Baurecht

Anordnung zum Rückbau eines Wochenendhauses

Aktenzeichen  9 ZB 16.852

Datum:
26.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 126538
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 3, Art. 76 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine Vermutung, dass ein seit langen Jahren vorhandener Baubestand bei seiner Errichtung oder während irgendeiner Zeitspanne seines Bestehens einmal materiell legal war, besteht nicht. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem Ermessen nach Art. 76 S. 1 BayBO ist die Tendenz eigen, die im öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung baurechtmäßiger Zustände grundsätzlich gebotene Pflicht zum Einschreiten zu verwirklichen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Störer kann sich nicht darauf berufen, bei der Wiederherstellung im öffentlichen Interesse liegender baurechtmäßiger Zustände müsse die Behörde die Durchsetzbarkeit zivilrechtlicher Nachbaransprüche prüfen und berücksichtigen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 4 K 15.682 2016-03-01 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen hat die Klägerin zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin wendet sich gegen eine Anordnung zum Rückbau eines Anbaus an ihr bestehendes Wochenendhaus.
Das Landratsamt M* … verpflichtete die Klägerin mit Bescheid vom 26. Juni 2015, den Anbau an ihr bestehendes Wochenendhaus an der Ostseite des Gebäudes auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung O* … auf das ursprünglich genehmigte Maß zurückzubauen, so dass der entsprechende Grenzabstand von 3,80 m (nördliche Hauskante) bis 3,0 m (südliche Hauskante) wiederhergestellt wird. Die Klage der Klägerin gegen diesen Bescheid hat das Verwaltungsgericht Würzburg mit Urteil vom 1. März 2016 abgewiesen. Die Beseitigungsanordnung sei rechtmäßig, weil der Anbau formell und materiell illegal sei. Die bauliche Anlage halte die erforderlichen Abstandsflächen nicht ein. Auf andere Weise könnten keine rechtmäßigen Zustände hergestellt werden. Insbesondere sei nicht mehr mit der Erklärung einer Abstandsflächenübernahme durch die Nachbarn der Klägerin, die Beigeladenen, zu rechnen. Die Ermessensentscheidung sei nicht zu beanstanden. Hiergegen richtet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Die Klägerin beruft sich auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche Zweifel bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
1. Soweit sich die Klägerin darauf beruft, der Bauzustand bestehe bereits seit dem Jahr 1984, ist dies unerheblich, weil damit keine formelle oder materielle Legalität des zur Beseitigung anstehenden Anbaus zu irgendeinem Zeitpunkt dargelegt wird. Eine Vermutung dahin, dass ein seit langen Jahren vorhandener Baubestand bei seiner Errichtung oder während irgendeiner Zeitspanne seines Bestehens einmal materiell legal war, besteht nicht. Zudem entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass der bloße Zeitablauf allein die Bauaufsichtsbehörden nicht hindert, gegen einen auch seit langen Jahren bestehenden rechtswidrigen Baubestand einzuschreiten (vgl. BayVGH, B.v. 4.10.2016 – 9 ZB 14.2173 – juris Rn. 10).
2. Der Vortrag der Klägerin, die beigeladenen Nachbarn seien bis zum Jahr 2012 mit dem Anbau einverstanden gewesen, verhilft dem Antrag nicht zum Erfolg. Denn hieraus ergibt sich für die Erstreckung der Abstandsfläche auf das Nachbargrundstück weder eine rechtliche oder tatsächliche Sicherung, dass diese nicht überbaut werden, noch liegt hierin eine schriftliche Zustimmung der Nachbarn gegenüber der Bauaufsichtsbehörde nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO.
3. Die Klägerin führt aus, es liege ein Ermessensfehlgebrauch vor, weil das Land-ratsamt nicht berücksichtigt habe, dass zivilrechtliche Ansprüche der Nachbarn auf Beseitigung des Anbaus verjährt oder jedenfalls verwirkt seien. Aus diesem Zulassungsvorbringen ergibt sich kein Ermessensfehler.
Welche Ermessensgesichtspunkte bei Erlass einer Beseitigungsanordnung nach Art. 76 Satz 1 BayBO berücksichtigt oder nicht berücksichtigt werden dürfen, richtet sich primär nach Sinn und Zweck der Vorschrift. Dem Ermessen nach Art. 76 Satz 1 BayBO ist dabei – unabhängig von der Frage, ob es sich um eine intendierte Ermessensentscheidung handelt – die Tendenz eigen, die im öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung baurechtmäßiger Zustände grundsätzlich gebotene Pflicht zum Einschreiten zu verwirklichen. Art. 76 Satz 1 BayBO soll sicherstellen, dass die durch baurechtliche Vorschriften umschriebenen öffentlichen Belange nicht gefährdet werden; die Befugnis bezieht sich deshalb auf Maßnahmen zur Beseitigung bauplanungs- oder bauordnungswidriger Zustände (vgl. Decker in Simon/Busse, BayBO, Stand Mai 2017, Art. 76 Rn. 8). Hier hat das Landratsamt im Bescheid vom 8. Juni 2015 die Ermessensbetätigung zutreffend auf das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung baurechtmäßiger Zustände gestützt.
Zwar kann die Möglichkeit des Nachbarn, seine Rechte unmittelbar gegenüber dem Störer zivilrechtlich geltend zu machen, je nach den Umständen des Einzelfalls ein beachtlicher Ermessensgesichtspunkt im Rahmen der Entscheidung bauaufsichtlichen Einschreitens auf Antrag des Nachbarn sein (vgl. BVerwG, B.v. 10.12.1997 – 4 B 204.97 – juris Rn. 2; OVG BB, B.v. 26.6.2017 – OVG 10 N 27.14 – juris Rn. 18). Umgekehrt kann sich aber der Störer nicht darauf berufen, bei der Wiederherstellung im öffentlichen Interesse liegender baurechtmäßiger Zustände müsse die Behörde die Durchsetzbarkeit zivilrechtlicher Nachbaransprüche prüfen und berücksichtigen. Denn ebenso wie die Baugenehmigung unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt wird, ist es auch Sinn und Zweck der Beseitigungsanordnung als bauaufsichtliche Maßnahme, die tatsächlichen Verhältnisse mit den öffentlich-rechtlichen Anforderungen in Einklang zu bringen, nicht aber einen zivilrechtlichen Ausgleich zwischen den beteiligten Nachbarn zu schaffen (vgl. BayVGH, B.v. 4.7.2011 – 15 ZB 09.1237 – juris Rn. 14). Daraus ergibt sich auch kein Wertungswiderspruch zwischen dem Zivilrecht und dem öffentlichen Recht, weil eine eventuell fehlende zivilrechtliche Durchsetzbarkeit nichts über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Abstandsflächenüberschreitung und auch nichts über das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung baurechtmäßiger Zustände aussagt.
4. Schließlich ist auch dem Vortrag der Klägerin, die Beseitigungsanordnung sei unverhältnismäßig, weil ein Großteil der Bausubstanz vernichtet werde, nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass einer Beseitigungsanordnung die Vernichtung baulicher Substanz stets immanent ist, ist hier weder dargelegt noch angesichts der Aktenlage ersichtlich, dass es sich bei dem vorliegenden Verstoß gegen die Abstandsflächenvorschriften nur um eine Überschreitung von wenigen Zentimetern handelt, bei der gegebenfalls zu fragen wäre, ob ein zur Herstellung rechtmäßiger Zustände erforderlicher erheblicher Eingriff in die Bausubstanz in einem angemessenen Verhältnis zu den tatsächlichen Vorteilen steht, die der Nachbar durch die Beseitigung erlangt (vgl. BayVGH, B.v. 8.3.2007 – 1 ZB 06.898 – juris Rn. 16).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.3 des Streitwertkatalogs und folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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