Baurecht

Abweichung von den erforderlichen Abstandsflächen

Aktenzeichen  Au 5 K 17.569

Datum:
14.12.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 113 Abs. 1 Satz 1
BauGB BauGB § 34
BayBO BayBO Art. 71
BayBO BayBO Art. 63 Abs. 1
BayBO BayBO Art. 6

 

Leitsatz

1 Wird durch einen Anbau eine neue einheitliche Außenwand hergestellt, die auch horizontal oder vertikal versetzt sein kann, so ist eine abstandsflächenrechtliche Betrachtung der gesamten Außenwand erforderlich, d.h. auch der vorhandene Altbestand muss ebenso wie der hinzugekommene Wandteil die Anforderungen des Art. 6 BayBO erfüllen, selbst wenn der Altbestand im Zeitpunkt seiner Errichtung keinen vergleichbaren Anforderungen unterworfen war oder wenn er die zum damaligen Zeitpunkt geltenden Anforderungen erfüllt hat (vgl. BayVGH BayVBl. 1989, 721; BeckRS 1990, 08721). (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es kann nicht von einer Gleichwertigkeit des Abstandsflächenverstoßes ausgegangen werden, wenn für den auf dem Grundstück des Bauherrn vorhandenen baulichen Altbestand die gesetzlich geforderte Abstandsfläche in einem Umfang von ca. 120 bis 125 m² auf das Grundstück des Nachbarn fällt, umgekehrt die für das Gebäude des Nachbarn erforderliche Abstandsfläche im Umfang von etwa 90 m² auf das Grundstück des Bauherrn fällt und für einen geplanten Anbau des Bauherrn nochmals ca. 25 bis 30 m² auf das Grundstück des Nachbarn fallen. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Vorbescheid der Beklagten vom 27. März 2017 wird insoweit aufgehoben, als darin die mit Bauantrag vom 13. April 2016 gestellten Fragen hinsichtlich Haus B positiv beantwortet wurden.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger Vorsicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Vorbescheid der Beklagten vom 27. März 2017 ist insoweit rechtswidrig und geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen, als darin die planungsrechtliche Zulässigkeit der Errichtung von Haus B unter Erteilung einer Abweichung von den geltenden Abstandsflächenvorschriften (Art. 6 BayBO) in Aussicht gestellt wurde (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Für Rechtsbehelfe gegen den auf der Grundlage des Art. 71 BayBO erteilten Vorbescheid gelten dieselben Grundsätze wie für Rechtsbehelfe gegen die Baugenehmigung selbst (Decker in Simon/Busse, BayBO, Stand: Mai 2017, Art. 71 Rn. 149).
Bei der Klage eines Dritten – hier eines baurechtlichen Nachbarn – hat dieser aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nämlich nicht schon dann einen Anspruch auf Aufhebung des an einen anderen – hier die Beigeladene – gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt, wenn dieser lediglich objektiv rechtswidrig ist; vielmehr muss sich die Rechtswidrigkeit gerade aus solchen Normen ergeben, die zum behördlichen Prüfungsumfang gehören (vgl. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO; BayVGH, B.v. 10.10.2013 – 15 ZB 11.1480 – juris Rn. 9) und zugleich auch dem Schutz dieses Dritten dienen (sogenannte Schutznormtheorie) (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Eine Rechtsverletzung des Klägers durch den streitgegenständlichen Vorbescheid kommt daher nur in Betracht, soweit die darin getroffenen Feststellungen zur bauplanungsrechtlichen bzw. bauordnungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens gegen den nachbarschützenden Gehalt der im Verfahren geprüften Normen verstoßen. Dies ist vorliegend nach Auffassung der Kammer der Fall. Der Kläger wird durch die in Aussicht gestellte Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO, Art. 6 BayBO) in seinen Rechten verletzt. Folge der aus Sicht der Kammer nicht vorliegenden Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung auf der Grundlage von Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist, dass das Bauvorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt und insoweit auch planungsrechtlich in der zur Prüfung der Genehmigungsfähigkeit gestellten Ausführung, wie sie den streitgegenständlichen Bauvorbescheid vom 27. März 2017 zugrunde liegt, gegen nachbarschützende Bestimmungen verstößt.
2. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des mit dem Vorbescheid der Beklagten vom 27. März 2017 für genehmigungsfähig erachteten Bauvorhabens der Beigeladenen richtet sich vorliegend nach § 34 Abs. 1 bzw. 2 BauGB, wonach innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig ist, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es sich innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn es keine „städtebauliche Spannungen“ hervorruft (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – BayVBl. 1979, 152 ff.).
a) Ein Erfolg der Klage ergibt sich nicht bereits aus der von der Beigeladenen beabsichtigten künftigen Wohnnutzung auf dem Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung …. Hinsichtlich der Art der künftigen baulichen Nutzung des Grundstücks ist dieses bauplanungsrechtlich zulässig. Es hält sich innerhalb der in der näheren Umgebung vorzufindenden Variationsbreite prägender Nutzungen. Der in § 34 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BauGB verwendete Begriff der näheren Umgebung stellt dabei auf die wechselseitige Prägung von Bauvorhaben und Umgebung ab. Maßgeblich ist insoweit das Straßengeviert, in welches das künftige Bauvorhaben eingebettet ist. Dieses wird vorliegend nach Auswertung der Luftbildaufnahmen und Katasterpläne gebildet aus,, … und der Straße „…“. Hier findet sich zum weit überwiegenden Teil reine Wohnnutzung. Unabhängig von der Frage, ob sich die nähere Umgebung als (faktisches) allgemeines oder reines Wohngebiet darstellt, ist die von der Beigeladenen geplante Wohnnutzung jedenfalls allgemein zulässig (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 1 bzw. § 3 Abs. 2 Nr. 1 BaunutzungsverordnungBauNVO). Im Übrigen könnte nach § 34 Abs. 3a Satz 1 BauGB vom Erfordernis des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung im Einzelfall abgewichen werden, wenn die Abweichung unter anderem der Erweiterung, Änderung oder Erneuerung einer zulässigerweise errichteten, Wohnzwecken dienenden baulichen Anlage dient (Nr. 1), städtebaulich vertretbar (Nr. 2) und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist (Nr. 3). Bezüglich der Art der beabsichtigten künftigen Nutzung hat der Kläger aber auch bereits keine Einwände erhoben.
Ob im Hinblick auf die Höhenentwicklung des geplanten Haus B ein Verstoß des angegriffenen Bauvorbescheids hinsichtlich des Kriteriums des „Einfügens“ bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung (§ 34 Abs. 1 BauGB, §§ 16 bis 21 BauNVO) gegeben ist, kann vorliegend dahinstehen. Die das Maß der baulichen Nutzung betreffenden Vorschriften vermitteln grundsätzlich keinen Nachbarschutz, weil sie in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und – anders als die Bestimmungen über die Art zulässiger Nutzungen – kein nachbarliches Austauschverhältnis betroffener Grundstücke begründen. Regelungen über das Maß der baulichen Nutzung sind grundsätzlich ausschließlich im öffentlichen Interesse an der Erhaltung und Fortentwicklung der städtebaulichen Ordnung erlassen und nicht (auch) dem Schutz der Nachbarn zu dienen bestimmt (vgl. BVerwGE, B.v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – BauR 1996,83 f.; BayVGH, B.v. 25.1.2013 – 15 ZB 13.68 – juris).
b) Die von der Beigeladenen geplante Erweiterung (Anbau) des vorhandenen Altbestandes auf Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung … verstößt jedoch nach Auffassung der Kammer gegen das Gebot der Rücksichtnahme, da insbesondere die Voraussetzungen für die von der Beklagten in Aussicht gestellte Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen (Art. 6 BayBO) nicht gegeben sind.
Die im Rahmen des Rücksichtnahmegebots vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Auswirkungen eines Vorhabens auf das Nachbargrundstück sind unzumutbar, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit der Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was der Nachbar billigerweise hinnehmen muss, überschritten wird (vgl. BayVGH, B.v. 15.7.2011 – 14 CS 11.814 – juris Rn. 20). Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots kommt vor allem dann in Betracht, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten bzw. in Aussicht gestellten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird (BayVGH, B.v. 15.7.2011, a.a.O.). Eine solche „einmauernde“ oder „erdrückende“ Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwGE, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris). Ob der beabsichtigte Anbau von Haus B an den vorhandenen Altbestand mit einer Höhe von 11,705 (Oberkante Attika) bzw. 12,55 (OK Dachterrasse) eine „erdrückende“ Wirkung auf das Wohngebäude des Klägers hat, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn jedenfalls führt die von der Beklagten in Aussicht gestellte Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächenvorschriften (Art. 6 BayBO) zu einer Verletzung des Klägers in eigenen Rechten. Die Voraussetzungen für eine nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erforderlich werdende Abweichung liegen nach Auffassung der Kammer nämlich nicht vor.
Im Hinblick auf die im Vorbescheidsverfahren erfolgte Fragestellung und die von der Beklagten hierauf in Aussicht gestellte Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO gehört das Abstandsflächenrecht des Art. 6 BayBO gemäß Art. 71 Satz 4 BayBO, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO zum Prüfumfang des hier in Streit stehenden Bauvorbescheides der Beklagten. Dies gilt unabhängig davon, dass für das Bauvorhaben selbst (Haus B) ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO durchzuführen ist, da das beantragte Vorhaben keinen Sonderbau im Sinne von Art. 2 Abs. 4 BayBO darstellt.
Bei der Zulassung einer Abweichung von einer dem Nachbarschutz dienenden Vorschrift des Bauordnungsrechts kann der Nachbar nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen, sondern ist er auch dann bereits in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grunde objektiv rechtswidrig ist (BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 17). Die Vorschriften des Abstandsflächenrechts dienen ihrer Gesamtheit dem Schutz der Nachbarn (BayVGH, U.v. 14.10.1985 – 14 B 85 A. 1224 – BayVBl. 1986, 143 ff.).
Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Während bei bautechnischen Anforderungen der Zweck der Vorschriften vielfach auch durch eine andere als die gesetzlich vorgesehene Bauausführung gewahrt werden kann, wird der Zweck des Abstandsflächenrechts, der vor allem darin besteht, eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude zu gewährleisten und die für Nebenanlagen erforderlichen Freiflächen zu sichern, regelmäßig nur dann erreicht, wenn die Abstandsflächen in dem gesetzlich festgelegten Umfang eingehalten werden. Da somit jede Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO zur Folge hat, dass die Ziele des Abstandflächenrechts nur unvollkommen verwirklicht werden, setzt die Zulassung einer Abweichung Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (BayVGH, B.v. 13.2.2002 – 2 CS 01.1506 – juris Rn. 16; B.v. 15.11.2005 – 2 CS 05.2817 – juris Rn. 2; B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; U.v. 22.12.2011 – 2 B 11.2231 – BayVBl. 2012, 535). Diese kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben (BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16; B.v. 22.9.2006 – 25 ZB 01.1004 – juris Rn. 4). In solchen Lagen kann im Einzelfall auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung rechtfertigen.
Weitere Voraussetzung ist die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung nachbarlicher Interessen. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz – wie beim bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme – eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründern und den Belangen des Nachbarn (BayVGH, B.v. 17.7.2007, a.a.O., juris Rn. 17). Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich dabei nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (BayVGH, B.v. 17.7.2007, a.a.O., juris Rn. 20).
Dies zugrunde gelegt ergibt sich vorliegend, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gegeben sind. Dies insbesondere aufgrund der Tatsache, dass vorliegend zunächst eine abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung von Altbestand und geplantem Anbau (Haus B) geboten ist.
(1) Wenn bestehende Gebäude, die die nach geltendem Recht einzuhaltenden Abstandsflächen nicht wahren, baulich geändert werden, ist abstandsflächenrechtlich eine Gesamtbetrachtung des neuen Gebäudes als Einheit vorzunehmen. Dies gilt auch dann, wenn die Änderung für sich genommen abstandsflächenneutral ist bzw. wäre (vgl. OVG LSA, U.v. 9.11.2016 – 2 L 10/15 – juris Rn. 41). Eine bauliche Änderung ist in einem solchen Fall regelmäßig nur dann zulässig, wenn auch der Altbestand nach geltendem Abstandsflächenrecht genehmigungsfähig ist. Da vorliegend nicht lediglich eine Nutzungsänderung des auf dem Grundstück Fl.Nr. … vorhandenen Altbestandes in Frage steht, sondern vielmehr ein Anbau mit einer isoliert betrachteten Länge von 11,74 Metern ist die Frage der Einhaltung der Abstandsflächen (Art. 6 BayBO) erneut zu prüfen.
Vorliegend ist eine abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung von Altbestand und geplantem Anbau (Haus B) vorzunehmen. Wird durch einen Anbau eine neue einheitliche Außenwand hergestellt, die auch horizontal oder vertikal versetzt sein kann, so ist eine abstandsflächenrechtliche Betrachtung der gesamten Außenwand erforderlich, d.h. auch der vorhandene Altbestand muss ebenso wie der hinzugekommene Wandteil die Anforderungen des Art. 6 BayBO erfüllen, selbst wenn der Altbestand im Zeitpunkt seiner Errichtung keinen vergleichbaren Anforderungen unterworfen war oder wenn er die zum damaligen Zeitpunkt geltenden Anforderungen erfüllt hat (vgl. BayVGH, U.v. 20.12.1988 – 20 B 88.00137 – BayVBl. 1989, 721; U.v. 20.2.1990 – 14 B 8802464 – BayVBl. 1990, 500). Ob eine neue einheitliche Außenwand nach der Änderung vorliegt, ist unter Berücksichtigung technischer und funktioneller Gesichtspunkte aufgrund einer natürlichen Betrachtungsweise festzustellen. Entscheidend für die abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung ist dabei zunächst eine Veränderung der für die Ermittlung der Abstandsflächentiefe relevanten Merkmale; dazu gehören die Wandhöhe und die Wandlänge, insbesondere im Zusammenhang mit dem in Art. 6 Abs. 6 BayBO geregelten 16-Meter-Privileg. Es ist daher zu prüfen, ob die Änderung die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange (Belichtung, Belüftung, Wohnfrieden) im Vergleich zum bisherigen Zustand negativ beeinflussen kann. Ist eine Verschlechterung der abstandsflächenrechtlichen Situation nicht erkennbar, so bedarf die Änderung keiner abstandsflächenrechtlichen Gesamtbeurteilung (vgl. BayBGH, B.v. 9.10.2003 – 25 CS 03.897 – BayVBl. 2004, 149).
Bei der gebotenen natürlichen Betrachtungsweise entsteht hier auf der östlichen, dem Kläger zugewandten Seite des geplanten Baukörpers bestehend aus Altbestand und Anbau (Haus B) eine abstandsflächenrechtlich einheitlich zu beurteilende Außenwand. Dies gilt ungeachtet der unterschiedlichen Höhe von Altbestand und Neubau sowie dem zwischen Altbau und Anbau vorgesehenen Versatz im Umfang von 0,4 Meter.
Die abstandsflächenrechtlich gebotene Gesamtbetrachtung schließt die Anwendung des in Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO geregelten 16-Meter-Privilegs aus. Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO genügt vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 Meter Länge als Tiefe der Abstandsflächen die Hälfte der nach Art. 6 Abs. 5 BayBO erforderlichen Abstandsflächentiefe, mindestens jedoch drei Meter. Ist die abstandsflächenrelevante Außenwand – wie hier – bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung länger als 16 Meter, so müssen die einzelnen Wandteile jeweils die volle Abstandsflächentiefe (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO) einhalten. Nicht möglich ist es hingegen, eine einheitliche Außenwand so aufzuteilen, dass auf einer Länge von 16 Meter nur die halbierte Abstandsflächentiefe aus Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO eingehalten wird und für den übrigen Außenwandteil eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilt wird.
Ebenfalls ausgeschlossen ist es, für den geplanten Anbau an Haus B die Regelung in Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO heranzuziehen, wonach in Kerngebieten eine Tiefe von 0,5 H als Abstandsfläche genügt. Die maßgebliche nähere Umgebung stellt sich hier bereits nicht als Kerngebiet im Sinne von § 7 Abs. 1 BauNVO dar. Auch liegt keine abweichende Regelung der Beklagten gemäß Art. 6 Abs. 7 Nr. 2 BayBO vor, wonach die Tiefe der Abstandsfläche durch Satzung auf 0,4 H beschränkt werden kann. Damit verbleibt es für die aus Altbestand und Anbau Haus B entstehende einheitliche Außenwand des Baukörpers bei der grundsätzlich gebotenen Beachtung des Maßes von 1 H aus Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO.
(2) Vorliegend hält weder der auf dem Grundstück Fl.Nr. … vorhandene Altbestand noch der geplante Anbau von Haus B die gesetzlich geforderte Abstandsfläche von 1 H zum Grundstück des Klägers ein. Dieser Umstand ist isoliert für sich betrachtet jedoch noch nicht geeignet, die für die Erteilung einer Abweichung von den gesetzlichen Abstandsflächen erforderliche Atypik zu verneinen.
In Fällen, in denen wie hier auf dem klägerischen Grundstück selbst Gebäude stehen, die die Abstandsflächen zum Grundstück der Beigeladenen nicht einhalten, ist ein Nachbar nach dem Grundsatz von Treu und Glauben daran gehindert, die Verletzung nachbarschützender Vorschriften zu rügen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück nicht diesen Vorschriften entspricht und wenn die beiderseitigen Abweichungen von den gesetzlichen Abstandsflächen etwa gleichgewichtig sind und nicht – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – zu schlechthin untragbaren, als Misstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.531 – juris Rn. 37). Bei der Frage, ob wechselseitige Verletzungen der Abstandsflächenvorschriften annähernd gleichgewichtig sind, ist keine zentimetergenaue quantitative Entsprechung gefordert, sondern es ist eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der mit der Verletzung der Abstandsflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen anzustellen (vgl. VG Ansbach, U.v. 15.11.2017 – AN 9 K 16.00651 – juris Rn. 41). Ebenfalls ist für die zutreffende Entscheidung irrelevant, ob die baulichen Anlagen auf dem Grundstück des klagenden Nachbarn seinerzeit in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften errichtet worden sind. Dieser Umstand ist nicht geeignet, dem Vorwurf einer unzulässigen Rechtsausübung entfallen zu lassen (vgl. BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn.10).
Dies zugrunde gelegt kann vorliegend bei Verwirklichung der streitgegenständlichen Variante von Haus B nicht von einer Gleichwertigkeit des Abstandsflächenverstoßes ausgegangen werden. Für den auf dem Grundstück der Beigeladenen vorhandenen baulichen Altbestand fällt bei einer maßgeblichen Höhe der baulichen Anlage von 15,82 Metern die gesetzlich geforderte Abstandsfläche in einem Umfang von ca. 120 bis 125 m² auf das Grundstück des Klägers. Umgekehrt fällt für die für das Gebäude des Klägers erforderliche Abstandsfläche (abstandsflächenrelevante Höhe von ca. acht Meter) im Umfang von etwa 90 m² auf das Grundstück der Beigeladenen. Für den geplanten Anbau (Haus B) fallen nochmals ca. 25 bis 30 m² auf das Grundstück des Klägers.
Wenn man anstelle der Flächenbetrachtung vom jeweils gebotenen Maß H ausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 40), ergibt sich Folgendes. Der Altbestand der Beigeladenen, soweit er nicht als unmittelbarer Grenzanbau verwirklicht ist, liegt an der nördlichen Gebäudeabschlusskante mit 0,67 H auf dem Grundstück des Klägers. An der südlichen Gebäudeabschlusskante liegt das Maß H zu 0,87 auf dem Grundstück des Klägers. Umgekehrt betrachtet fällt die erforderliche Abstandsfläche für das Wohnhaus des Klägers an der nördlichen Gebäudeseite mit 0,75 H auf das Grundstück der Beigeladenen. An der südlichen Gebäudeabschlusskante befinden sich 0,63 H auf dem Grundstück der Beigeladenen. Die isoliert an Maß H ausgerichtete Betrachtung führt vorliegend allerdings nicht zu aussagekräftigen Ergebnissen in Bezug auf das Vorliegen einer Atypik, da die wechselseitige Überschreitungen des Maßes H wesentliche Folge des nichteinheitlichen Grenzverlaufes zwischen den betroffenen Grundstücken sowie der Anordnung des Altbestandes (nach Westen orientiert) auf Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung … sind.
Unter Berücksichtigung des wechselseitig vorliegenden Abstandsflächenverstoßes liegt kein atypischer Fall vor, der eine Abweichung zulässt. Jedenfalls gilt dies für die von der Beigeladenen im streitgegenständlichen Bauvorbescheidsverfahren gewählte und als von der Beklagten als genehmigungsfähig beurteilte Variante des Anbaus von Haus B.
Von Bedeutung ist bei der Beurteilung des Vorliegens der erforderlichen Atypik insbesondere, ob eine sinnvolle Ausnutzung des Baugrundstücks unter Beachtung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO unmöglich oder unzumutbar ist (BayVGH, B.v. 30.8.2011 – 15 CS 11.1640 – juris Rn. 16). Zu berücksichtigen ist weiter, dass tatsächlich vorhandene abstandsflächenwidrige Bebauungsverhältnisse, wie sie vorliegend festzustellen sind, nach Möglichkeit bereinigt und nicht verewigt werden sollen (vgl. BayVGH, U.v. 22.11.2006 – 25 B 05.1714 – BayVBl. 2007, 276), weshalb eine Abstandsflächenüberschreitung durch einen Altbestand als solche und für sich allein nicht geeignet ist, die nach Art. 63 Abs. 1 BayBO erforderliche Atypik zu begründen. Die erforderliche Atypik ist in Bezug auf die Einhaltung der Abstandsflächen des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO nicht stets allein schon deshalb gegeben, weil das Vorhaben Außenwände eines Altbestandes einbezieht, der seinerseits die Abstandsflächenvorschrift nicht einhält (BayVGH, B. v. 23.5.2005 – 25 ZB 03.881 – juris Rn.8). Die gesetzlichen Ziele, ein bestimmtes Mindestmaß an Belichtung, Belüftung und Wohnfrieden sicherzustellen, gelten vielmehr für Neubauten und Umbauten / Anbauten gleichermaßen. Das der Bauherr dadurch vor die Wahl gestellt ist, entweder seinen vom Gesetz abweichenden Altbestand im bisherigen Umfang weiter zu nutzen oder bei einer neuen Genehmigung das geltende Recht einzuhalten, ist im Gesetz selbst angelegt und kann nicht als anormaler, nicht bedachter Ausnahmefall angesehen werden (BayVGH, B.v. 23.5.2005, a.a.O.). Das Vorhandensein eines Altbestandes stellt lediglich eine objektive Gegebenheit dar, die bei Hinzutreten weiterer objektiver Umstände – z.B. Anforderung der Stadtgestaltung – im Einzelfall eine Atypik begründen kann.
Gemessen an diesen Maßstäben liegt nach Auffassung der Kammer jedenfalls in der beabsichtigten Bauausführung von Haus B kein atypischer Fall vor, der eine Abweichung zulässt. Die Kammer vermag eine atypische Sondersituation nicht zu erkennen. Bereits der dem Gebäude des Klägers gegenüberliegende Altbestand mit einer abstandsflächenrechtlich relevanten Höhe von 15,82 m nutzt die in ihm angelegten wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten unter relevanter Verkürzung der Abstandsflächen zum Grundstück des Klägers aus.
Entscheidend gegen das Vorliegen einer Atypik in der vorgeschlagenen Bauausführung spricht insbesondere, dass der Anbau unter Herstellung einer einheitlichen Außenwand auf der dem Wohngebäude des Klägers gegenüberliegenden Seite unter Vertiefung des bereits vorhandenen erheblichen Abstandsflächenverstoßes des Altbestandes zusätzliche Bausubstanz schaffen soll und der Anbau gerade nicht Folge einer durch den Altbestand vorgegebenen Zwangslage ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2005 – 25 ZB 03.881 – a.a.O.). Auch verhält es sich gerade nicht so, dass das Grundstück der Beigeladenen eine irgendwie geartete Bebauung nicht zuließe bzw. die Nutzung des vorhandenen Altbestandes nicht auch in einer abstandsflächenrechtlich verträglicheren baulichen Lösung durch weiteres Abrücken von Haus B am klägerischen Grundstück verwirklicht werden könnte. Insbesondere bleibt festzuhalten, dass das Grundstück Fl.Nr. … der Beigeladenen durchaus, wenn auch in geringerem Umfang, bebaubar ist. Zum einen ist hier auf den bereits vorhandenen Altbestand als auch auf die nachbarrechtlich unproblematische Bebauung mit Haus A zu verweisen. Überdies wäre ein Anbau im Osten des Grundstücks baurechtlich denkbar, der den vorgegebenen Abstandsflächenverstoß nicht vertieft bzw. perpetuiert. Dies wäre durch ein weiteres Abrücken von Haus B von der gemeinsamen Grundstücksgrenze zum Kläger erreichbar. Wenn Ziel der künftigen Bebauung – wie hier – die Schaffung zusätzlicher Bausubstanz und neuen Wohnraumes sein soll, hat dieser, um das Vorliegen einer Atypik zu begründen, nachbarverträglich zu erfolgen. Dies lässt der hier in Streit stehende Anbau von Haus B in der gewählten Ausführungsvariante vermissen. Das Erfordernis größtmöglicher Nachbarverträglichkeit folgt hier insbesondere aus der Tatsache, dass zwischen dem Altbestand auf dem Grundstück der Beigeladenen und dem Wohngebäude des Klägers eine deutliche, optisch wahrnehmbare Zäsur in der vorhandenen Baustruktur stattfindet. Es erfolgt gerade an der gemeinsamen Grundstücksgrenze der Übergang von sehr hohen, unmittelbar zur … ausgerichteten Gebäuden zu zwei den Abschluss der Bebauung bildenden, deutlich niedrigeren und räumlich abgesetzten Wohngebäuden, wobei das Wohnhaus des Klägers am unmittelbaren Übergang der unterschiedlichen Baustrukturen gelegen ist. Verschärft wird dieser Eindruck noch dadurch, dass das Wohngebäude des Klägers geländetopografisch noch ca. einen Meter tiefer gelegen ist als der Altbestand auf dem Grundstück der Beigeladenen. Auch dieser letztgenannte Umstand begründet letztlich, dass die gewählte Bauausführung, wie sie dem Bauvorbescheid der Beklagten vom 27. März 2017 zugrunde liegt, keine atypische Grundstückssituation, wie sie für die Erteilung einer Abweichung erforderlich wäre, in Anspruch nehmen kann. In der gewählten Bauausführung kann der Anbau von Haus B nicht als anormaler, vom Gesetzgeber nicht bedachter Ausnahmefall angesehen werden. Hieraus folgt auch die Unzulässigkeit des im streitgegenständlichen Bauvorbescheid behandelten Vorhabens im Übrigen.
Nach allem war der streitgegenständliche Bauvorbescheid der Beklagten vom 27. März 2017 daher betreffend der in Aussicht gestellten Genehmigung in Haus B aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Nachdem die Beigeladene im Verfahren keinen Antrag auf Klageabweisung gestellt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst zu tragen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO). Eine Kostenauferlegung gemäß § 154 Abs. 3 VwGO scheidet mangels Antragstellung im Verfahren aus.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).


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