Baurecht

Abweichung von der erforderlichen Abstandsfläche

Aktenzeichen  W 4 S 16.985

Datum:
2.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 5, Art. 63 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Wenn ein Grundstück äußerst schmal geschnitten ist, so dass eine sinnvolle Ausnutzung unter Beachtung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO unmöglich wäre, im maßgeblichen Bauquartier vielfach eine Bebauung ohne Einhaltung der jeweils erforderlichen Abstandsflächentiefen festzustellen ist und das maßgebliche Gebiet durch eine vielfache unmittelbare Grenzbebauung in nicht unbeträchtlichem Umfang geprägt ist, so spricht dies für das Vorliegen einer Atypik, die eine Abweichung von den Anforderungen der erforderlichen Abstandsflächen rechtfertigt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Umbau einer Hofreite.
Der Antragsteller ist Eigentümer der Grundstücke mit den Fl.Nrn. …, … und … der Gemarkung O.
Unter dem 15. Dezember 2015, aktualisiert am 19. Mai 2016, beantragte der Beigeladene durch Vorlage der entsprechenden Bauvorlagen die Baugenehmigung im vereinfachten Verfahren nach Art. 59 BayBO nebst Abweichungen bezogen auf den Umbau der Hofreite auf dem Grundstück in der H. Straße …, Fl.Nr. …, Gemarkung O. Dabei sollten an den Grundmauern des Gebäudes bezüglich der vorhandenen Grundfläche keine Veränderungen vorgenommen werden. An den Nachbargrenzen, also auch an der Grenze zum Antragsteller hin, sollten die brandmauerartigen fensterlosen Grenzwände im Firstbereich aufgemauert und beide Giebel mit einem neuen steileren Satteldach von nunmehr 45 Grad anstatt ursprünglich 30 Grad Dachneigung ausgebildet werden. Die bisher uneinheitlichen Traufhöhen sollten beide beidseitig reduziert und auf eine gleiche Höhe von 3,49 m (= Wandhöhe) gebracht werden. Weiterhin sollten zwei Giebelgauben errichtet werden.
Mit Bescheid vom 2. August 2016, dem Antragsteller am 10. August 2016 zugestellt, erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Außerdem wurde u.a. zum Grundstück des Antragstellers mit der Fl.Nr. *72 der Gemarkung O* … hin von den Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO eine Abweichung zugelassen. Das grenzständige Bestandsgebäude löse eine Abstandsflächenüberschreitung in der gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO geforderten Mindesttiefe von 3 m aus. Schon der Bestand mit der flacheren Dachneigung erfordere eine Abstandsflächentiefe von 3 m. Es liege ein besonders atypischer Grundstückszuschnitt vor.
Am 12. September 2016 ließ der Kläger hiergegen Klage erheben (W 4 K 16.944), über die noch nicht entschieden ist.
Mit weiterem Schreiben vom 26. September 2016 ließ er zudem beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. August 2016 betreffend die bauaufsichtliche Genehmigung für den Umbau einer Hofreite auf dem Grundstück H. Straße …, A., Gemarkung O., Fl.Nr. … anzuordnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, Gegenstand der Baugenehmigung sei eine nicht unerhebliche Vergrößerung der grenzständigen Giebelwand. Die aufschiebende Wirkung sei anzuordnen, um vollendete Tatsachen zu vermeiden. Durch das Bauvorhaben würden Abstandsflächenvorschriften verletzt werden.
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Es handele sich vorliegend um einen atypischen Fall, der eine Abweichung rechtfertige. Die nachbarlichen Belange des Antragstellers seien umfassend gewürdigt worden und in die Abwägung bei der Entscheidung über die Gewährung der beantragten Abweichung eingeflossen.
Der Beigeladene hat bisher keinen Antrag gestellt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der vorgelegten Behördenakte und der Gerichtsakte, insbesondere auch der Gerichtsakte im Verfahren W 4 K 16.944, verwiesen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Nach § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Erhebt ein Dritter Anfechtungsklage gegen die einem anderen erteilte und diesen begünstigende Baugenehmigung, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2, Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO die nach § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen.
Im Rahmen dieser Entscheidung trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind – die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (vgl. Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 71). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Erfolgssausichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Hier wird die Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 2. August 2016 voraussichtlich erfolglos bleiben. Der Bescheid verletzt den Antragsteller voraussichtlich deshalb nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog).
Dabei hat ein Nachbar einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung nicht schon dann, wenn diese objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr ist Voraussetzung, dass er durch die Baugenehmigung gerade in eigenen Rechten verletzt wird. Dies ist nur dann der Fall, wenn die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat. Es genügt also nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind.
Unter Berücksichtigung dessen kommen vorliegend als nachbarrechtsrelevante Gesichtspunkte nur die geltend gemachte Verletzung der Abstandsflächenvorschriften durch das streitgegenständliche Vorhaben sowie ein möglicher Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot in Betracht.
Soweit sich der Antragsteller auf einen Verstoß des Vorhabens gegen die Abstandsflächenvorschriften beruft, ist zunächst festzustellen, dass das streitgegenständliche Vorhaben zwar in einem vereinfachten Verfahren gemäß Art. 59 Satz 1 BayBO genehmigt wurde, da es sich um keinen Sonderbau i.S.d. Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt. Im vereinfachten Verfahren prüft die Bauaufsichtsbehörde grundsätzlich nicht mehr das bauordnungsrechtliche Abstandsflächenrecht des Art. 6 BayBO. Nach Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO gehören jedoch die beantragten Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1 BayBO auch im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zum Prüfungsumfang (vgl. BayVGH v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – juris Rn. 36; BayVGH v. 5.11.2015 – 15 B 15.1371 – juris Rn. 15).
In bauordnungsrechtlicher Hinsicht allerdings stellt sich die in der verfahrensgegenständlichen Baugenehmigung erteilte Abweichung bei summarischer Überprüfung, nur eine solche ist im vorliegenden Verfahren vorzunehmen, als materiell rechtmäßig dar.
Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Der Zweck des Abstandsflächenrechts, der vor allem darin besteht, eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude zu gewährleisten und die für Nebenanlagen erforderlichen Freiflächen zu sichern, kann regelmäßig nur dann erreicht werden, wenn die Abstandsflächen in dem gesetzlich festgelegten Umfang eingehalten werden. Da somit jede Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO zur Folge hat, dass die Ziele des Abstandsflächenrechts nur unvollkommen verwirklicht werden, setzt die Zulassung einer Abweichung Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung sowie eine Verringerung der freien Flächen des Baugrundstücks im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen (vgl. BayVGH v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16). Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regelung nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (vgl. BayVGH v. 13.2.2002 – 2 CS 01.1506 – juris Rn. 16; v. 23.5.2005 – 25 ZB 03.881 – juris Rn. 8; v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16). Es müssen also rechtlich erhebliche Unterschiede vorliegen, die das Vorhaben als einen sich von der Regel unterscheidenden atypischen Fall erscheinen lassen und dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (vgl. BayVGH v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris Rn. 15). Diese können sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben (vgl. BayVGH v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16 m.w.N.). In solchen Fällen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung rechtfertigen. Hingegen begründen allein Wünsche eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen als dies ohnehin schon zulässig wäre, noch keine Atypik, da Modernisierungsmaßnahmen, die nur der Gewinnmaximierung dienen sollen, auch in Ballungsräumen nicht besonders schützenswert sind (vgl. BayVGH v. 2.12.2014 – 2 ZB 14.2077 – juris Rn. 3). Weitere Voraussetzung ist die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung nachbarlicher Interessen. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz, wie bei dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme, eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich dabei nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (vgl. zum Ganzen: BayVGH v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 20). Von Bedeutung ist bei der Beurteilung des Vorliegens der erforderlichen Atypik indes auch, ob eine sinnvolle Ausnutzung des Baugrundstücks unter Beachtung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO unmöglich oder unzumutbar ist. In dicht bebauten innerstädtischen und innergemeindlichen Bereichen ist eine atypische Situation jedenfalls dann anzunehmen, wenn jedwede bauliche Veränderung der vorhandenen Bausubstanz geeignet ist, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen (vgl. BayVGH v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23).
Liegt die erforderliche Atypik nicht vor, erweist sich eine trotzdem erteilte Abweichung von der Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen von vornherein als rechtswidrig und ist auf eine Nachbarklage hin die Baugenehmigung grundsätzlich aufzuheben (BayVGH v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16).
Nach Überzeugung der Kammer ist unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Ausführungen im vorliegenden Fall eine derartige Sondersituation (Atypik) gegeben.
Die Antragsgegnerin führt insoweit aus, dass schon wegen des besonderen Zuschnitts des Grundstücks, des Altbestandes sowie wegen Belangen des Denkmalschutzes die Atypik zu bejahen sei. Dies ist seitens der Kammer jedenfalls insoweit nicht zu beanstanden, als die Antragsgegnerin die Sondersituation mit dem besonderen Zuschnitt des Grundstücks begründet. Das Grundstück ist äußerst schmal geschnitten, so dass eine sinnvolle Ausnutzung unter Beachtung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO unmöglich wäre. Des Weiteren spricht die im maßgeblichen Bauquartier vielfach festzustellende Bebauung ohne Einhaltung der jeweils nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO erforderlichen Abstandsflächentiefen für die Annahme eines atypischen Falles. Das maßgebliche Gebiet ist durch eine vielfache unmittelbare Grenzbebauung in nicht unbeträchtlichem Umfang geprägt. Dies lässt eine Durchsetzung der Abstandsflächenvorschriften aus Art. 6 Abs. 1 BayBO nicht zu und räumt dem hiervon abweichenden tatsächlich vorgefundenen Städtebaurecht den Vorrang ein. Da die Antragsgegnerin zudem in nicht zu beanstandender Weise die Besonderheiten des konkreten Falles und die maßgebliche Prägung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 und 2 BauGB herausgearbeitet hat (Schriftsatz der Antragsgegnerin an das Verwaltungsgericht vom 11.10.2016, Seite 1) und die gegenläufigen Interessen des Beigeladenen und des Antragstellers gewichtet hat, bleibt die im streitgegenständlichen Bescheid vom 2. August 2016 ausgesprochene Abweichung auf der Grundlage von Art. 63 Abs. 1 BayBO voraussichtlich gerichtlich unbeanstandet.
Lediglich ergänzend sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass durch die Verwirklichung des streitgegenständlichen Vorhabens zweifellos eine Verschlechterung der abstandsflächenrechtlich geschützten Belange des Antragstellers bewirkt wird. Jedoch werden die Schutzziele des Art. 3 und Art. 6 BayBO nicht dergestalt verfehlt, dass eine Abweichung mit den nachbarlichen Belangen unvereinbar wäre. Nach summarischer Prüfung überwiegen die Interessen des Beigeladenen im Rahmen der Abweichungsentscheidung. In die erforderliche Interessenabwägung ist nämlich auch einzustellen, dass der Umbau auch der Schaffung von Wohnraum dient und insoweit im öffentlichen Interesse liegt (vgl. BayVGH v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 5). Die Schaffung von Wohnraum ist zwar nicht geeignet, das Vorliegen einer atypischen Fallgestaltung zu begründen, aber – bei Vorliegen der erforderlichen Atypik, wie hier, – stellt die Wohnraumbeschaffung einen gewichtigen öffentlichen Belang dar, der im Rahmen der nach Art. 63 Abs. 1 BayBO vorzunehmenden Abwägung zu berücksichtigen ist.
Die erforderliche Abweichung konnte daher von der Antragsgegnerin nach pflichtgemäßem Ermessen erteilt werden. Sie hat dabei auch die gesetzlichen Grenzen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO beachtet. Das durch Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO eingeräumte Ermessen ist ein tatbestandlich intendiertes Ermessen, d.h. sind die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Abweichung gegeben, so ist sie zuzulassen, es sei denn, besondere Umstände stünden dem entgegen (vgl. BayVGH v. 22.7.2003 – 15 ZB 02.1233 – juris Rn. 8). Denn bereits auf der Tatbestandsseite des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist eine Abwägung vorzunehmen, die jeweils die vorgesehene Abweichung zu den genannten Einzelaspekten in Beziehung setzt und die betroffenen Belange untereinander koordiniert (BayVGH v. 22.7.2003 – 15 ZB 02.1223 – juris Rn. 8).
Nach alldem führt die nach § 80 Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vom Verwaltungsgericht zu treffende eigenständige Ermessensentscheidung dazu, dass die kraft Gesetzes bestehende sofortige Vollziehbarkeit der Baugenehmigung aufgrund des § 212a Abs. 1 BauGB aufrecht erhalten bleiben kann, zumal auch nicht erkennbar ist, dass durch die Baugenehmigung gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, welches zum Schutz des Antragstellers verbleibt, verstoßen wird.
Im Rahmen des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist das Gebot der Rücksichtnahme ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, das im Begriff des „Sich – Einfügens“ eines Vorhabens in die nähere Umgebung enthalten ist (vgl. BVerwG v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – juris). Nach der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung hängen die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist damit darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG v. 6.12.1996 – 4 B 215/96 – juris).
Das in § 15 Absatz 1 Satz 2 BauNVO (§ 34 Abs. 2 BauGB) ebenso wie im Begriff des „Sich- Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn aber nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist vielmehr unter dem Gesichtspunkt des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. BayVGH v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17).
Bei der vorliegend gebotenen summarischen Überprüfung stellt sich das antragsgegenständliche Vorhaben allerdings weder im Hinblick auf den Abstandsflächenverstoß noch im Hinblick auf Belichtung und Belüftung als unzumutbar und damit rücksichtslos dar, zumal die Kammer auch eine einmauernde oder abriegelnde Wirkung oder neue Einblicksmöglichkeiten in das Wohnhaus des Antragstellers nicht erkennen kann. Solche wurden seitens des Antragstellers auch nicht substantiiert geltend gemacht.
Dies gilt insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sich das Wohngebäude des Antragstellers, wie die vorgelegten Lichtbildern und der Lageplan zeigen, doch um einige Meter versetzt von dem streitgegenständlichen Vorhaben befindet. Im Übrigen darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass an den Grundmauern des bereits bestehenden Scheunengebäudes bezüglich der vorhandenen Grundfläche keine Veränderung vorgenommen wird. An den Nachbargrenzen werden die brandmauerartigen fensterlosen Grenzwände im Firstbereich aufgemauert und beide Giebel mit einem neuen steileren Satteldach ausgebildet. Dabei werden beidseitig die bisher uneinheitlichen Traufhöhen sogar reduziert von ursprünglich 4,35 m bzw. 3,49 m hofseitig und 3,73 m gartenseitig auf 3,49 m. Von einer erdrückenden Wirkung kann nach alldem gerade auch unter Berücksichtigung des Altbestandes nicht die Rede sein.
Es erscheint daher unverhältnismäßig und damit ermessensfehlerhaft, die aufschiebende Wirkung der voraussichtlich erfolglosen Klage des Antragstellers anzuordnen. Soweit der Beigeladene vor einer endgültigen Klärung im Hauptsacheverfahren, das wohl auch einen Augenscheinstermin erforderlich macht, mit den Bauarbeiten beginnt, wird er auf eigenes Risiko tätig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.


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