Baurecht

Abwägung beim Eingriff in ein Überschwemmungsgebiet

Aktenzeichen  1 NE 16.1765

Datum:
10.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
WHG WHG § 77 S. 1
VwGO VwGO § 47 Abs. 6
WHG WHG § 77 S. 2

 

Leitsatz

Die Rückstellung der Belange des Hochwasserschutzes unter Festlegung notwendiger Ausgleichsmaßnahmen erfordert, dass dem Erhalt der Rückhalteflächen des Überschwemmungsgebiets überwiegende Gründe des Allgemeinwohls entgegenstehen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bebauungsplan „Am Inn – III“ wird bis zur Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug gesetzt.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I. Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen den Bebauungsplan „Am Inn – III“, den die Antragsgegnerin am 23. Februar 2016 beschlossen und am 29. April 2016 bekanntgemacht hat.
Der Bebauungsplan weist östlich angrenzend an ein bestehendes Mischgebiet, in dem der Antragsteller Eigentümer einer Doppelhaushälfte ist, mehrere Bauparzellen als Mischgebiet aus. Das Baugebiet liegt wie die bestehende Bebauung in den Innauen und wird im Süden und Westen vom Steinbach umflossen, der weiter im Norden in den Inn eingeleitet wird. Bei einem hundertjährlichen Hochwasser wird das Plangebiet ebenso wie die vorhandene Bebauung überschwemmt, weshalb das zuständige Wasserwirtschaftsamt in den nächsten Jahren Schutzmaßnahmen plant. Darüber hinaus fließt bei Starkregen von den landwirtschaftlich genutzten Flächen im Osten Oberflächenwasser in das Plangebiet und die angrenzende Bebauung.
Der Antragsteller, der im Normaufstellungsverfahren u. a. auf die Belange des vorbeugenden Hochwasserschutzes hingewiesen hat, beantragt, den Bebauungsplan außer Vollzug zu setzen, weil sein gleichzeitig erhobener Normenkontrollantrag zulässig und begründet sei und durch den Vollzug des Bebauungsplans schwere Nachteile drohten, die auch bei einem Erfolg des Normenkontrollantrags nicht rückgängig zu machen seien. Er sei antragsbefugt, weil im Rahmen der Abwägung auch sein Interesse zu berücksichtigen sei, von Veränderungen der Hochwassersituation verschont zu bleiben. Der Bebauungsplan sei unwirksam, weil die Antragsgegnerin gegen die Verpflichtung in § 77 Satz 1 WHG verstoßen habe, Überschwemmungsgebiete in ihrer Funktion als Rückhalteflächen zu erhalten. Überwiegende Gründe für die Bebauung der geschützten Fläche gebe es nicht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei trotz der Erklärung der Antragsgegnerin, auf die Veräußerung und Bebauung weiterer Parzellen vorerst zu verzichten, dringend geboten. Denn durch die Errichtung einer Gewerbehalle mit den dazu gehörenden Nebenanlagen auf der nördlichsten Bauparzelle, für die ein Freistellungsverfahren eingeleitet sei, würden sich die Fließwege des Oberflächenwassers verändern.
Die Antragsgegnerin tritt dem Antrag entgegen. Der Antragsteller sei nicht antragsbefugt, weil er nur allgemein auf Belange des Hochwasserschutzes hingewiesen habe. Da er gegen die nach Abschluss des Freistellungsverfahrens zulässige Errichtung der Halle auf der nördlichsten Bauparzelle nach § 123 VwGO vorgehen könne, fehle das Rechtsschutzbedürfnis für den vorliegenden Antrag. Jedenfalls sei nach dem Verzicht der Antragsgegnerin auf die Veräußerung und Bebauung weiterer Parzellen die Außervollzugsetzung des Bebauungsplans nicht mehr dringlich.
II. Der Antrag ist zulässig (1) und begründet (2).
1. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin fehlt dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht deshalb das Rechtsschutzinteresse, weil der Antragsteller gegen die Errichtung der Gewerbehalle nach § 123 VwGO vorgehen könnte. Angesichts des unterschiedlichen Streitgegenstands und Prüfungsumfangs der Verfahren kommt den Rechtsschutzmöglichkeiten nach § 80a Abs. 3 und § 123 VwGO nicht der Vorrang vor der einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu; vielmehr können die Verfahren grundsätzlich nebeneinander in Anspruch genommen werden (vgl. BayVGH, B.v. 3.1.2013 – 1 NE 12.2151 – BayVBl 2013, 406; zum Sonderfall, dass mit einer Baugenehmigung die Festsetzungen eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans vollständig umgesetzt worden sind: BayVGH, B.v. 10.8.2016 – 1 NE 16.1174 – juris).
Auch gegen die Antragsbefugnis des Antragstellers bestehen keine Bedenken. Da der Antragsteller substantiiert vorträgt, dass durch die Ausweisung der zusätzlichen Bebauung auch auf seinem Grundstück die Fließrichtung des wild abfließenden Oberflächenwassers sowie die Hochwassersituation nachteilig verändert werden, beruft er sich auf eigene, der Antragsgegnerin bekannte abwägungserhebliche Belange (vgl. BVerwG, U.v. 30.4.2004 – 4 CN 1.03 – NVwZ 2004, 1120). Dass das tatsächliche Vorliegen einer Rechtsverletzung offensichtlich ausscheidet (vgl. BVerwG, B.v. 8.6.2011 – 4 BN 42.10 – juris), lässt sich dem Vorbringen der Antragsgegnerin nicht entnehmen. Die Untersuchung der von ihr beauftragten Ingenieurgesellschaft vom 15. September 2016 belegt lediglich, dass die Gewerbehalle auf der nördlichsten Bauparzelle, die nach Abschluss des Freistellungsverfahrens zulässig errichtet werden kann, die Situation auf dem Grundstück des Antragstellers nicht verschlechtert, sofern die Fließwege nicht durch weitere Nebengebäude oder Zäune verändert werden. Dagegen zeigt die Abbildung 1 der Untersuchung aber zugleich, dass die weiteren, durch den angegriffenen Bebauungsplan zugelassenen Hauptgebäude als Abflusshindernisse für das Oberflächenwasser wirken.
2. Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen zwingend geboten ist. Prüfungsmaßstab bei Bebauungsplänen sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Erweist sich, dass der Normenkontrollantrag zulässig und voraussichtlich begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug des Bebauungsplans bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 – BauR 2015, 968).
Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischer Prüfung wird sich der angegriffene Bebauungsplan als unwirksam erweisen, weil er gegen § 77 Satz 1 WHG verstößt. Danach sind neben festgesetzten auch faktische Überschwemmungsgebiete (§ 76 Abs. 1 Satz 1 WHG) in ihrer Funktion als Rückhalteflächen zu erhalten. Dass das Plangebiet bei einem hundertjährlichen Hochwasser des Steinbachs überschwemmt wird und die durch den angegriffenen Bebauungsplan zugelassene Bebauung die Rückhaltefunktion dieser Flächen beeinträchtigt, wird auch von der Antragsgegnerin nicht in Frage gestellt. Entgegen ihrer Auffassung stehen der Erhaltung des Überschwemmungsgebiets allerdings keine überwiegenden Gründe des Wohls der Allgemeinheit entgegen, die es nach § 77 Satz 2 WHG erlauben, die Belange des Hochwasserschutzes unter Festlegung der notwendigen Ausgleichsmaßnahmen zurückzustellen. Die Vorschrift lässt einen Eingriff in Überschwemmungsgebiete nicht bereits dann zu, wenn bei einem Verzicht auf die Bebauung das Wohl der Allgemeinheit beeinträchtigt wird oder wenn durch Ausgleichsmaßnahmen eine Schmälerung der Leistungsfähigkeit des natürlichen Rückhaltevermögens verhindert werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 27.4.2004 – 26 N 02.2437 – NuR 2005, 109; B.v. 25.9.2004 – 15 ZB 02.2958 – BayVBl 2005, 151). Vielmehr müssen dem Erhalt der Rückhalteflächen des Überschwemmungsgebiets überwiegende Gründe des Wohls der Allgemeinheit entgegenstehen. Ob über das Vorliegen derartiger Gründe im Rahmen einer planerischen Abwägung (vgl. BayVGH, U.v. 27.4.2004 a. a. O.) oder – wofür angesichts der Normstruktur des § 77 WHG mehr spricht – in einer die gesetzlichen Vorgaben nachvollziehenden Weise zu entscheiden ist, wobei diese Entscheidung der vollen Kontrolle der Verwaltungsgerichte unterliegt (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2001 – 4 C 3.01 – NVwZ 2002, 1112 zu § 35 Abs. 1 BauGB), kann vorliegend offen bleiben. Denn die nicht näher belegte Feststellung der Antragsgegnerin im Gemeinderatsbeschluss vom 19. Januar 2016, dass keine anderen Mischgebietsflächen im Gemeindegebiet mehr zur Verfügung stehen, erweist sich allein als nicht ausreichend, um den Eingriff in das Überschwemmungsgebiet zu rechtfertigen. Das gilt umso mehr, als in der Sitzung des Gemeinderats vom 23. Februar 2016 davon die Rede war, dass Standortalternativen für ein Mischgebiet nicht nur an öffentlichen Belangen (Wasserschutzgebiet, Landschaftsschutzgebiet, FFH-Flächen), sondern auch an Bürgerprotesten scheitern würden, die zu vermeiden ersichtlich keinen überwiegenden öffentlichen Belang darstellt. Darüber hinaus würde der angegriffene Bebauungsplan selbst dann, wenn überwiegende Gründe des öffentlichen Wohls für die Bebauung der Innauen sprächen, den Anforderungen des § 77 Satz 2 WHG nicht entsprechen, weil die notwendigen Ausgleichsmaßnahmen nicht verbindlich getroffen sind. Ungeachtet der Frage, ob die Errichtung des Erdwalls, der der Ableitung des wild abfließenden Oberflächenwassers dient, auch den durch die Bebauung eintretenden Verlust an Rückhalteflächen kompensieren kann, sind im Bebauungsplan keine Flächen für die Regelung des Wasserabflusses (§ 9 Abs. 1 Nr. 16 BauGB) festgesetzt.
Der Erlass der einstweiligen Anordnung ist auch aus wichtigen Gründen dringend geboten. Daran vermag die Erklärung der Antragsgegnerin nichts zu ändern, mindestens bis zur Umsetzung der vorgesehenen Schutzmaßnahmen gegen Hochwasser und wild abfließendes Oberflächenwasser keine weiteren Bauparzellen zu veräußern und auf diese Weise vorerst die weitere Bebauung des Plangebiets zu verhindern. Da mit der von der Antragsgegnerin vor Abschluss des Normenkontrollverfahrens angestrebten Errichtung des Erdwalls östlich des Plangebiets und der damit im Zusammenhang stehenden Erschließungsstraße nur schwer rückgängig zu machende Veränderungen des Überschwemmungsgebiets verbunden sind, denen bei Erfolg des Normenkontrollantrags die Rechtsgrundlage entzogen wird, ist der Erlass der einstweiligen Anordnung im öffentlichen Interesse dringend geboten.
In entsprechender Anwendung von § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO hat die Antragsgegnerin Nummer I der Entscheidung in derselben Weise zu veröffentlichen wie den angegriffenen Bebauungsplan.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts aus § 52 Abs. 1 und 8, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.


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