Auffangvorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB dürfte für die Klägerin nicht in Betracht kommen, denn sie erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 5 Abs. 11 Satz 1 SGB V (Niederlassungserlaubnis oder Aufenthaltserlaubnis, für deren Erteilung keine Verpflichtung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besteht). Vorbehaltlich nicht dargelegter sonstiger Möglichkeiten einer gesetzlichen Krankenversicherung, bliebe der Klägerin daher nur die Möglichkeit, eine freiwillige gesetzliche oder private Krankenversicherung abzuschließen. Dass ihr hierfür die erforderlichen finanziellen Mittel dauerhaft zur Verfügung stünden, ist nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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