Arbeitsrecht

Übertragung der elterlichen Sorge auf die aufnehmende Tante

Aktenzeichen  3 K 19.411

Datum:
4.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24271
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 27,§ 33,§ 36a, § 86
BGB § 1631 Abs. 1, § 1793,§ 1800
VwGO § 92 Abs. 3 S. 1,§ 155 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
II. Unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Landratsamts * vom 22. Februar 2019 wird der Beklagte verpflichtet, der Klägerin ab 1. September 2019 Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege für die Erziehung des Jugendlichen * zu bewilligen.
III. Die Klägerin trägt 13/55, der Beklagte 42/55 der Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
II.
Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet.
1. Der Beklagte ist für den geltend gemachten jugendhilferechtlichen Anspruch passivlegitimiert, weil er für die Entscheidung über den Leistungsantrag sachlich und örtlich zuständig ist. Im Zeitpunkt der Antragstellung am 16. Januar 2019 stand die Personensorge für * keinem der seit langem geschiedenen Elternteile zu, so dass sich die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils richtet, bei dem * vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Beginn der Leistung im Sinn von § 86 SGB VIII ist das Einsetzen der Hilfegewährung und damit der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber dem hilfsbedürftigen Kind oder Jugendlichen erbracht wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 25.10 – juris Rn. 18). Entgegen der Auffassung des Beklagten ist damit nicht der Zeitpunkt der (stattgebenden) Entscheidung über den Jugendhilfeantrag gemeint, sondern der Zeitpunkt, in dem * in den Haushalt der Klägerin aufgenommen wurde, also der 24. oder 25. Juli 2018. Zuvor hatte er seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seiner in * im Landkreis * wohnenden Mutter. Da deren gewöhnlicher Aufenthalt vor Beginn der Leistung damit im Zuständigkeitsbereich des Beklagten lag, ist dieser nach § 86 Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII örtlich zuständig.
2. Der Klägerin steht ab dem 1. September 2019 der geltend gemachte Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege zu (§§ 27, 33 SGB VIII).
a) Zwar stand dem ursprünglich bereits ab dem 1. August 2018 geltend gemachten Anspruch zunächst entgegen, dass es sich bei der Unterbringung * in der Familie der Klägerin um eine selbst beschaffte Hilfe handelte, die nicht die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfüllte. Nach dieser Bestimmung ist bei abweichend von den Absätzen 1 und 2 selbst beschafften Hilfen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn u.a. die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. Dies ist nach den Umständen des Falles zu verneinen. Demnach beschloss * aufgrund massiver Streitigkeiten mit seinem Stiefvater eines Tages nach Schulschluss, nicht mehr zu seiner Mutter zurückzukehren, und fuhr daraufhin mittags von der Mittelschule * mit dem Bus nach * zu seiner Tante, der Klägerin. Die Mutter wurde hierüber von der Klägerin telefonisch verständigt und war mit * Verbleib bei der Klägerin einverstanden. Sie merkte an, dass der Verbleib * bei der Klägerin nun für immer sein müsse, andernfalls solle er unverzüglich nach Hause kommen („ganz oder gar nicht“). * entschied sich gemeinsam mit der Klägerin für den Verbleib bei ihr auf Dauer (vgl. Weiterleitungsschreiben des Stadtjugendamts der Beigeladenen vom 18.1.2019). Dies zeigt, dass es keinen akuten Anlass für den Umzug * zur Klägerin gegeben hat. Vielmehr war neben dem Entschluss, sich dem ihn belastenden Dauerstreit mit seinem Stiefvater zu entziehen, ausschlaggebend die Bereitschaft der Klägerin zu seiner Aufnahme und die Zustimmung der Mutter hierzu. Eine selbst beschaffte Hilfe liegt jedoch nicht mehr vor, seitdem die Beigeladene mit Bescheid vom 25. September 2019 rückwirkend ab 1. September 2019 der Klägerin Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege gemäß §§ 27 und 33 SGB VIII gewährt hat. Auch wenn es sich hierbei nur um eine vorläufige Leistung nach § 86d SGB VIII handelt, die unter dem Vorbehalt des Widerrufs steht, ändert dies nichts daran, dass es sich nicht mehr um eine selbst beschaffte Hilfe handelt, so dass der Versagungsgrund des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VIII ab 1. September 2019 entfallen ist.
b) Dem geltend gemachten Anspruch steht auch nicht entgegen, dass seit der Übertragung der elterlichen Sorge für * auf die Klägerin durch Beschluss des Amtsgerichts * – Abteilung für Familiensachen – vom 8. Oktober 2018 diese nach § 1630 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 1915 Abs. 1 Satz 1, § 1793 BGB das Recht und die Pflicht hat, für * zu sorgen, und die Personensorge nach §§ 1800, 1631 Abs. 1 BGB insbesondere das Recht und die Pflicht umfasst, ihn zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. Die Klägerin ist jedoch nicht verpflichtet, im Rahmen ihrer Personensorge die tatsächliche Betreuung und Erziehung * selbst zu übernehmen. Nach § 1915 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1800 Satz 2 BGB hat die Pflegeperson bzw. der Vormund die Pflege und Erziehung persönlich zu fördern und zu gewährleisten, nicht aber persönlich zu leisten. Es genügt, wenn sie dafür sorgt, dass der Jugendliche seinem Wohl entsprechend durch andere betreut und erzogen wird (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1995 – 5 C 2.94 – juris Rn. 15 f.). Die dafür erforderlichen Kosten fallen nicht ihr als Pflegeperson, die als solche dem Jugendlichen keinen Unterhalt schuldet, sondern dem Jugendlichen selbst zur Last. § 27 Abs. 2a SGB VIII bestimmt mittlerweile ausdrücklich, dass der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch entfällt, dass eine andere unterhaltspflichtige Person bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen, wenn eine Erziehung des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses erforderlich ist. Können aber unter diesen Voraussetzungen selbst unterhaltsverpflichtete Großeltern einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung insbesondere in Form der Vollzeitpflege geltend machen, so muss dies für nicht unterhaltsverpflichtete Tanten und Onkel erst recht gelten.
Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin zur tatsächlichen Betreuung und Erziehung * nicht geeignet wäre, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der bis zur teilweisen Klagerücknahme streitgegenständliche Zeitraum erstreckte sich vom 1. August 2018 bis 28. Februar 2023, also auf 55 Monate. Die Klage ist letztlich für 13 Monate erfolglos geblieben, hatte aber für die übrigen 42 Monate Erfolg. Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).
Die Kostenentscheidung war gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.


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