Arbeitsrecht

Sachliche Zuständigkeit für Klage gegen sogenannten “Kreuzerlass”

Aktenzeichen  M 30 K 18.4955

Datum:
27.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 12941
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AGO § 28
GG Art. 4 Abs. 1, Art. 140
VwGO § 47 Abs. 1 Nr. 2
WRV Art. 136 Abs. 1, Art. 137 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Verwaltungsgericht München erklärt sich für sachlich unzuständig.
II. Der Rechtsstreit wird an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof verwiesen.
III. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vorbehalten.

Gründe

I.
Die Kläger wenden sich gegen den sogenannten „Kreuzerlass“ der Bayerischen Staatsregierung vom 1. Juni 2018.
Der Ministerrat beschloss am 24. April 2018, eine neue Vorschrift in die Allgemeine Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern (AGO) vom 12. Dezember 2000 (GVBl. S. 873; 2001 S. 28 BayRS 200-21- I) einzufügen. Hiernach werden nunmehr alle bayerischen staatlichen Behörden verpflichtet, im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes gut sichtbar ein Kreuz anzubringen. Die Änderung wurde im Gesetz- und Verordnungsblatt bekannt gemacht und trat zum 1. Juni 2018 in Kraft (GVBl. 2018, 281).
Hiergegen haben die Kläger durch ihren gemeinsamen Prozessbevollmächtigten am 8. Oktober 2018 Klage erhoben. Sie tragen vor, der Kreuzerlass stelle eine innerbehördliche Weisung dar, welche ihnen gegenüber jedoch eine unmittelbare Wirkung entfalte. Der Kreuzerlass treffe eine konkrete Anordnung, welche keiner Subsumtion bedürfe und durch seine Befolgung Außenwirkung entfalte. Vorbeugender Rechtsschutz könne nicht erlangt werden, da es den Klägern zum einen wegen der Fülle der Kontakte zu staatlichen Behörden nicht zumutbar sei und zum anderen in Notsituationen oder Eilfällen auch nicht erlangt werden könne. Die Kläger sehen sich insbesondere in ihrer negativen Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt. Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) schütze nicht nur vor Eingriffen in die Religionsbetätigung, sondern gewähre auch die Freiheit, eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung nicht zu haben und ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens und den Symbolen, in denen er sich darstellt, nicht ausgesetzt zu werden. Eine Konfrontation könne wegen der umfassenden Kreuzpräsenz auf sämtlichen Dienststellen des Beklagten nicht umgangen werden. Da die Kreuze gemäß § 28 AGO im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes gut sichtbar anzubringen seien, wohne dieser Regelung ein demonstrativer Charakter inne. Der Besucher des Dienstgebäudes solle schon beim Betreten desselben mit dem Kreuz konfrontiert werden. Die Anbringung im Eingangsbereich und nicht etwa in bestimmten Amtsräumen, bei denen möglicherweise eine kulturhistorische Verbindung vorzufinden wäre (zum Beispiel im Bildungsbereich), würde eine Provokation enthalten. Die Rechtsverletzung werde auch dadurch deutlich, dass das Kreuz in jedem Dienstgebäude anzubringen sei. Die Anzahl der Dienststellen sei nicht näher bekannt; das Bayerische Innenministerium spreche von mehr als 1.100 staatlichen Hauptdienststellen. Ein Bildungs- und Kulturzusammenhang sei bei Stellen, die dem Straßenverkehr, der Abfallbeseitigung oder anderen Daseinszwecken sowie der Erholung (z.B. Bäder) verpflichtet sein, nicht erkennbar. Es läge ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot vor. Dieses könne als grundrechtsähnliches Recht vor den Gerichten geltend gemacht werden. Das Neutralitätsgebot verpflichte den Staat, sich einer institutionellen und inhaltlichen Identifikation mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu enthalten. Der Staat dürfe keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft bevorzugen. Das Kreuz werde als Zeichen und Symbol der christlichen Kirchen verwendet und beansprucht. Ihm wohne ein eindeutiger Symbolgehalt inne.
Die Kläger beantragen,
I. Der Beklagte wird verpflichtet, § 28 der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern (AGO) vom 12. Dezember 2000 aufzuheben.
II. Der Beklagte wird verpflichtet, den Gemeinden, Landkreisen, Bezirken und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu empfehlen, die in Befolgung von § 36 AGO angebrachten Kreuze zu entfernen.
III. Hilfsweise: Der Beklagte wird verpflichtet, die in seinen Dienststellen im Sinne von § 28 AGO im Eingangsbereich des Dienstgebäudes angebrachten Kreuze zu entfernen.
Der Beklagte beantragt Klageabweisung.
Der Beklagte trägt vor, dass die Klage bereits unzulässig sei. § 28 AGO könne für sich genommen von vornherein zu keiner individuellen Rechtsverletzung führen, da ihm keine unmittelbare rechtliche Außenwirkung zukomme und es sich hierbei lediglich um eine rein behördeninterne Geschäftsordnungsregelung handle. Vor den Verwaltungsgerichten könne daher nicht die abstrakte Verwaltungsvorschrift, sondern nur der jeweils vorliegende Umsetzungsakt angegriffen werden. Ein Rechtseingriff könne erst entstehen, wenn Personen mit einem von der Behörde konkret angebrachten Kreuz konfrontiert würden, was vorliegend aber nicht der Fall sei, da der Kontakt mit dem Kreuz im Eingangsbereich staatlicher Dienstgebäude nur punktuell und zeitlich klar begrenzt sei. Der Betrachter würde allenfalls einen flüchtigen Blick auf das Kreuz im Vorbeigehen werfen. Das Kreuz stehe nicht für bestimmte Glaubensinhalte, sondern sei ein Bekenntnis zur christlich-abendländischen Prägung der Gesellschaft. Der Staat verweise auf überkommene Werte, die Bayern geprägt hätten. Der Schutzbereich der negativen Religionsfreiheit vermittle nicht generell das Recht, von fremden Glaubensbekundungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Kennzeichnend für einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit sei eine Konstellation, bei der Andersdenkende ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt seien. § 28 AGO beschränke sich auf das Anbringen eines Kreuzes im Eingangsbereich staatlicher Dienstgebäude, weshalb ausgeschlossen sei, dass es zu einer die Religionsfreiheit beeinträchtigen Zwangssituation komme, die eine Widerspruchsregelung notwendig machen würde. Das staatliche Neutralitätsgebot sei nicht verletzt. Das bloße Anbringen von Kreuzen in staatlichen Gebäuden stelle kein staatliches Bekenntnis zu den durch das Symbol des Kreuzes ausgedrückten Glaubensinhalten oder Bekenntnishandlungen im Sinn einer staatskirchlichen Identifikation dar. Es bedeute nicht, dass der Staat das christliche Bekenntnis für verbindlich erkläre. Allein durch das Anbringen werde kein Zwang auf Andersdenkende ausgeübt, den christlichen Glauben anzunehmen oder sich ihm unterzuordnen. Das Neutralitätsgebot bedeute keine völlige Indifferenz in religiös-weltanschaulichen Fragen und keine laizistische Trennung von Staat und Kirche. Das Kreuz stehe in diesem Kontext für Werte wie Menschenwürde, Nächstenliebe und Toleranz Werte, denen sich der Staat verpflichtet fühle und die ganz wesentlich die kulturelle Identität unserer Gesellschaft ausmachen würden. Es gehe um ein Bekenntnis zu diesen Werten. Eine Identifikation des Staates mit konkreten Glaubensinhalten oder Bekenntnishandlungen sei nicht beabsichtigt und werde durch die angegriffene Regelung auch nicht zum Ausdruck gebracht.
Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 18. März 2020 zu einer möglichen Verweisung des Rechtsstreits hinsichtlich des Antrages zu I. angehört. Der Beklagte ist der Ansicht, dass ein Normenkontrollverfahren nicht in Betracht komme. So habe bereits der Bayerische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass § 28 AGO nach Form und Inhalt eine Verwaltungsvorschrift darstelle, die keine unmittelbare Außenwirkung entfalte. Die Kläger tragen hierzu vor, dass man darüber streiten könne, ob ein Normenkontrollverfahren statthaft sei. Der in der Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof verwendete Begriff der Rechtsvorschrift müsse nicht identisch sein mit dem Begriff in § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof verkenne die unmittelbare Außenwirkung des § 28 AGO und stelle in seiner Entscheidung vom 3. April 2020 lediglich auf eine formale Bindungswirkung ab.
Mit Beschluss vom 15. Mai 2020 hat das Gericht das Verfahren hinsichtlich der klägerischen Begehren den Beklagten zu verpflichten, eine Empfehlung an die Gemeinden, Landkreise, Bezirke und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts auszusprechen sowie die im Eingangsbereich von Dienstgebäuden angebrachten Kreuze zu entfernen, abgetrennt. Das abgetrennte Verfahren wird beim Gericht mit dem Aktenzeichen M 30 K 20.2325 fortgeführt.
Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.
II.
Nach § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG hat das Verwaltungsgericht München seine sachliche Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen und den Rechtsstreit ggf. an das zuständige Gericht zu verweisen.
Das Verwaltungsgericht München ist für das klägerische Begehren sachlich unzuständig. Vielmehr besteht eine sachliche Zuständigkeit des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. Art. 5 Satz 1 AGVwGO.
1. Das klägerische Begehren, die Aufhebung von § 28 AGO, ist durch ein Normenkontrollverfahren nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. Art. 5 Satz 1 AGVwGO zu verfolgen. Auch wenn der Antrag darauf gerichtet ist, den Beklagten zur Aufhebung einer Norm zu verpflichten, wird im Kern eine Überprüfung der Gültigkeit der Rechtsnorm begehrt. Der Antrag ist entsprechend §§ 86 Abs. 3, 88 VwGO auszulegen.
Bei § 28 AGO handelt es sich um eine Rechtsvorschrift i.S.d § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Die Norm greift unmittelbar in das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG ein.
1.1 Unter den Begriff der Rechtsvorschrift i.S.d. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO gehören nach der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung neben landesrechtlichen Satzungen und Rechtsverordnungen, nach der Zweckrichtung der Normenkontrolle und dem danach gebotenen weiten Begriffsverständnis, auch solche abstrakt-generelle Regelungen der Exekutive, die rechtliche Außenwirkung gegenüber dem Bürger entfalten und auf diese Weise dessen subjektiv-öffentlichen Rechte unmittelbar berühren (BVerwG, B.v. 30.11.2017 – 6 BN 2/17 – juris Rn. 7; B.v. 25.11.1993 – 5 N 1/92 – juris Rn. 9). Denn der Zweck der Normenkontrolle liegt darin, durch eine einzige Entscheidung eine Reihe von Einzelklagen zu vermeiden und dadurch die Verwaltungsgerichte zu entlasten sowie einer Vielzahl von Prozessen vorzubeugen, in denen die Gültigkeit einer bestimmten Rechtsvorschrift als Vorfrage zu prüfen wäre. Überdies ist sie geeignet, den individuellen Rechtsschutz zu verbessern (BVerwG, U.v. 20.11.2003 – 4 CN 6/03 – juris Rn. 25; U.v. 25.11.2004 – 5 CN 1/03 – juris Rn. 24). Allein der Umstand, dass der Normgeber eine Regelung als Richtlinie und interne Verwaltungsvorschrift bezeichnet, reicht noch nicht dafür aus, diese Regelung dem Anwendungsbereich von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO zu entziehen. Entscheidend ist nicht die Bezeichnung, sondern der Umstand, ob der betreffenden Regelung eine unmittelbare rechtliche Außenwirkung zukommt (BVerwG, B.v. 25.9.2012 – 3 BN 1.12 – beck-online Rn. 4).
Einer Regelung kommt unmittelbare Außenwirkung zu, wenn sie nicht nur binnenrechtlich wirkt, sondern Bindungswirkung auch gegenüber den Bürgern oder anderen Rechtssubjekten entfaltet, durch sie gleichsam als „Schlussstein“ die gesetzlichen Vorgaben konkretisiert werden (BVerwG, B.v. 30.11.2017 – 6 BN 2/17 – juris Rn. 7; U.v. 25.11.2004 – 5 CN 1/03 – juris Rn. 24; B.v. 25.11.1993 – 5 N 1/92 – juris Rn. 9). Das ist der Fall, wenn die Verwaltungsvorschrift als solche den Anspruch auf eine abschließend verbindliche Regelung erhebt und dadurch die Grundlage für eine Vielzahl von verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten bilden kann (Giesberts in Posser/Wolff, VwGO BeckOK, 52. Ed. 1.1.2020, § 47 Rn. 29). An der Verbindlichkeit einer Regelung kann es demgegenüber fehlen, wenn sie von der tatsächlichen Entwicklung abhängig ist, sich also das Gewicht ihrer Aussage bis hin zum Verlust der Aussagekraft abschwächen kann (BVerwG, B.v. 30.11.2017 – 6 BN 2/17 – juris Rn. 7; vgl. auch B.v. 20.7.1990 – 4 N 3/88 – juris Rn. 14).
1.2. Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf seinen Bürgern einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die innere Freiheit, ein Glauben zu haben, sondern auch die äußere Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.1971 – 1 BvR 387/65 – BVerfGE 32, 98/106). Die Glaubensfreiheit gewährleistet insbesondere die Teilnahme an kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er seinen Ausdruck findet. Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben (BVerfG, B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1/15f.). Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen Glaube und Religion sich darstellen (BVerfG, ebd.). Dem Einzelnen steht zwar kein Recht zu, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen Dritter verschont zu bleiben (BVerfG, ebd.). Anders stellt sich die Sache aber dar, wenn vom Staat eine Lage geschaffen wird, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens ausgesetzt ist (BVerfG, ebd.). Insofern entfaltet Art. 4 Abs. 1 GG seine freiheitlichen Wirkungsgrade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind (vgl. BVerfG, B.v. 17.12.1975 – 1 BvR 63/68 – BVerfGE 41, 29/49). Dem trägt auch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 4 WRV dadurch Rechnung, dass er ausdrücklich verbietet, jemanden zur Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen. Art. 4 Abs. 1 GG verleiht dem Einzelnen und religiösen Gemeinschaften keinen Anspruch darauf, ihren Glaubensüberzeugungen durch staatliche Unterstützung Ausdruck zu verleihen, vielmehr folgt aus Art. 4 Abs. 1 GG der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen (BVerfG, B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1/16f.). Der Staat kann eine friedliche Koexistenz der Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher Glaubensrichtungen und weltanschaulicher Überzeugungen nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahrt (BVerfG, ebd.). Er darf den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus gefährden. Dieses Gebot findet seine Grundlage nicht nur in Art. 4 Abs. 1 GG, sondern auch in Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 1 und 3 sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV (BVerfG, ebd.; B.v. 26.6.2002 – 1 BvR 670/91 – BVerfGE 105, 279/294). Dem Staat ist es demnach verwehrt, staatskirchenähnliche Rechtsformen einzuführen und bestimmte Bekenntnisse zu privilegieren, ebenso wie Andersgläubige auszugrenzen (vgl. BVerfG, U.v. 14.12.1965 – 1 BvR 413/60 u. 416/60 – BVerfGE 19, 206/216; B.v. 16.10.1968 – 1 BvR 241/66 – BVerfGE 24, 236/246; B.v. 11.4.1972 – 2 BvR 75/71 – BVerfGE 33, 23/28; B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1/16f.). Eine Zusammenarbeit oder Förderung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften darf nicht zu einer Identifikation mit diesen führen (vgl. BVerfG, B.v. 31.3.1971 – 1 BvR 744/67 – BVerfGE 30, 415/422; B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1/16f).
1.3. Ein Eingriff in ein Grundrecht liegt auch bei einer Beeinträchtigung vor, die in ihrer Zielsetzung und ihrer mittelbar-faktischen Wirkung einem Eingriff im klassischen Sinn als funktionales Äquivalent gleichkommt (BVerfG, B.v. 21.3.2018 – 1 BvF 1/13 – BVerfGE 148, 40/51; B.v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91 u. 1428/91 – BVerfGE 105, 252/273; B.v. 26.6.2002 – 1 BvR 670/91 -BVerfGE 105, 279/303; U.v. 17.3.2004 – 1 BvR 1266/00 – BVerfGE 110, 177/191; B.v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00 – BVerfGE 116, 202/222). Die mittelbaren Folgen dürfen aber kein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten gesetzlichen Regelung sein (BVerfG, B.v. 21.3.2018 – 1 BvF 1/13 – a.a.O.; U.v. 17.12.2002 – 1 BvL 28/95, 29/95 u. 30/95 – BVerfGE 106, 275/299; B.v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00 – a.a.O.). Ein staatliches Bekenntnis zu Glaubensinhalten, dem auch Dritte bei Kontakten mit dem Staat ausgesetzt werden, berührt die Religionsfreiheit (BVerfG, B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1/19).
1.4. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe handelt es sich bei § 28 AGO um eine Verwaltungsvorschrift mit Außenwirkung, da sie unmittelbar zu einem Grundrechtseingriff in die Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG führt.
a) Das Anbringen gut sichtbarer religiöser Symbole im Eingangsbereich einer Behörde stellt einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar.
aa) Das Aufsuchen von Behörden stellt keinen Lebensbereich dar, der der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen ist. Ebenso wenig dienen staatliche Behörden der Religionsausübung, noch besteht ein kulturell-gesellschaftlicher oder historischer Zusammenhang der Tätigkeit staatlicher Behörden mit religiösen Glaubensrichtungen und Weltanschauungen, wie dies beispielsweise im Rahmen der schulischen Erziehung von Kindern der Fall ist. Der Bürger ist vielmehr darauf angewiesen, staatliche Behörden aufzusuchen, um seine ihm zustehenden Ansprüche gegenüber dem Staat geltend zu machen und seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen. Anders als bei der Begegnung mit fremden Glaubensbekundungen und religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit, wie etwa religiösen Grabsteinen oder dem Anblick eines Gipfelkreuzes, hat es der Bürger nicht in der Hand, den religiösen Symbolen in einer Behörde gänzlich auszuweichen. Vor allem besteht in diesen Fällen der grundlegende Unterschied zu in Behörden angebrachten Kreuzen darin, dass hier die Religionsfreiheiten verschiedener Grundrechtsträger aufeinander treffen und miteinander in einen Ausgleich zu bringen sind, so wie dies etwa beim sakralen Leuten eines Kirchturms der Fall ist. Zwar wird es dem Bürger nach allgemeiner Lebenserfahrung schwerfallen, dem sakralen Leuten eines Kirchturms, beispielsweise durch einen örtlichen Wegzug, zu entgehen. Doch liegt der entscheidende Unterschied hier darin, dass der Eingriff zum einen nicht von einem staatlichen Hoheitsträger ausgeht, welcher der Grundrechtsbindung unterliegt (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG), und es zum anderen zu einem Aufeinandertreffen von Religionsfreiheiten verschiedener Grundrechtsträger kommt, die im Wege praktischer Konkordanz in einen Ausgleich zu bringen sind. Der Staat hingegen ist auf Grund der Neutralitätspflicht gehalten, den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus zu gefährden.
bb) Das Kreuz ist ein religiöses Symbol des Christentums. Wenn der Beklagte das Kreuz lediglich als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns verstanden wissen will, verkennt er, dass das Kreuz ein Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur ist (so bereits: BVerfG, B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1/19). Die ständige Ausstattung des Eingangsbereichs einer Behörde mit einem Kreuz vermittelt den Eindruck einer weitergehenden Bedeutung, denn das Kreuz als Sinnbild des Leidens und der Herrschaft Christi gilt von alters her als symbolischer Inbegriff des christlichen Glaubens (vgl. BVerfG, B.v. 17.7.1973 – 1 BvR 308/69 – BVerfGE 35, 366/374). Auch in der heutigen Zeit liegt der Eindruck nahe, dass durch die Anbringung eines Kreuzes eine enge Verbundenheit mit christlichen Vorstellungen bekundet werden solle (BVerfG, ebd.). Die Ausstattung eines Gebäudes oder eines Raums mit einem Kreuz wird auch heute noch als gesteigertes Bekenntnis des Besitzers zum christlichen Glauben verstanden (vgl. bereits: BVerfG, B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 1/19). Das bloße Abstellen auf den Symbolgehalt der abendländischen Prägung Bayern vermag daher nicht den grundlegenden Symbolgehalt eines Kreuzes als religiöses Symbol des Christentums zu übergehen (vgl. BVerfG, B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BverfGE 93, 1/19 f.).
cc) Der Bürger wird bei jedem Besuch einer Behörde mit dem Kreuz konfrontiert. Eine Ausweichmöglichkeit, wie etwa das Stellen von Anträgen über den elektronischen oder postalischen Schriftverkehr ist nach derzeitiger Rechts- und Sachlage zwar in Einzelfällen oder für bestimmte Anliegen, nicht aber für sämtliche Behördengänge gegeben. Auch das „Flüchtigkeitsargument“ ist nicht geeignet, der Beeinträchtigung die Eingriffsqualität zu nehmen. Zwar wird in die Religionsfreiheit umso intensiver eingegriffen, je länger eine Person mit dem Kreuz konfrontiert wird. Doch geht schon von einem nur im Eingangsbereich aufgehangenem, gut sichtbaren Kreuz ein Eingriff aus. Auch die nur kurzweilige, gut sichtbare Wahrnehmung religiöser Symbole führt dazu, dass Bürger mit diesem Symbol konfrontiert werden und ihm, wie vorliegend dargelegt, nicht ausweichen können.
dd) Der mit der Regelung des § 28 AGO verfolgte Zweck ist auch gezielt darauf gerichtet, jeden Behördenbesucher mit dem Kreuz zu konfrontieren, müssen die Kreuze doch gut sichtbar im Eingangsbereich angebracht werden. Der Beklagte vermittelt durch seine Regelung, dass er vom Kreuz geprägt ist und führt dies zielgerichtet dem Bürger „vor Augen“. Er legt es gezielt darauf an, dass die Bürger beim Betreten der Behörde ums Kreuz „nicht herumkommen“.
ee) Zwar werden weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Behörden nichts einzuwenden haben. Auch im Übrigen ist das Maß der in dieser Ausstattung möglicherweise zutage tretenden Identifikation mit spezifischen christlichen Anschauungen nicht derart, dass der Behördengang von andersdenkenden Bürgern in der Regel als unzumutbar empfunden wird. Denn das bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt von ihnen weder eine eigene Identifizierung mit den in diesem Symbol verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten (vgl. BVerfG, B.v. 17.7.1973 – 1 BvR 308/69 – BVerfGE 35, 366/375). So können sich aber einzelne Bürger in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt fühlen, wenn sie zum Beispiel dem unausweichlichen Zwang unterliegen, entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen „unter dem Kreuz“ ein Verwaltungsverfahren zu betreiben und die als Identifikation empfundene Ausstattung in einem rein weltlichen Lebensbereich tolerieren müssen (vgl. BVerfG, B.v. 17.7.1973 – 1 BvR 308/69 – BVerfGE 35, 366/375f.). Das als unverletzlich gewährleistete Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit steht in enger Beziehung zur Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte und muss wegen seines Ranges extensiv ausgelegt werden (BVerfG, B.v. 16.10.1968 – 1 BvR 241/66 – BVerfGE 24, 236/246; BVerfG, B.v. 17.7.1973 – 1 BvR 308/69 – a.a.O.). Das in ihm verkörperte Freiheitsrecht, von staatlichen Zwängen in weltanschaulich-religiösen Fragen unbehelligt zu bleiben, kann einen Minderheitenschutz selbst vor verhältnismäßig geringfügigen Beeinträchtigungen jedenfalls dort rechtfertigen, wo die Inanspruchnahme dieses Schutzes nicht mit Rechten einer Bevölkerungsmehrheit zur Ausübung ihrer Glaubensfreiheit kollidiert (vgl. BVerfG, B.v. 17.7.1973 – 1 BvR 308/69 – BVerfGE 35, 366/374).
b) Der Grundrechtseingriff ist unmittelbar auf § 28 AGO zurückzuführen, weshalb die Norm selbst einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit darstellt. § 28 AGO legt den Dienststellenleitern die Pflicht auf, Kreuze gut sichtbar im Eingangsbereich aufzuhängen. Zwar liegen die genaue Größe und Position im Ermessen des jeweiligen Dienststellenleiters, doch ist dieser hinsichtlich der Vorgabe des Anbringens gut sichtbarer Kreuze gebunden. Wie bereits dargelegt, stellt schon ein solches Anbringen von Kreuzen einen Grundrechtseingriff dar. Der von den angebrachten Kreuzen ausgehende Grundrechtseingriff ist die unmittelbare Folge der Regelung in § 28 AGO. Auch das Bundesverfassungsgericht nahm in seiner Entscheidung zu Kreuzen im Klassenzimmer für die damalige Vorschrift in § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (VSO) vom 21. Juni 1983, die da lautete: „In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen“, an, dass sich der Grundrechtseingriff bereits unmittelbar aus § 13 Abs. 1 Satz 3 VSO ergab (vgl. BVerfG, B.v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE, 93,1/17).
c) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 3. April 2020 – Vf. 8-VIII-18. Zwar mag der Begriff der Rechtsvorschrift in Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG mit dem des Normenkontrollverfahrens nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO vergleichbar sein (vgl. BayVGH, U.v. 20.9.2000 – 3 N 99.2335 – juris Rn. 46). Doch lassen sich aus der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte übertragbare Erkenntnisse kaum gewinnen, weil deren Aufgabenstellung sich von Sinn und Zweck des § 47 VwGO unterscheidet (Panzer in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. Ergänzungslieferung Juli 2019, § 47 Rn. 25 m.w.N.). Daher ist der Begriff der Rechtsvorschrift in Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG nicht zwingend vollkommen identisch mit dem des Normenkontrollverfahrens nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO.
Außerdem enthält die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs keine Ausführungen zu dem vorliegend entscheidenden Aspekt der Außenwirkung infolge unmittelbaren Grundrechtseingriffs (vgl. BayVerfGH, 3. April 2020 – Vf. 8-VIII-18 – juris Rn. 17). Die Entscheidung fokussiert sich im Wesentlichen auf die Feststellung, dass § 28 AGO schon der Form nach nicht als Rechtsvorschrift erlassen wurde und sich lediglich an staatliche Stellen richte (BayVerfGH, a.a.O. – juris Rn. 15 f.). Zu der Frage, ob Bürger bereits aus dem an staatliche Stellen gerichteten Gebot zum Aufstellen von Kreuzen in Ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG unmittelbar betroffen sind, verhält sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof nicht.
1.5 Daneben kann offenbleiben, ob sich aus § 28 AGO auch unmittelbar eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1, 140 GG, Art. 136 Abs. 1 und 4, 137 Abs. 1 WRV ergibt, da der Norm schon aufgrund des Eingriff in die Religionsfreiheit Außenwirkung zukommt.
2. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 83 Satz 2 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 GVG).


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