Baurecht

Anfechtung einer Baugenehmigung, Abstandsflächen, zulässige Grenzbebauung, Sanierung, historische Bausubstanz in innerstädtischem Bereich, Atypik, Gebot der Rücksichtnahme

Aktenzeichen  AN 3 S 21.01688

Datum:
12.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 33908
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
VwGO § 80 Abs. 5
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3
BayBO Art. 63 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine zugunsten der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Umbau und die Generalsanierung eines denkmalgeschützten Wohnhauses (sog. „Flusshaus“).
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des straßenseitig mit einem in geschlossener Bauweise errichteten Wohn- und Geschäftshaus bebauten Grundstückes FlNr. … der Gemarkung …, welches mit seinem langgezogenen, schmalen Zuschnitt im Süden an die … sowie im Norden an den Uferbereich der … angrenzt. Westlich hiervon befindet sich das im Eigentum der Beigeladenen stehende Grundstück FlNr. …, welches auf einer Länge von circa 45 m an das Antragstellergrundstück angrenzt und mit einem „seitlichen“ Wohngebäude sowie Richtung … hin mit einem rückseitigen dreigeschossigen Wohngebäude mit Mansarddach und darüber liegendem Zeltdach (sog. „Flusshaus“, nach Angaben der Beigeladenen im Jahre 1884 erbaut) bebaut ist. Die beiden als Baudenkmäler gelisteten Gebäude grenzen im Osten an das Antragstellergrundstück an. Zwischen dem Beigeladenengrundstück und der … liegt das sich ebenfalls im Eigentum der Beigeladenen befindliche Anwesen FlNr. …, welches mit einem straßenseitigen, an das Antragstellergrundstück im Osten angrenzenden Vordergebäude nebst Durchfahrtsgebäude im westlichen Grundstücksbereich sowie einem dahinterliegenden, die Grundstücksgrenze zu dem inmitten stehenden Baugrundstück FlNr. … überschreitenden Wohngebäude, welches ebenfalls an das Antragstellergrundstück im Osten angrenzt, bebaut ist.
Die Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des rechtsverbindlichen einfachen Bebauungsplanes Nr. … Änderung, welcher lediglich Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung enthält, sowie im Sanierungsgebiet „Innenstadt“, Teilgebiet IV „…“; gemäß dem Maßnahmenplan/Neuordnungskonzept für die Stadtsanierung ist das inmitten stehende Gebäude zum Erhalt vorgesehen.
Die im Umgriff des einfachen Bebauungsplans nördlich der … zwischen dem Ufer der … sowie dem … bzw. der … befindlichen Grundstücke sind ausweislich der vorliegenden Luftbilder und Flurkarten ganz überwiegend bebaut mit in geschlossener Bauweise errichteten Gebäuden (straßenseitig sowie als Hinterlieger), welche vereinzelt komplett, überwiegend jedoch an zwei oder drei Grundstücksseiten grenzständig sind.
Die Beigeladene beantragte mit Bauantrag vom 15. Juli 2020 sowie – nach denkmalschutzrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die zunächst beabsichtigten Grundrissänderungen und Balkonsituierung bzw. -ausgestaltung – mit Tekturantrag vom 12. März 2021 die Erteilung einer Baugenehmigung für den Umbau und die Generalsanierung des denkmalgeschützten Wohnhauses „Flusshaus“. Zugleich wurde ein Antrag auf Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen gestellt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es sich im Altstadtbereich der Stadt … überwiegend um historische, denkmalgeschützte, innerstädtische Zeilenbebauung mit dahinterliegenden Rückgebäuden handele und die Abstandsflächen der Hinterhofhäuser sich schon immer überlappen bzw. teilweise auf die Nachbargrundstücke fallen würden. Die durch den Anbau von Balkonen entstehenden Abstandsflächen würden ausschließlich auf dem eigenen Grundstück zu liegen kommen. Beeinträchtigungen der nachbarlichen Anwesen würden durch das Vorhaben nicht entstehen. Vielmehr stelle dieses eine gewünschte Aufwertung des gesamten Wohnumfeldes dar.
Ausweislich des zur Genehmigung gestellten Bauvorlagen sind auf vier Geschossen insgesamt acht Wohneinheiten vorgesehen. Neben den beiden Terrassen im Erdgeschoss sind ausweislich der Tekturplanung nunmehr lediglich noch zwei Balkone im ersten Obergeschoss im Nordwesten Richtung … sowie ein Balkon im zweiten Obergeschoss Richtung Südwesten vorgesehen. Das Dachgeschoss bleibt unausgebaut. Zur Verbesserung der Wärmedämmeigenschaft des Gebäudes ist im Bereich der Mansarde eine Aufdachdämmung geplant. Ergänzend soll die obere Dachfläche mittels einer Konterlattung um 5 cm erhöht werden. In dem Abstandsflächenplan vom 12. März 2021 wird insoweit ausgeführt, dass die Aufdachdämmung am oberen Abschluss der Mansarde ende, die Dämmebene zum nicht ausgebauten Dachgeschoss in der Kehlbalkenebene erfolgen solle und die obere Dachfläche lediglich um die Konterlattung (50/50 mm) zur Hinterlüftung erhöht werde. Hieraus errechne sich eine Abstandsfläche um 0,05 m * 0,4 = 0,013 m. Dies sei zeichnerisch nicht darstellbar und in dem dargestellten Maß bereits beinhaltet.
Ausweislich des Schnitt-Planes betragen die Neigung der Mansarde (bis 13,80 m Höhe) 74° sowie die Neigung des darüber liegenden Zeltdaches (zusätzlich 1,87 m) 25°.
Die Antragstellerin erteilte ihre Unterschrift zu dem Vorhaben nicht.
Mit Bescheid vom 23. Juli 2021 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die mit zahlreichen denkmalschutzrechtlichen Nebenbestimmungen versehene Baugenehmigung für den „Umbau und Generalsanierung des denkmalgeschützten Wohnhauses (Flusshaus); hier Tektur: Grundrissänderungen, Veränderungen der Balkone“ unter Zulassung einer Abweichung von den zusätzlich ausgelösten Abstandsflächen. In der Begründung wurde ausgeführt, dass durch die Änderung des Dachaufbaus (Aufdachdämmung und Erhöhung der oberen Dachfläche mittels einer Konterlattung um 5 cm) lediglich in geringfügigem Ausmaß zusätzliche Abstandsflächen zu den angrenzenden Grundstücken FlNrn. … und … ausgelöst würde. Die Abstandsflächen der Balkone seien eingehalten. Das beantragte Vorhaben diene dem Ausbau und der Modernisierung des bestehenden Gebäudes und trage zur Verbesserung der Wohnqualität bei. Eine Beeinträchtigung der Wohnqualität benachbarter Anwesen sei indes nicht gegeben. Die Belichtung und Besonnung der Nachbargrundstücke werde nicht verschlechtert.
Am 30. August 2021 ließ die Antragstellerin gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung Klage erheben (AN 3 K 21.01604). Am 14. September wurde des Weiteren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage beantragt. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass das genehmigte Vorhaben aufgrund der Erhöhung des Dachaufbaus zusätzliche Abstandsflächen auf dem Grundstück der Antragstellerin auslöse und die dortige Wohnqualität beeinträchtige. Die Antragstellerin sei mit einer Erhöhung des Gebäudes und den damit zusammenhängenden Einschränkungen der Belichtung und Besonnung ihres Anwesens nicht einverstanden. Bereits jetzt liege eine sehr enge Bebauung vor. Nachdem die Vorderhäuser bereits unmittelbar einander angrenzend errichtet worden seien, sei ein Lichteinfall einzig noch aus nord/nordwestlicher Richtung vorhanden. Dieser werde durch die Erhöhung des Dachaufbaus, insbesondere im Hinblick auf den kompletten Innenhof des Antragstellergrundstückes, noch mehr eingeschränkt. Die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass eine Verschlechterung der Belichtung und Besonnung des Nachbargrundstückes nicht gegeben sei, sei daher falsch. Die nachbarliche Wohnqualität werde durch das Vorhaben beeinträchtigt.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 30. August 2021 gegen die der Beigeladenen mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. Juli 2021 erteilte Baugenehmigung anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung rechtmäßig erteilt worden sei. Betreffend die Abstandsflächen zu der südöstlichen Traufseite des inmitten stehenden Gebäudes wird vorgetragen, dass die Neigung der Mansarde 75°, mithin > 70° betrage und als senkrechte Wand zu sehen sowie abstandsflächenrechtlich als volle Wandhöhe hinzuzurechnen sei. Die verbleibende Dachhöhe sei aufgrund der Dachneigung von 25° zu einem Drittel heranzuziehen. Der Beschreibung der Beigeladenen im Schreiben vom 28. Juni 2021 sei zu entnehmen, dass sich durch die zusätzliche Konterlattung mit 50/50 mm die zu hinzuzurechnende Wandhöhe im Vergleich zu der Wandhöhe im Bestand um 5 cm erhöhe. Bei dem anzuwendenden Maß der Abstandsfläche von 0,4 erhöhe sich der Wurf der Abstandsfläche zu der bestehenden Abstandsflächentiefe um 20 mm. Dies ergebe im Hinblick auf eine Breite von 3,40 m, auf welcher die Abstandsflächen auf dem Antragstellegrundstück zum Liegen komme, eine Erhöhung von 0,068 m², für welche die streitgegenständliche Abweichung erteilt worden sei. Insoweit wird auf den Abstandsflächenplan mit dem Maßstab 1:100 verwiesen. Die Abwägung des Begehrens auf Erteilung einer Abweichung mit dem Nachbarschutz sei aufgrund dieser sehr geringen Erhöhung der Abstandsflächentiefe und Abstandsflächengröße zugunsten der Beigeladenen ausgefallen. Eine Verschlechterung der Belichtung oder sonstige Beeinträchtigungen löse die erteilte Baugenehmigung entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin nicht aus.
Auch hinsichtlich nordöstlichen Giebelseite ergäben sich keine Beeinträchtigungen. Bei der nordöstlichen Giebelwand handele es sich um eine geschlossene Brandwand entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze. In den der Antragsgegnerin vorliegenden Bauvorlagen sei die Brandwand nicht als über die Dachhaut hinausgehend dargestellt worden. Eine Begehung des Grundstückes sei nicht möglich gewesen. Jedoch würden die der Antragsgegnerin von der Beigeladenen übermittelten Fotos zeigen, dass die Brandwand tatsächlich über die Dachhaut hinaus ausgeführt worden sei. Hierdurch komme die genehmigte Dacherhöhung vollständig hinter der bestehenden Brandwand zu liegen und rufe keine weitergehende Beschattung als die bereits vorhandene Brandwand hervor.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
Streitgegenstand vorliegenden Antrages ist die sofortige Vollziehbarkeit der der Beigeladenen mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. Juli 2021 erteilten Baugenehmigung für den Umbau und die Generalsanierung eines denkmalgeschützten Wohnhauses.
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
1. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Erhebt ein Dritter gegen die einem anderen erteilte Baugenehmigung Anfechtungsklage, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die bundesgesetzlich gemäß § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Hierbei trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind – die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Fällt die Erfolgsprognose zu Gunsten des Nachbarn aus, erweist sich die angefochtene Baugenehmigung nach summarischer Prüfung also als rechtswidrig im Hinblick auf nachbarschützende Vorschriften, so ist die Vollziehung der Genehmigung regelmäßig auszusetzen. Hat dagegen die Anfechtungsklage des Nachbarn mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg, so ist das im Rahmen der Interessenabwägung ein starkes Indiz für ein überwiegendes Interesse des Bauherrn an der sofortigen Vollziehung der ihm erteilten Baugenehmigung. Bei offenen Erfolgsaussichten findet eine reine Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. etwa BayVGH, B.v. 26.7.2011 – 14 CS 11.535 – juris; B.v. 23.2.2021 – 15 CS 21.403 – juris).
Im vorliegenden Fall überwiegen die Interessen der Bauherrin an der sofortigen Vollziehung der ihr erteilten Baugenehmigung, da die Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den streitgegenständlichen Baugenehmigungsbescheid vom 23. Juli 2021 voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Die von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung verletzt nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage aller Voraussicht nach die Antragstellerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Antragstellerin kann die streitgegenständliche Baugenehmigung mit dem Ziel der Aufhebung nur dann erfolgreich anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, welche auch dem nachbarlichen Schutz dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und Gegenstand des vorliegenden vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens gemäß Art. 59 Satz 1 BayBO sind.
Derartige Vorschriften sind hier aller Voraussicht nach nicht verletzt. Eine Verletzung der nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO prüfpflichtigen, nachbarschützenden Abstandsflächenvorschriften liegt – so das Ergebnis der durchgeführten summarischen Prüfung – nicht vor. Das Vorhaben verstößt voraussichtlich auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO i.V.m. §§ 29 bis 38 BauGB).
a) Eine Rechtswidrigkeit und in Folge davon eine Rechtsverletzung der Antragstellerin als Nachbarin ergibt sich hier aller Voraussicht nach nicht aus dem Abstandsflächenrecht gemäß Art. 6 BayBO.
aa) Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage erfordert das streitgegenständliche Bauvorhaben wohl eine Neubewertung der Abstandsflächen.
Die Frage der Beurteilung von Abstandsflächen ergibt sich nicht nur bei Neubauten, sondern kann auch bei Nutzungsänderungen oder baulichen Veränderungen neu aufgeworfen werden. Eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung ist bei der Änderung eines Gebäudes immer dann veranlasst, wenn sich entweder die für die Ermittlung der Abstandsflächentiefe relevanten Merkmale ändern oder wenn die Änderung für sich betrachtet zwar keine abstandsflächenrele-vanten Merkmale betrifft, das bestehende Gebäude aber die nach dem geltenden Recht maß-geblichen Abstandsflächen nicht einhält und die Änderung möglicherweise zu nicht nur uner-heblichen nachteiligen Auswirkungen auf die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange wie Belichtung, Belüftung und Wohnfrieden führen kann (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2015 – 15 ZB 13.2384 – juris; BayVGH, U.v. 26.11.1979 – 51 XIV 78 – juris; VG Ansbach, U.v. 27.8.2014 – AN 9 K 13.00456 – juris).
Mit der vorliegenden Generalsanierung gehen auch bauliche Veränderungen insbesondere des Daches einher, welche abstandsflächenrelevante Merkmale betreffen.
bb) Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist die Einhaltung von Abstandsflächen jedoch nicht erforderlich vor Außenwänden, die an den Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf.
Der Vorrang des Städtebaurechts gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, sondern auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) kommt grundsätzlich der Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu (vgl. BVerwG, B.v. 11.3.1994 – 4 B 53/94 – juris; BayVGH, U.v. 25.11.2013 – 9 B 09.952 – juris; U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363 – juris; VG Ansbach, U.v. 12.9.2012 – AN 9 K 11.01743 – juris). Eine geschlossene Bauweise, bei der die seitlichen Grundstücksgrenzen bebaut werden, kann sich also in den Fällen, in denen nach § 34 BauGB der planungsrechtliche Beurteilungsmaßstab für die Zulässigkeit eines Bauvorhabens die vorhandene Bebauung ist, auch aus dieser ergeben, mit der Folge, dass sie dann die verbindliche Bauweise ist (vgl. auch VG Würzburg, B.v. 30.5.2014 – W 4 S 14.472 – juris; VG Ansbach, B.v. 4.8.2014 – AN 9 S 14.00575 – juris). Denn aus § 34 Abs. 1 BauGB folgt, dass sich ein Vorhaben auch im Hinblick auf die Bauweise in die Eigenart der näheren Umgebung einzufügen hat.
Nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB ist der Bereich, auf den sich das Bauvorhaben städtebaulich prägend auswirken wird und von dem aus die vorhandene Bebauung das Baugrundstück prägt. Wie weit diese gegenseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – juris). Für das hier streitgegenständliche Bauvorhaben wird die nähere Umgebung unter Berücksichtigung der tatsächlichen Grundstückssituation, wie sie sich der Kammer aus den Plänen darstellt, gebildet durch die Bebauung nördlich der … zwischen dem Ufer der … im Nordwesten sowie dem … bzw. der … im Nordosten. In der so umgrenzten, den Einfügensrahmen bildenden näheren Umgebung befindet sich auf zahlreichen Grundstücken Bebauung (straßenseitig oder als Hinterlieger) ohne oder nur mit geringem seitlichen und vorderen Grenzabstand (geschlossene Bauweise), welche vereinzelt komplett, überwiegend jedoch an zwei oder drei Grundstücksseiten grenzständig ist.
Nach alledem darf das streitgegenständliche Bauvorhaben aller Voraussicht nach gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ohne Einhaltung von Abstandsflächen verwirklicht werden.
cc) Darüber hinaus wäre die Antragstellerin auch bei Verneinung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO aller Voraussicht nach nicht durch eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften in ihren nachbarlichen Rechten verletzt. Denn in diesem Fall würden die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO wahrscheinlich vorliegen.
Nach dieser Vorschrift können die Bauaufsichtsbehörden Abweichungen von den Anforderungen der Bayerischen Bauordnung zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO, vereinbar sind.
Zwar liegt hier wohl kein Fall des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO, wonach von den Anforderungen des Art. 6 Abweichungen insbesondere zugelassen werden sollen, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Wohngebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird, vor. Gleichwohl liegen die Voraussetzungen des Art. 63 BayBO vor.
Die nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bei der Zulassung einer Abweichung von der vorgeschriebenen Tiefe der Abstandsflächen zu fordernde atypische Situation (vgl. etwa BayVGH, B.v. 15.11.2005 – 2 CS 05.2817 – juris) liegt in dem hier zu entscheidenden Fall in der Lage des Baugrundstücks im dicht bebauten innerstädtischen Bereich, in dem historische Bausubstanz vorhanden ist. Jedwede bauliche Veränderung der bestehenden Anwesen ist in solchen Lagen geeignet, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen. Soll auch in diesem Bereich Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden, so kommt man nicht umhin, Ausnahmen vom generalisierenden Abstandsflächenrecht zuzulassen. Dies gilt auch insbesondere deshalb, weil im dicht bebauten innerstädtischen Bereich kaum ein Anwesen die Abstandsflächen wahrt (vgl. BayVGH, U.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris). Dass es im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin weitere Grundstücke wie das der Beigeladenen gibt, schließt das Vorliegen einer Atypik nicht aus. Entscheidend ist, ob sich ein Vorhaben vom normativen Regelfall unterscheidet. Dies ist hier nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage der Fall.
Eine Abweichung kann des Weiteren nur zugelassen werden, wenn sie „unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange“ mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Damit verlangt das Gesetz eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Werden die nachbarlichen Belange nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt, wird der Nachbar auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Vorschrift, von der die Abweichung zugelassen wird, nicht dem Nachbarschutz dient. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie den Abstandsflächenvorschriften, kann der Nachbar hingegen nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen. Er ist auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund, etwa weil sie nicht mit im konkreten Fall zu erwägenden öffentlichen Belangen zu vereinbaren ist, (objektiv) rechtswidrig ist (vgl. etwa BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris).
Nach diesen Maßstäben dürfte die Antragstellerin durch die Abweichung nicht in ihren Rechten verletzt sein.
Nach summarischer Prüfung überwiegen die Interessen der Beigeladenen hinsichtlich einer Abweichungsentscheidung. Das hinter dem Vorhaben stehende Interesse der Beigeladenen, durch eine Generalsanierung ihres Anwesens zeitgemäßen sowie energieeffizienten Wohnraum zu schaffen, ist rechtlich beachtlich. Äußerst zweifelhaft ist hingegen, ob sich durch das streitgegenständliche Bauvorhaben die Situation für die Antragstellerin überhaupt verschlechtert. Denn gegenüber dem bisherigen Zustand ergibt sich – entgegen dem insoweit unsubstantiierten Vorbringen der Antragstellerin – hinsichtlich der Belichtung und der Besonnung aufgrund der weitestgehend unveränderten Kubatur ganz offensichtlich keine Änderung und damit keine Verschlechterung. Zu dem Grundstück der Antragstellerin hin werden insbesondere auch keine neuen Einblickmöglichkeiten geschaffen. Mithin ergeben sich auch insofern keine Verschlechterungen für die Antragstellerin. Im Übrigen handelt es sich bei dem rückwärtigen Bereich des Antragstellergrundstückes im Hinblick auf die in der näheren Umgebung bereits vorhandene Bebauung auch nicht etwa um einen besonders schützenswerten rückwärtigen Hof- oder Gartenbereich.
b) Aus den soeben genannten Gründen verletzt das streitgegenständliche Bauvorhaben aller Voraussicht nach auch nicht das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, auf welches sich die Antragstellerin grundsätzlich berufen könnte.
Eine ausnahmsweise unzumutbare Beeinträchtigung, obwohl das Bauvorhaben den Abstandsflächenvorschriften entspricht (vgl. hierzu etwa BayVGH, B.v. 9.2.2015 – 1 CS 14.2763 – juris; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris; B.v. 16.8.2012 – 1 CS 12.1498 – juris; BVerwG, B.v. 22.11.1984 – 4 B 244.84 – juris; B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – juris), ist nicht zu erkennen. Das Vorhaben der Beigeladenen erweist sich ganz offensichtlich weder hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und der Situierung des Gebäudes noch hinsichtlich einer damit verbundenen Einmauerungs- oder Verschattungswirkung auf das Anwesen der Antragstellerin als rücksichtslos. Eine Einsichtnahme in die Räumlichkeiten oder einen besonders schützenswerten Gartenbereich der Antragstellerin ist ebenfalls nicht möglich.
Nachdem die Klage der Antragstellerin mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Erfolg bleibt, war der Antrag mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO; da die Beigeladene nicht durch eigene Antragstellung ein Prozesskostenrisiko übernommen hat, trägt sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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