Arbeitsrecht

Unbegründeter Anspruch auf Zahlung einer Sozialplanabfindung und eines Nachteilsausgleiches

Aktenzeichen  3 Sa 301/20

Datum:
12.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38396
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 123 Abs. 1, § 125, § 126 Abs. 1, Abs. 2, § 142 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 242, § 249 Abs. 1, § 280 Abs. 1, § 623 Abs. 1
BetrVG § 112 Abs. 1 S. 1, § 113 Abs. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

1. Ein Aufhebungsvertrag ist nicht nach §§ 125 S. 1, 126, 623 Abs. 1 BGB formnichtig, wenn ein Arbeitnehmer in Absprache mit einem Arbeitgeber den Beendigungstermin eines Aufhebungsvertrags handschriftlich um einen Monat abändert und die Abänderung (wie auch den Aufhebungsvertrag) unterschreibt, soweit die nachträgliche Abänderung nur der Beseitigung einer unvorhersehbaren Verzögerung dient und die beiderseitigen Verpflichtungen nicht wesentlich geändert werden. (Rn. 34 – 42) (red. LS Andy Schmidt)
2. Ein Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, einen Arbeitnehmer vor Abschluss eines Aufhebungsvertrages darüber aufzuklären, dass die Ausgliederung des Außendienstes als zukünftige Geschäftspolitik in den zuständigen Entscheidungsgremien diskutiert wird. In diesem Fall ist für einen Arbeitgeber nicht absehbar, dass der Arbeitnehmer durch einen zu schließenden Sozialplan bessergestellt wird als durch den Aufhebungsvertrag. Eine hierauf gestützte Anfechtung gemäß § 123 Abs. 1 BGB ist unbegründet. (Rn. 43 – 49) (red. LS Andy Schmidt)
3. § 112 Abs. 1 S. 1 BetrVG verlangt nicht, dass ein Interessenausgleich in einer gesonderten Urkunde niedergelegt und als solcher ausdrücklich bezeichnet wird. Es ist in der Betriebspraxis vielfach üblich, Interessenausgleich und Sozialplan in einer Urkunde niederzulegen, diese auch nur als Sozialplan zu bezeichnen oder andere Überschriften zu wählen. Regelungen, die nur Inhalt eines Interessenausgleichs sein können, werden als Sozialplan bezeichnet. Einigungen, die ihrem Inhalt nach einen Sozialplan darstellen, werden auch Interessenausgleich genannt. Von daher ist es allein entscheidend, ob die Einigung der Betriebspartner über das Ob und Wie einer geplanten Betriebsänderung oder eines Teils derselben schriftlich festgehalten ist und in dieser Urkunde mit ausreichender Deutlichkeit sichtbar wird. Dies bestimmt sich nach dem Inhalt der Einigung, die auszulegen ist. Es ist nicht nur der Wortlaut der Erklärungen entscheidend, sondern der wirkliche Wille der Vertragspartner, soweit er in der Erklärung noch seinen Niederschlag gefunden hat. (Rn. 56 – 58) (red. LS Andy Schmidt)

Verfahrensgang

12 Ca 4721/19 2020-01-23 Endurteil ARBGMUENCHEN ArbG München

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 23.01.2020 – 12 Ca 4721/19 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
I.
Die nach § 64 Abs. 2 lit. b) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten der geltend gemachte Zahlungsanspruch aus keinem Rechtsgrund zu.
I.
Der Zahlungsanspruch begründet sich nicht aus dem Sozialplan „SSY to lead“ vom 15.02.2018.
a) Der Kläger unterfällt nicht dem persönlichen Geltungsbereich des Sozialplans „SSY to lead“, weil sein Arbeitsverhältnis nicht nach dem 31.01.2018 beendet worden ist (vgl. zum persönlichen Geltungsbereich LAG Bremen, Urteil vom 08.09.2020 – 1 Sa 15/20, unter II. 1. a) der Entscheidungsgründe). Das Arbeitsverhältnis des Klägers endete bereits auf Grund des Aufhebungsvertrags vom 13.02./27.03.2017 mit Ablauf des 30.04.2017.
aa) Der Aufhebungsvertrag ist formwirksam geschlossen worden, § 623 Abs. 1 BGB.
(1) Nach § 623 Abs. 1 BGB bedürfen die Beendigung von Arbeitsverhältnissen durch Kündigung oder Auflösungsvertrag zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Das Schriftformerfordernis bezweckt größte Rechtssicherheit. Der Schriftform kommt vor allem eine Beweisfunktion über die Erklärung einer Kündigung oder des Abschlusses eines Aufhebungsvertrages und deren Inhalt zu. Darüber hinaus entfaltet das Schriftformerfordernis eine Warnfunktion (vgl. BAG, Urteil vom 19.01.2006 – 6 AZR 638/04 – Rn. 23 m.w.N.). Ist durch Gesetz die schriftliche Form vorgeschrieben, muss die Urkunde nach § 126 Abs. 1 BGB von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet sein (vgl. BAG, Urteil vom 15.12.2016 – 8 AZR 612/15 – Rn. 20) und zwar bei Verträgen gemäß § 126 Abs. 2 BGB dergestalt, dass die Unterzeichnung der Parteien auf derselben Urkunde erfolgt.
Nach der Literatur gilt § 623 BGB grundsätzlich auch für spätere Änderungen oder Ergänzungen (vgl. Greiner in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 623 Rn. 30; Henssler in MünchKommBGB, 8. Aufl. 2020, § 623 Rn. 39; Preis/Gotthardt, Schriftformerfordernis für Kündigungen, Aufhebungsverträge und Befristungen nach § 623 BGB, NZA 2000, 348, 355; ErfK/Müller-Glöge, 20. Aufl. 2020, § 623 Rn. 20). Ausnahmsweise kann die nachträgliche Änderung eines formgültig geschlossenen Vertrags ohne Verstoß gegen den Formzwang im Anschluss an die ständige Rechtsprechung des BGH zulässig sein (so Greiner a. a. O; Preis/Gotthardt, a. a. O.). Danach ist erforderlich, dass die nachträgliche Änderung nur der Beseitigung einer bei der Abwicklung des Geschäfts unvorhergesehen aufgetretenen Schwierigkeit dient, ohne die beiderseitigen Verpflichtungen wesentlich zu ändern (vgl. BGH, Urteil vom 26.10.1973 – V ZR 194/72 – unter II. 2. b) bb) der Gründe; BGH, Urteil vom 09.2018 – V ZR 213/17 – Rn. 5 m.w.N.).
Darüber hinaus kann die Berufung auf die Formnichtigkeit gegen Treu und Glauben verstoßen, § 242 BGB. Hierzu gehört das Verbot des Selbstwiderspruchs. Wer durch seine Erklärung oder durch sein Verhalten bewusst oder unbewusst eine Sach- oder Rechtslage geschaffen hat, auf die sich der andere Teil verlassen durfte und verlassen hat, darf den anderen Teil in seinem Vertrauen nicht enttäuschen. Das Verbot des Selbstwiderspruchs hindert die Vertragsparteien daran, sich auf die Unwirksamkeit eines Vertrags zu berufen, den sie längere Zeit als rechtswirksam angesehen und beiderseits erfüllt haben (vgl. BAG, Urteil vom 11.12.1996 – 5 AZR 855/95 – unter I. der Gründe). Weitere Umstände, die eine Berufung auf den Formmangel eines Aufhebungsvertrags als treuwidrig erscheinen lassen, liegen vor, wenn die Arbeitsstelle in Folge einer Umorganisation weggefallen ist und der Arbeitnehmer eine neue Arbeitsstelle hat; d. h., wenn sich die Parteien auf die vereinbarte Aufhebung eingestellt und entsprechend disponiert haben (vgl. Preis/Gotthardt, a.a.O., S. 356).
(2) Gemessen an diesen Grundsätzen unterlag die nachträgliche Änderung des Aufhebungsvertrags in Bezug auf das Beendigungsdatum nicht dem Schriftformerfordernis des § 623 Abs. 1 BGB. Im vorliegenden Fall ist ein Ausnahmetatbestand vom grundsätzlichen Formenzwang im Sinne der Rechtsprechung gegeben.
Nachdem unbestritten gebliebenen Behauptungen des Klägers wurde die Abänderung des Beendigungstermins vom 31.03.2017 auf den 30.04.2017 notwendig, weil der Aufhebungsvertrag seinem Vorgesetzten verspätet zugegangen war. Bei Unterschriftsleistung durch den Kläger am 27.03.2017 war eine geordnete Beendigung des Arbeitsvertrages schon zum 31.03.2017 nicht umzusetzen. Durch die Änderung wurden der Inhalt des Aufhebungsvertrags und die dort geregelten beiderseitigen Verpflichtungen auch nicht wesentlich verändert. Wie die Präambel des Aufhebungsvertrags zeigt, vereinbarten die Parteien die einvernehmliche Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses auf der Grundlage des „Sozialplans zum Projekt Agentur der Zukunft“. Gemäß Teil B Ziffer I. 2. des vorgenannten Sozialplans erhielt der Kläger ein Angebot auf Abschluss eines unterschriftsreifen Agenturvertrags frühestens ab 01.04.2017 und ein Angebot eines unterschriftsreifen Aufhebungsvertrags. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses war danach mit der Begründung des Handelsvertretervertrags zeitlich verzahnt. Eine spätere Aufhebung des Arbeitsverhältnisses bedingte lediglich einen späteren Beginn des Handelsvertretervertrages. Die Änderung des Beendigungstermins machte auch keine weiteren Vertragsanpassungen nötig, weil für die Regelungen des Urlaubs, des Zeugnisses etc. jeweils auf den „Beendigungstermin“ abgestellt wurde, der lediglich um einen Monat nach hinten verschoben wurde. Die formlose Änderung des Aufhebungsvertrags steht im vorliegenden Fall auch mit dem Sinn und Zweck nach § 623 Abs. 1 BGB im Einklang. Sowohl die Beweiswie auch vor allem die Warnfunktion des Schriftformerfordernisses blieben bei der Abänderung des Beendigungstermins um einen Monat gewahrt. Für beide Parteien war klar, dass die Auflösung des Arbeitsverhältnisses vereinbart wurde, um im unmittelbaren zeitlichen Anschluss daran ein Handelsvertreterverhältnis zu begründen. Hierfür spielte für sie keine Rolle, dass der Beendigungstermin handschriftlich um einen Monat verschoben wurde.
Soweit der Kläger bestreitet, dass die nachträgliche Änderung von vertretungsberechtigten Mitarbeitern der Beklagten autorisiert waren, betrifft dies nicht den Formzwang gemäß § 623 Abs. 1 BGB. Im Übrigen steht dieses Bestreiten im Widerspruch zu seiner Behauptung in der Klageschrift, Seite 8, wonach die Personalabteilung vorgeschlagen habe, die Beendigungsdaten in Fällen wie dem Vorliegenden auf den 30.04.2017 abzuändern. Die Personalabteilung wäre zu einer entsprechenden Abänderung des Beendigungstermins berechtigt. Schließlich hätte die Beklagte die Abänderung jedenfalls nachträglich genehmigt, weil das Arbeitsverhältnis zum neuen Beendigungstermin entsprechend abgewickelt wurde (vgl. LAG Bremen, Urteil vom 08.09.2020 – 1 Sa 15/20 – unter II. 1.a) aa) der Gründe; LAG Düsseldorf, Urteil vom 24.06.2020 – 4 Sa 25/20 – unter II. a) b) bb) der Gründe).
(3) Jedenfalls wäre die Berufung auf den Formzwang des § 623 Abs. 1 BGB treuwidrig gemäß § 242 BGB.
Der Kläger selbst hat die Änderung des Beendigungstermins vorgenommen und mit seiner Unterschrift an die betreffende Stelle im Aufhebungsvertrag ausdrücklich sein Einverständnis damit erklärt. Die Parteien haben den Aufhebungsvertrag auch gemäß dieser Änderung abgewickelt. Der Kläger hat bis einschließlich April 2017 seine Vergütung und den Wechselzuschuss erhalten. Darüber hinaus hat der Kläger, wie im „Sozialplan Agentur der Zukunft“ vorgesehen, den Handelsvertretervertrag mit der Z. unter Übernahme seiner Kunden abgeschlossen. Auf Grund des Ausscheidens des Klägers am 30.04.2017 hat die Beklagte mit dem Wegfall des Arbeitsplatzes disponiert (vgl. auch LAG Düsseldorf, Urteil vom 24.06.2020 / 4 Sa 25/20 – II. 1. b) cc) der Gründe). Erst mit Klageschrift vom 24.04.2019 und damit über 24 Monate später hat sich der Kläger darauf berufen, dass der Aufhebungsvertrag gem. §§ 125, 126 Abs. 1 und 2, 623 Abs. 1 BGB nichtig sei.
bb) Der Aufhebungsvertrag ist nicht wegen Anfechtung von Anfang an nichtig, § 142 Abs. 1 BGB. Der Kläger hat ihn nicht wirksam mit Schreiben vom 04.05.2018 angefochten. Ein Anfechtungsgrund im Sinne des § 123 Abs. 1 BGB liegt nicht vor.
(1) Nach § 123 Abs. 1 BGB kann eine Willenserklärung anfechten, wer zu ihrer Abgabe durch arglistige Täuschung bestimmt worden ist. Der Tatbestand der arglistigen Täuschung gem. § 123 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass der Täuschende durch Vorspiegelung oder Entstellung von Tatsachen beim Erklärungsgegner einen Irrtum erregt und ihn zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst (vgl. BAG, Urteil vom 18.10.2000 – 2 AZR 380/99 – unter II. 1 der Gründe). Eine zur Anfechtung berechtigende arglistige Täuschung durch Unterlassung im Sinne von § 123 BGB begeht, wer bei Vertragsverhandlungen einen Umstand verschweigt, hinsichtlich dessen ihm gegenüber seinem Vertragspartner eine Aufklärungspflicht trifft. Eine Aufklärungspflicht besteht insbesondere dann, wenn die Abwägung der beiderseitigen Interessen unter Billigkeitsgesichtspunkten und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ergibt, dass der Arbeitnehmer durch eine sachgerechte und vom Arbeitgeber redlicherweise zu erwartende Aufklärung vor der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses bewahrt werden muss, weil er sich durch sie aus Unkenntnis selbst schädigen würde. Zwar muss sich der Arbeitnehmer vor Abschluss eines Aufhebungsvertrages regelmäßig selbst über die Folgen der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses Klarheit verschaffen. Den Arbeitgeber treffen aber jedenfalls dann erhöhte Hinweis- und Aufklärungspflichten, wenn er im betrieblichen Interesse den Abschluss eines Aufhebungsvertrags vorschlägt und dabei den Eindruck erweckt, er werde bei der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch die Interessen des Arbeitnehmers wahren und ihn nicht ohne ausreichende Aufklärung erheblichen Risiken für den Bestand seines Arbeitsverhältnisses aussetzen (BAG, Urteil vom 22.04.2004 – 2 AZR 281/03 – unter B I. 1. c) aa)).
Eine solche Hinweis- und Aufklärungspflicht der Arbeitgeberin über noch nicht abgeschlossene Sozialplanverpflichtungen besteht bei Abschluss eines Aufhebungsvertrags jedoch nicht, wenn nicht absehbar ist, der Arbeitnehmer werde dem Sozialplan unterfallen und durch ein Ausscheiden auf Grund des Sozialplans bessergestellt (vgl. BAG, Urteil vom 22.04.2004 – 2 AZR 281/03 – Leitsatz 3 und B. I. 1. c) cc) (1) der Gründe).
(2) Demnach hat die Beklagte den Kläger bei Abschluss des Aufhebungsvertrags vom 12.02./27.03.2017 nicht arglistig getäuscht.
Die Beklagte hat keine Aufklärungspflicht verletzt. Mit den Verhandlungen zum Abschluss des Sozialplans „SSY to lead“ war im Februar/März 2017 noch nicht begonnen worden. Nach der Information des Betriebsrats an die Belegschaft vom 28.09.2017 (Anlage B3) fand das erste Treffen mit der Beklagten zwecks Vereinbarung eines Sozialplans am 13.10.2017 statt. Deshalb konnte im Februar/März 2017 nicht sicher sein, dass der Kläger durch seine Regelungen bessergestellt werden würde. Dies gilt auch hinsichtlich der Vermutung des Klägers, die Mitbestimmungsorgane hätten sich nicht auf ein schlechteres Sozialplanvolumen als vorangegangen eingelassen. Damit verkennt der Kläger zum einen die Dynamik von Sozialplanverhandlungen und übersieht zum anderen, dass jedenfalls im Februar/März 2017 eine Entscheidung anhand klar bestimmbarer Parameter nicht möglich gewesen ist. Jedenfalls war für die Beklagte zu dem Zeitpunkt nicht erkennbar, dass der Kläger durch den Abschluss des Aufhebungsvertrages geschädigt worden wäre (vgl. LAG Bremen, Urteil vom 08.09.2020 – 1 Sa 15/20 – unter II. 1. a) bb) der Gründe). Dass schon im Februar/März 2017 wenigstens die Voraussetzungen für einen entsprechenden Beschluss des Vorstandes oder Verwaltungsrats bestanden hätten, legt der Kläger nicht dar. Allein durch die Behauptung des Klägers, ein gehäuftes Ausscheiden von Vorstandsmitgliedern sei mögliches Anzeichen eines Wechsels in der Geschäftspolitik, reicht nicht für die Annahme aus, dass dieses Ausscheiden zumindest wahrscheinlich auf ein fehlendes Einverständnis mit einer feststehenden Ausgliederung des Vertriebes und der Beendigung der Arbeitsverhältnisse der angestellten Vermittler zurückzuführen sei. Vielmehr trägt der Kläger selbst vor, dass zum Zeitpunkt des Aufhebungsvertrages noch erhebliche Widerstände seitens diverser Vorstandsmitglieder bestanden hätten, den gesamten Außendienst nach außen zu geben. Eine wirksame Beschlussfassung war also noch gar nicht möglich. Es bedurfte erst des Ausscheidens mehrerer Vorstandsmitglieder. Soweit der Lagebericht 2017 die Aussage enthält, der Aufsichtsrat habe sich „im Berichtsjahr … bereits sehr intensiv mit der neuen Strategie“ befasst, ist gerade nicht der Schluss zu ziehen, dass zum Zeitpunkt des Abschlusses der Aufhebungsvereinbarung des Klägers im Februar/März 2017 schon Beschlüsse gefallen wären, sondern nur, dass im gesamten Jahr 2017 Überlegungen und Erörterungen stattgefunden haben. Auch aus der Pressemitteilung vom 06.03.2017 ergibt sich nichts zugunsten des Klägers. Die Pressemitteilung beginnt mit den Worten „Noch ist keine Entscheidung gefallen“ und macht damit gerade deutlich, dass im Konzern der Beklagten Veränderungen angedacht und diskutiert wurden, dass aber eben noch keine Entscheidungen gefallen waren (vgl. LAG München, Urteil vom 16.09.2020 – 10 Sa 322/20 – unter I. a) bb) (3) der Gründe).
Darüber hinaus fehlt es an einem für die Anfechtung erforderlichen Irrtum des Klägers. Dem Kläger war bekannt, dass die Beklagte konzernweit die Umstrukturierung ihres Außendienstes im großen Maßstab plante. Bereits in der von ihm vorgelegten Anlage C1 vom Mai 2016 (= Bl. 421 ff. d. A.) betraf der „Sozialplan SSY“ „grundsätzlich“ den Innendienst, perspektivisch auch den Außendienst: „ggf. ergänzende Regelung für Außendienst“. In der „Eckpunkte- und erste Duldungsvereinbarung zum Projekt Agentur der Zukunft“ vom 11.08.2016 sind bereits weitreichende Änderungen im künftigen Außendienst skizziert worden. Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass ihm diese Vereinbarung nicht bekannt war. In der Präambel des Aufhebungsvertrags sind die Parteien übereingekommen, das Arbeitsverhältnis auf der Grundlage des „Sozialplans zum Projekt Agentur der Zukunft“ einvernehmlich zu beenden. In diesem Sozialplan wird auf die vorstehend genannte „Eckpunkte- und erste Duldungsvereinbarung zum Projekt Agentur der Zukunft“ mehrfach Bezug genommen. Zudem ist über einen möglichen Verkauf des X.-Exklusivvertriebs an die W. in der Presse bereits am 06.03.2017 und damit vor der Unterschrift des Klägers unter den Aufhebungsvertrag am 27.03.2017 informiert worden. Es ist realitätsfremd anzunehmen, dass der Bericht der Zeitschrift VersicherungswirtschaftHEUTE in der Betriebsöffentlichkeit nicht bekannt und diskutiert worden ist, mag auch der Kläger ihn nicht gelesen haben. Immerhin sind ca. 550 von ca. 1.380 Außendienstmitarbeitern ausgeschieden und allein in der Direktion V. 40 von 140 Mitarbeitern.
Schließlich hat nach eigenem Vortrag des Klägers der damalige Organisationsdirektor und Vorgesetzte der Direktion V. bei einer Besprechung mit allen Außendienstmitarbeitern Ende 2016 erklärt, wer nicht in die AGZ (Agentur der Zukunft) wechsele und den Wechselzuschuss nehme, bleibe Restangestellter, was ein aussterbendes Modell sei. Der Kläger war also sehr wohl darüber informiert worden, dass ein Verbleiben als „Restangestellter“ mit dem Risiko verbunden war, dass die Außendiensttätigkeit im Angestelltenverhältnis nicht dauerhaft fortgeführt werden würde, da diese Art der Beschäftigung als „aussterbend“ bezeichnet wurde. Der Kläger entschied sich also gerade in Kenntnis der Möglichkeit, dass die Beklagte ihren Außendienst insgesamt „aussterben“ lassen könnte, für den Wechsel in ein freies Handelsvertreterverhältnis (vgl. LAG München, Urteil vom 16.09.2020 – 10 Sa 322/20 – unter I. 1. a) bb) (2) der Gründe).
cc) Ergänzend stützt die Kammer ihre Entscheidung darauf, dass der Kläger seinen Abfindungsanspruch nach dem „Sozialplan SSY to lead“ auch nicht schlüssig dargelegt hat. Er hat weder vorgetragen, auf welcher Anspruchsgrundlage des Sozialplans SSY to lead noch nach welcher Berechnungsformel die von ihm geltend gemachte Abfindungszahlung begründet sein soll. Der als Anlage A9 vorgelegte Sozialplan ist der Sozialplan zum Programm SSY vom 30.04.2016, der nach Teil A, Ziff. II. 1. nur für die Arbeitnehmer der Gesellschaft im Innendienst und mithin nicht für den Kläger als Außendienstmitarbeiter gilt.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die geltend gemachte Zahlung als Schadens ersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 249 Abs. 1 BGB. Die Beklagte hat ihm gegenüber im Anschluss an die vorstehenden Ausführungen weder Aufklärungspflichten verletzt noch gegen ihre Fürsorgepflicht verstoßen.
3. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Nachteilsausgleich gemäß §§ 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG zu. Die Beklagte hat keine geplante Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG durchgeführt, ohne darüber mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich versucht zu haben.
a) Nach § 113 Abs. 3 BetrVG hat ein Arbeitnehmer dann einen Anspruch auf eine Ab findung, wenn der Arbeitgeber eine geplante Betriebsänderung durchführt, ohne zuvor über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben.
aa) Die Beklagte hatte nach unstreitigem Vortrag der Parteien etwa 2.000 Mitarbeiter, davon ca. 1.250 als Arbeitnehmer beschäftigte Außendienstmitarbeiter. Letzteren wurde angeboten das Arbeitsverhältnis zu beenden und in ein Handelsvertreterverhältnis überzuleiten, was ca. 550 Arbeitnehmer angenommen haben. Dies stellt eine interessenausgleichspflichtige betriebsübergreifende unternehmensweite Betriebsänderung dar.
bb) Entgegen der Ansicht des Klägers haben sich die Betriebspartner vor Durchführung der Maßnahme auch auf einen wirksamen Interessenausgleich geeinigt.
(1) Inhalt des von § 112 BetrVG geforderten Interessenausgleichs ist die Regelung der Frage, ob überhaupt, ggf. wann und in welcher Weise die vom Arbeitgeber geplante Betriebsänderung durchgeführt werden soll (ständige Rechtsprechung des BAG, z.B. Urteil vom 20.04.1994 – 10 AZR 186/93 – unter II. 1 der Gründe mit m. w. Nachw.). Nach § 112 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist der zwischen Unternehmer und Betriebsrat gefundene Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung schriftlich niederzulegen und von beiden Betriebspartnern zu unterschreiben (vgl. BAG, Urteil vom 20.04.1994 – 10 AZR 186/93 – unter II. 2 a) der Gründe mit m. w. Nachw.). § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG fordert jedoch nicht, dass der Interessenausgleich in einer gesonderten Urkunde niedergelegt und als solcher ausdrücklich bezeichnet wird. Es ist in der Betriebspraxis vielfach üblich, Interessenausgleich und Sozialplan in einer Urkunde niederzulegen, diese auch nur als Sozialplan zu bezeichnen oder andere Überschriften zu wählen. Regelungen, die nur Inhalt eines Interessenausgleichs sein können, werden als Sozialplan bezeichnet. Einigungen, die ihrem Inhalt nach einen Sozialplan darstellen, werden auch Interessenausgleich genannt (vgl. BAG, Urteil vom 20.04.1994 – 10 AZR 186/93 – unter II. 2 b) der Gründe). Von daher ist es allein entscheidend, ob die Einigung der Betriebspartner über das Ob und Wie einer geplanten Betriebsänderung oder eines Teils derselben schriftlich festgehalten ist und in dieser Urkunde mit ausreichender Deutlichkeit sichtbar wird. Dies bestimmt sich nach dem Inhalt der Einigung, die nach §§ 133, 157 BGB auszulegen ist. Es ist nicht nur der Wortlaut der Erklärungen entscheidend, sondern der wirkliche Wille der Vertragspartner, soweit er in der Erklärung noch seinen Niederschlag gefunden hat (vgl. BAG, Urteil vom 20.04.1994 – 10 AZR 186/93 – unter II. 2 b) der Gründe).
(2) Aus der Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass der „Sozialplan zum Projekt Agentur der Zukunft“ vom 08./12.12.2016 (Bl. 217 ff. d.A.) auch Regelungen enthält, die Inhalt eines Interessenausgleichs sind. So enthält die Präambel den Hinweis darauf, dass die vorgesehenen Maßnahmen abschließend in der Präambel der „Eckpunkte- und 1. Duldungsvereinbarung zum Projekt „Agentur der Zukunft““ vom 11.08.2016 dargestellt sind. In Teil B.I.1. wird sodann festgelegt, dass alle angestellten Vermittler, die sich am 01.07.2016 in einem ungekündigten und unbefristeten Anstellungsverhältnis befinden, das Angebot erhalten, freiwillig in ein freies Handelsvertreterverhältnis zu wechseln. Durch diese Regelung wird der Wunsch der Arbeitgeberin anerkannt, die im Projekt „Agentur der Zukunft“ vorgesehenen Maßnahmen durchzuführen und insbesondere allen angestellten Vermittlern den Wechsel in ein Handelsvertreterverhältnis zu ermöglichen; also das Vertriebsmodell – soweit freiwillig möglich – auf freie Handelsvertreter umzustellen. Dies reicht für die Annahme eines vereinbarten Interessenausgleichs aus (vgl. LAG München, Urteil vom 16.09.2020 – 10 Sa 322/20 – unter I. 3. a) bb) der Gründe).
(3) Dieser Interessenausgleich galt ab dem 01.01.2017 aufgrund des Betriebsübergangs für die Beklagte als Betriebsnachfolgerin gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB fort. § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB leitet die kollektivrechtlichen Bindungen des Veräußerers auf das Arbeitsverhältnis zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer über (vgl. ErfK/Preis, 20. Aufl. 2020, § 613 a BGB Rn. 112; ebenso LAG Düsseldorf, Urteil vom 26.06.2020 – 4 Sa 25/20 – unter II. 2. b) der Gründe); vgl. auch BAG, Beschluss vom 18.09.2002 – 1 ABR 54/01 – für den Fall, dass – wie hier – sämtliche Betriebe eines Unternehmens von einem anderen Unternehmen im Wege der Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge übernommen werden).
b) Darüber hinaus ist ein etwaiger Anspruch des Klägers auf Nachteilsausgleich ge mäß der Ausschlussfrist des § 24 Abs. 1 des MTV erloschen.
aa) Nach § 24 MTV für das private Versicherungsgewerbe verfallen „Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“, soweit sie nicht spätestens innerhalb von sechs Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses schriftlich geltend gemacht werden. Hiervon ausgenommen sind gemäß Abs. 1 Ansprüche aufgrund deliktischer Handlungen und gemäß Abs. 2 Ansprüche des Arbeitgebers aus der Einkommensregelung mit Angestellten des Außendienstes, insbesondere aus einer Provisionsvereinbarung. Nach der Rechtsprechung findet die mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses beginnende Ausschlussfrist des § 24 MTV für das private Versicherungsgewerbe zudem nicht auf Ansprüche Anwendung, die erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig werden (vgl. BAG, Urteil vom 19.12.2006 – 9 AZR 343/06 – Rn. 25 ff.).
bb) Nachteilsausgleichsansprüche im Sinne von § 113 Abs. 3 BetrVG sind „Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ im Sinne von § 24 MTV für das private Versicherungsgewerbe. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erfassen Verfallklauseln, die sich auf „Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ – wie vorliegend – beziehen, auch solche auf Nachteilsausgleich (BAG, Urteil vom 21.10.1997 -1 AZR 138/97 – unter II. 2. a) der Gründe). Denn es handelt sich bei dem Nachteilsausgleichsanspruch um einen gesetzlichen Anspruch, der seine Grundlage im Arbeitsverhältnis hat. Mit derartigen Formulierungen bringen die Tarifvertragsparteien ihren Willen zum Ausdruck, eine umfassende Bereinigung anzustreben und alle eventuell in Betracht kommenden Ansprüche der Ausschlussfrist zu unterwerfen. Dies entspricht dem Zweck einer solchen Frist, in angemessener Zeit Klarheit und Rechtsfrieden zwischen den Parteien des Arbeitsverhältnisses zu schaffen.
Bei der Formulierung der streitgegenständlichen Tarifnorm wird durch die Herausnahme zweier konkret benannter Fallkonstellationen, nämlich der deliktischen Ansprüche und der Ansprüche des Arbeitgebers aus der Einkommensregelung zum Ausdruck gebracht, dass eine umfassende Bereinigung angestrebt wird und alle anderen eventuell in Betracht kommenden Ansprüche der Ausschlussfrist unterworfen werden sollen.
Darüber hinaus wird der Nachteilsanspruch mit der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig. Auf diesen Zeitpunkt abzustellen rechtfertigt sich insbesondere aus der Funktion der Abfindung, im gewissen Umfang den Verlust des Arbeitsplatzes auszugleichen. Dieser Verlust tritt ein mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis (st. Rspr., vgl. BAG, Urteil vom 21.10.1997 -1 AZR 138/97 – unter II. 2. b) aa) der Gründe).
cc) Der MTV für das private Versicherungsgewerbe und damit auch § 24 ist wirksam durch die als „Vertragsgrundlagen“ überschriebene Ziffer 3 (vgl. Anlage B18, Bl. 244 ff. d. A.) in den Arbeitsvertrag der Parteien einbezogen worden. Danach finden auf das Arbeitsverhältnis die für die damalige Rechtsvorgängerin der Beklagten, die U., geltenden Tarifverträge in ihrer gültigen Fassung Anwendung. Dies stellt eine hinreichend klare und unmissverständliche Bezugnahme i. S. d. NachwG auf den allein in Betracht kommenden MTV für das private Versicherungsgewerbe dar. Darüber hinaus wird unter Ziffer 4 des Arbeitsvertrags ausdrücklich der Tarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe benannt, indem dort festgehalten ist, dass der Kläger ein Mindesteinkommen nach den jeweiligen Bestimmungen des Tarifvertrags für das private Versicherungsgewerbe erhält. Schließlich hat der Kläger in der Klageschrift selbst zur Berechnung seiner Kündigungsfrist auf den MTV für das private Versicherungsgewerbe Bezug genommen. Nach allem steht das NachwG der Anwendung des MTV für das private Versicherungsgewerbe nicht entgegen.
dd) Die sechsmonatige Ausschlussfrist des § 24 MTV für das private Versicherungsgewerbe lief aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.04.2017 am 30.10.2017 ab. Der Kläger hat den Nachteilsausgleichsanspruch erstmals mit dem Schriftsatz vom 29.10.2019 geltend gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war die Ausschlussfrist verstrichen. (vgl. LAG München, Urteil vom 16.09.2020 – 10 Sa 322/20 – unter I. 3.) der Gründe; LAG Bremen, Urteil vom 09.09.2020 – 1 Sa 15/20 – unter II. 3. der Gründe).
III.
Der Kläger hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels gemäß § 97 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 64 Abs. 6 ArbGG zu tragen.
IV.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 72 Abs. 2 ArbGG bestanden nicht.


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