Baurecht

Abweichung von der Einhaltung einer Abstandsfläche

Aktenzeichen  9 CS 16.2278

Datum:
21.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 3 Abs. 1, Art. 6, Art. 63 Abs. 1 S. 1
BauGB BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
BauNVO BauNVO § 23 Abs. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

Bei einem in einem historischen Ortskern, der von dichter und grenzständiger Bebauung auf schmalen, aber tiefen Grundstücken geprägt ist, gelegenen Grundstück, welches mit einem an drei Seiten grenzständig errichteten Gebäude bebaut ist, liegt ein atypischer Fall vor, in dem eine Abweichung von der Pflicht zur Einhaltung der Abstandsflächen gerechtfertigt ist.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 4 S 16.985 2016-11-02 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die dem Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung vom 2. August 2016 für den „Umbau einer Hofreite“ zu Wohnzwecken auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung O. Mit der Baugenehmigung wurde u. a. eine Abweichung von der Einhaltung einer Abstandsfläche der grenzständigen nordwestlichen Giebelwand zum Grundstück FlNr. … Gemarkung O. des Antragstellers hin erteilt.
Gegen die Baugenehmigung hat der Antragsteller Klage erhoben, über die noch nicht entschieden wurde (Az.: 4 K 16.944). Er hat zudem beantragt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag mit Beschluss vom 2. November 2016 in der Sache ab. Nach summarischer Prüfung sei die erteilte Abweichung rechtmäßig, das Vorhaben verstoße auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, es fehle an einer die Abweichung rechtfertigenden atypischen Fallgestaltung. Die Erwägung der Antragsgegnerin, es würden zeitgemäße Wohnungsbedürfnisse befriedigt, komme nicht zum Tragen, weil bislang keine genehmigte Wohnnutzung vorhanden gewesen sei. Allein die erstmalige Schaffung von Wohnraum in einer rückwärtigen Scheunenbebauung begründe noch keine atypische Fallgestaltung. Eine rückwärtige Wohnbebauung in zweiter Reihe füge sich nicht in die vorhandene Umgebung ein, die von einer Wohnbebauung im Vorderhaus und einer Scheunenbebauung in einem Hintergebäude geprägt sei. Eine atypische Grundstückssituation ergebe sich auch nicht durch die umgebungsprägende Grenzbebauung. Das Baugrundstück des Beigeladenen falle aus dem Rahmen der Umgebung, weil sich das Gebäude nicht in einen durchgehenden Gebäuderiegel einfüge, sondern isoliert als grenzständiger Solitär herausrage.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 2. November 2016 abzuändern und die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Baugenehmigung vom 2. August 2016 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Eine die Abweichung rechtfertigende atypische Fallgestaltung liege vor. In der Begründung der Abweichungsentscheidung sei die Sondersituation mit dem besonderen Grundstückszuschnitt und denkmalpflegerischen Belangen begründet worden. Das Verwaltungsgericht habe in der angefochtenen Entscheidung lediglich ergänzend ausgeführt, dass in die Interessenabwägung auch die im öffentlichen Interesse liegende Schaffung von Wohnraum einzustellen sei.
Der Beigeladene hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Bauakte der Antragsgegnerin verwiesen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die vom Antragsteller innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt.
1. Das Vorbringen des Antragstellers lässt keine Zweifel am Vorliegen einer die Abweichung rechtfertigenden atypischen Fallgestaltung aufkommen.
a) Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen der Bayerischen Bauordnung und aufgrund der Bayerischen Bauordnung erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar sind. Eine Abweichung kann auch von der Pflicht erteilt werden, Abstandsflächen vor den Außenwänden von Gebäuden auf eigenem Grund freizuhalten. Da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann, müssen rechtlich erhebliche Umstände vorliegen, die das Vorhaben als einen atypischen Fall erscheinen lassen und die dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (vgl. zuletzt BayVGH, B. v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 33; BayVGH, B. v. 9.8.2016 – 9 ZB 14.2684 – juris Rn. 7; BayVGH, B. v. 15.9.2015 – 2 CS 15.1792 – juris Rn. 5 f.; BayVGH, U. v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – BayVBl 2015, 347 = juris Rn. 15). Die Atypik kann durch den besonderen Zuschnitt des Grundstücks, durch die aus dem Rahmen fallende Bebauung auf dem Bau- oder Nachbargrundstück, aber auch aus Belangen des Denkmalschutzes oder aus städteplanerischen Erwägungen, wie der Sicherung eines gewachsenen Stadtbildes, begründet sein (vgl. Dhom in Simon/Busse, BayBO, Stand August 2016, Art. 63 Rn. 46 m. w. N.). Auch die Lage eines Baugrundstücks in einem eng bebauten historischen Ortskern kann eine atypische Grundstückssituation begründen, bei der eine Verkürzung der Abstandsflächen in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B. v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – NVwZ-RR 2008, 84 = juris Rn. 16, 18 m. w. N.).
b) Auf diese in der Rechtsprechung zum Erfordernis und zum Vorliegen eines atypischen Falls entwickelten Grundsätze haben die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht abgestellt. Das Vorbringen des Antragstellers, die Abweichung sei mit der Befriedigung zeitgemäßer Wohnungsbedürfnisse und unveränderten Abstandsflächen gerechtfertigt worden, gibt die Bescheidsbegründung lediglich verkürzt wieder. Soweit es die atypische Fallgestaltung betrifft, stellt die Antragsgegnerin in erster Linie auf einen „besonders atypischen Grundstückszuschnitt“ ab.
Auf die an sich einzuhaltende Mindestabstandsflächentiefe von unverändert 3 m, die Befriedigung zeitgemäßer Wohnbedürfnisse, die Belange des Denkmalschutzes und weitere für die Erteilung einer Abweichung sprechende Umstände nimmt die Antragsgegnerin insoweit Bezug, als es um die Änderung des Dachs des Bestandsgebäudes geht. Auch hiergegen ist nichts zu erinnern.
c) Zweifel am Vorliegen eines atypischen Grundstückszuschnitts, der eine Abweichung von der Pflicht zur Einhaltung der Abstandsflächen hier rechtfertigt, bestehen nicht.
Der historische Ortskern von O. ist von dichter und grenzständiger Bebauung auf schmalen, aber tiefen Grundstücken geprägt. An dieser Bebauungsstruktur nehmen das Baugrundstück und dessen vorhandene Bebauung ebenso teil, wie die benachbarten Grundstücke des Antragstellers. Das gegenständliche Gebäude des Beigeladenen ist an drei Seiten grenzständig errichtet. Es steht im rückwärtigen Teil des langgestreckten ca. 50 m tiefen Baugrundstücks, das im Zufahrtsbereich zur H.-straße nur wenige Meter breit ist, sich im Bereich des ca. 8 m von der H.-straße zurückversetzten Wohngebäudes auf gut 10 m öffnet, dann wieder schmäler wird und im rückwärtigen Bereich eine Breite von etwa 11 m aufweist, die zugleich der Breite des vorhandenen Gebäudes entspricht. Die historische Nutzung als Stallgebäude ist längst aufgegeben, das Gebäude ist bei wertiger Bausubstanz gleichwohl noch vorhanden. Bei strikter Anwendung der Abstandflächenvorschriften wäre ein Leerstand erhaltenswerter Gebäude vorgegeben und eine weitere bauliche Entwicklung des Baugrundstücks wie in der gesamten näheren Umgebung ebenso ausgeschlossen wie sonstige die Abstandsflächenpflicht auslösende Änderungen an den Bestandsgebäuden. Ein solcher baulicher Stillstand widerspricht dem Ziel des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, eine nach der Siedlungsstruktur angemessene Fortentwicklung der Bebauung eines Bereichs zuzulassen (vgl. BVerwG, U. v. 30.6.2015 – 4 C 5.14 – BVerwGE 152, 275 = juris Rn. 21 m. w. N.) und wird durch das Abstandsflächenrecht auch nicht bezweckt.
2. Das Vorbringen, eine atypische Situation könne nicht für ein Grundstück in Anspruch genommen werden, das sich für eine Wohnnutzung von vorneherein nicht eigne, verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg.
a) Abstandsflächen sind grundsätzlich von allen Gebäuden oder Anlagen einzuhalten, von denen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 2 BayBO). Welche Nutzung in dem jeweiligen Gebäude oder der Anlage ausgeübt wird, ist – von den in Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO genannten Ausnahmefällen abgesehen – nicht von Belang. Ob eine atypische Grundstückssituation vorliegt, die eine Abweichung von der Pflicht zur Einhaltung von Abstandsflächen rechtfertigt, bestimmt sich deshalb nicht nach der beabsichtigten Nutzung des Gebäudes oder der Anlage.
b) Der Einwand, eine rückwärtige Wohnbebauung in zweiter Reihe füge sich nicht in die vorhandene Umgebung ein, die von einer Wohnbebauung in einem Vorderhaus und einer Scheunenbebauung in einem Hintergebäude geprägt sei, betrifft die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB im Hinblick auf die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass sich das Vorhaben insoweit nicht in seine nähere Umgebung einfügt, bestehen allerdings nicht.
In Lage des Vorhabens lässt sich weder eine aus der Umgebungsbebauung folgende faktische rückwärtige Baugrenze entsprechend § 23 Abs. 3 BauNVO noch eine Bebauungstiefe entsprechend § 23 Abs. 4 BauNVO feststellen, denen das Vorhaben widersprechen könnte. Wie aus den Lageplänen zu ersehen ist, sind in der näheren Umgebung Gebäude (z.T. auch hauptgenutzte Gebäude) vorhanden, die von der H.-straße aus bemessen ebenso weit oder noch weiter in Richtung Südwesten situiert sind wie das bestehende Gebäude des Beigeladenen.
3. Der Vortrag, eine atypische Grundstückssituation ergebe sich auch nicht aus der Umgebung, die durch Grenzbebauung geprägt sei, denn das Baugrundstück falle aus dem Rahmen der Umgebung, weil sich das gegenständliche Gebäude nicht in einen durchgehenden Gebäuderiegel einfüge, sondern isoliert als grenzständiger Solitär herausrage, ist nicht nachvollziehbar.
Der Antragsteller verknüpft die planungsrechtlich vorgegebene Bauweise irrtümlich mit der für die Erteilung einer Abweichung von bauordnungsrechtlichen Vorschriften zu fordernden Atypik. Die planungsrechtliche Bauweise und die bauordnungsrechtliche Atypik bedingen einander aber nicht. Eine atypische Grundstückssituation kann in der offenen Bauweise ebenso vorliegen wie in der geschlossenen oder abweichenden Bauweise. Allerdings ist nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Liegt diese Voraussetzung vor – worauf das Verwaltungsgericht allgemein hingewiesen hat und wofür hier überwiegendes spricht -, dann geht die erteilte Abweichung von der Abstandsflächenpflicht ins Leere. Die Frage, ob zugleich eine die Abweichung rechtfertigende atypische Grundstückssituation vorliegt, stellte sich dann nicht.
Davon abgesehen trifft es nicht zu, dass die nähere Umgebung ausschließlich durch eine Gebäuderiegelbebauung geprägt sei. Ausweislich der vorliegenden Pläne und Luftbilder prägen auch grenzständige Einzelgebäude oder solche, die aus Gebäuderiegeln deutlich versetzt hinausragen, die nähere Umgebung.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht billigem Ermessen, dass der Beigeladene die ihm im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten selbst trägt, weil er keinen wesentlichen Beitrag im Beschwerdeverfahren geleistet hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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