Baurecht

Baugenehmigung für Chalets am Waldrand und erhöhtes Haftungsrisiko des Waldbesitzers durch Baumwurfgefahr

Aktenzeichen  M 1 K 17.2753

Datum:
26.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 139271
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 35 Abs. 3
BayBO Art. 2 Abs. 4 Nr. 15

 

Leitsatz

Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Eigentümer eines Waldgrundstücks trotz durch die Bebauung möglicherweise steigender Haftungsrisiken und unabhängig von einer etwaigen Haftungsfreistellungserklärung des Bauherrn keinen Anspruch darauf, dass der Baumwurfbereich eines benachbarten Grundstücks von jeglicher Bebauung (hier von am Waldrand gelegenen Chalets eines Campingplatzes) freigehalten wird. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2) zu tragen. Der Beigeladene zu 1) trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der Bescheid vom 9. Juni 2017 verletzt den Kläger nicht in drittschützenden Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Eine Verletzung des Klägers in zu seinem Schutz bestimmten öffentlich-rechtlichen Vorschriften durch das streitige Vorhaben liegt nicht vor.
I.
Das Bayerische Waldgesetz enthält keine Vorschrift, wonach ein Mindestabstand zu Waldflächen gefordert werden könnte.
II.
Der Kläger kann als Eigentümer eines Grundstücks im bauplanungsrechtlichen Außenbereich nach § 35 BauGB kein auf Einhaltung baurechtlicher Vorschriften gestütztes Abwehrrecht gegen das Bauvorhaben des Beigeladenen zu 1) geltend machen, selbst wenn das Bauvorhaben bauplanungsrechtlich unzulässig sein sollte. Vielmehr kann ein Nachbar sich als Dritter gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2001 – 1 ZS 00.3650 – juris Rn. 5; B.v. 29.4.2015 – 2 ZB 14.1164 – juris Rn. 4; VG München, U.v. 3.11.2015 – M 1 K 15.3173 – juris Rn. 21).
Der streitbefangene Bescheid erging im Baugenehmigungsverfahren nach Art. 60 BayBO, da es sich bei den Chalets um Sonderbauten nach Art. 2 Abs. 4 Nr. 15 BayBO handelt. Auf der Grundlage des somit relevanten Prüfungsmaßstabes käme die Annahme einer Nachbarrechtsverletzung dann in Betracht, wenn zulasten der Kläger gemäß Art. 60 Satz 1 Nr. 1 BayBO eine drittschützende Rechtsposition des Bauplanungsrechts verletzt wäre oder gemäß Art. 60 Satz 1 Nr. 2 BayBO gegen drittschützende Rechtspositionen des Bauordnungsrechts verstoßen würde, doch sind keine dieser Rechtspositionen verletzt.
1. Als drittschützende Rechtsposition des Bauplanungsrechts kommt das für den Außenbereich bei schädlichen Umwelteinwirkungen i.S.d § 3 Abs. 1 BImSchG in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB verankerte, aber auch als ungeschriebener öffentlicher Belang i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB in der Rechtsprechung anerkannte bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme in Betracht (BVerwG, B.v. 11.12.2006 – 4 B 72/06 – juris Rn. 8 – NVwZ 2007, 336 f.).
Dieses zielt darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen können, möglichst zu vermeiden. Gegenläufige Nutzungsinteressen sollen in rücksichtsvoller Weise zugeordnet und unter Beachtung des jeweils widerstreitenden Interesses ausgeübt werden (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122). Über die Vereinbarkeit eines Vorhabens mit dem Gebot der Rücksichtnahme ist auf der Grundlage einer nachvollziehenden Abwägung der im konkreten Fall widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängt von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls kommt es also wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmeberechtigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten zuzumuten ist (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.1999 – 4 C 6.98 – BauR 2000, 234 – juris Rn. 18 m.w.N.; U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122). Vom Rücksichtnahmegebot sind nur solche Einwirkungen erfasst, die bei der bestimmungsgemäßen Nutzung einer baulichen Anlage typischerweise auftreten. Sie müssen bodenrechtlich relevant sein, um als städtebaulicher Gesichtspunkt bei der Prüfung des Nachbarschutzes Beachtung zu finden.
Dies zugrundgelegt stellt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung der Interessen des Klägers einerseits und der Interessen des Beigeladenen zu 1) andererseits das mit der Baugenehmigung vom 9. Juni 2017 genehmigte Vorhaben des Beigeladenen zu 1) nicht als rücksichtlos dar. Es ist nicht ersichtlich, dass die Auswirkungen der streitgegenständlichen Bebauung bzw. Nutzung auf die bewaldeten Grundstücke des Klägers die Grenze der Zumutbarkeit überschreiten und somit rücksichtlos sind.
Eine erhebliche Einschränkung der bodenrechtlichen Nutzbarkeit des an das Vorhabengrundstück angrenzenden Waldes des Klägers durch das Bauvorhaben ist entgegen dem Klägervorbringen nicht gegeben. Der Kläger kann den an die Bebauung angrenzenden Waldstreifen nach wie vor forstwirtschaftlich nutzen. Gewisse Einschränkungen wie beispielsweise die Erforderlichkeit besonderer Sicherungsmaßnahmen beim Fällen einzelner Bäume sowie erhöhte Aufwendungen zur Bewirtschaftung des relevanten Grundstücksstreifens sind dem Kläger in Anbetracht der relativ kleinen relevanten Fläche im Vergleich zur Gesamtgröße des in seinem Eigentum stehenden Waldes zumutbar.
Die Vermeidung einer Baumwurfgefahr fällt nach der Rechtsprechung in den Verantwortungsbereich des verkehrssicherungspflichtigen Waldbesitzers (BayVGH, B.v. 5.2.1998 – 14 ZE 98.87 – BeckRS 1998, 27030 Rn. 2; VG München, U.v. 3.11.2015 – M 1 K 15.3173 – juris Rn. 26; VG Augsburg, U.v. 16.5.2013 – Au 5 K 11.1663 – juris Rn. 78). Diese dem Kläger obliegende Verkehrssicherungspflicht besteht dabei unabhängig vom streitgegenständlichen Bauvorhaben. Eine Verschlechterung des status quo durch die erteilte Baugenehmigung ist im Hinblick auf die Verkehrssicherungspflicht nicht ersichtlich, da eine etwaige Erhöhung jedenfalls nicht kausal auf die streitgegenständliche Bebauung, sondern wenn überhaupt auf die bereits erfolgte Rodung zurückzuführen wäre.
Etwaige drohende Schadensersatzansprüche (vgl. zur insoweit eher restriktiven zivilrechtlichen Rechtsprechung BGH, U.v. 12.2.1985 – VI ZR 193/83 – NJW 1985, 1773) begründen keine baurechtlich geschützte Abwehrposition, da sie den Kläger in der bodenrechtlichen Nutzbarkeit seines Grundstücks nicht einschränken. Ob sich das Haftungsrisiko durch die streitgegenständliche Bebauung im Hinblick auf die zuvor bestehende genehmigte Campingplatznutzung tatsächlich erhöht, kann dahinstehen. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Eigentümer eines Waldgrundstücks trotz durch die Bebauung möglicherweise steigender Haftungsrisiken und unabhängig von einer etwaigen Haftungsfreistellungserklärung des Bauherrn keinen Anspruch darauf, dass der Baumwurfbereich eines benachbarten Grundstücks von jeglicher Bebauung freigehalten wird (BayVGH, U.v. 10.3.1987 – 1 B 86.02710 – BayVBl. 1987, 727; VG München, U.v. 3.11.2015 – M 1 K 15.3173 – juris Rn. 26; Wolf, in: Simon/Busse, BayBO, Stand Mai 2017, Art. 4 Rn. 28). Hinzu kommt, dass das Haftungsrisiko des Klägers durch die Bestimmung in den genehmigten Plänen des Bauvorhabens, dass bei den am Waldrand gelegenen Chalets entsprechend Nr. 3.3 des vorhabenbezogenen Bebauungsplans „Sondergebiet Campingplatz …“ der Dachstuhl jeweils statisch gegen Baumfall entsprechend verstärkt wird, erheblich reduziert wird. Gemäß der Stellungnahme des Amts für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Traunstein vom 28. Juli 2014 kann einer Gefährdung für Leib und Leben der Nutzer der Chalets hierdurch – alternativ zu einem Abstand der Baukörper von mindestens 25 m zum Waldrand – hinreichend begegnet werden.
2. Drittschützenden Normen des Bauordnungsrechts sind durch die streitgegenständliche Baugenehmigung ebenfalls nicht verletzt. Zwar kann die Anordnung von Gebäuden im Baumwurfbereich den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BayBO bzw. des Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 BayBO widersprechen. Doch werden mit diesen Bestimmungen Interessen der Allgemeinheit verfolgt, nachbarschützender Charakter kommt ihnen dagegen grundsätzlich nicht zu (BayVGH, U.v. 10.3.1987 – 1 B 86.02710 – BayVBl. 1987, 727; siehe auch Dirnberger, in: Simon/Busse, BayBO, Stand Mai 2017, Art. 3 Rn. 235). Besondere Umstände, die es geboten erscheinen lassen könnten, dem Kläger ausnahmsweise einen Abwehranspruch hiernach zuzubilligen, liegen nicht vor. Die Gefahr i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BayBO geht nicht von den Chalets des Beigeladenen zu 1), sondern vom Wald des Klägers aus. Die „Gefährdung“ seines Vermögens in Gestalt von möglichen Schadensersatzansprüchen seitens des Beigeladenen zu 1) oder Dritter ist lediglich Folge der von den Bäumen des Klägers ausgehenden Gefahr. Das Vermögen des Klägers ist in dieser Beziehung nicht durch Art. 3 BayBO geschützt (BayVGH, U.v. 10.3.1987 – 1 B 86.02710 – BayVBl. 1987, 727). Der Kläger kann deshalb weder verlangen, dass der Beigeladene zu 1) sein Vorhaben außerhalb des Baumwurfbereichs anordnet, noch hat er einen Anspruch auf Abgabe einer Haftungsverzichtserklärung (BayVGH, a.a.O.). Der Eigentümer von Waldflächen kann daher auch nach Bauordnungsrecht nicht die Freihaltung der Baumfallgrenze verlangen (s. auch Dirnberger, in: Simon/Busse, BayBO, Stand Mai 2017, Art. 66 Rn. 252).
III.
Der Kläger kann auch aus dem Bebauungsplan „Sondergebiet Campingplatz …“ nichts für sich herleiten. Eine Verletzung des Abwägungsgebots zu seinen Lasten, die auf das Baugenehmigungsverfahren durchschlagen könnte, ist nicht ersichtlich. Der Bebauungsplan enthält vielmehr in Gestalt der Nr. 3.3 seiner textlichen Festsetzungen eine Bestimmung, die zumindest auch dem Schutz des Klägers dient, diesen hinreichend sicherstellt und in die angefochtene Baugenehmigung übernommen wurde. Es führt nicht zu einem Abwägungsfehler i.S.d. § 1 Abs. 7 BauGB, wenn darüber hinausgehend von der Festlegung eines Mindestabstands von 25 m abgesehen wurde. Zwar hat das IMS vom 11. Juli 1986 ermessensbindende Funktion, soweit es von der Verwaltung regelmäßig herangezogen wird. Jedoch spricht es nicht davon, dass Abstände ausnahmslos einzuhalten sind, sondern empfiehlt diese lediglich grundsätzlich. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Stellungnahme des Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Traunstein vom 28. Juli 2014 im Bauleitplanverfahren, dass seitens der Fachbehörde alternativ und gleichwertig zu dem Abstand auch bauliche Sicherungsmaßnahmen in Gestalt einer verstärkten Dachkonstruktion, wie in Nr. 3.3. der textlichen Festsetzungen, als ausreichend erachtet wurden.
Auch die vom Kläger geltend gemachte erhebliche Waldbrandgefahr vermag der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Insoweit ist im Hinblick auf die bisherige Grundstücksnutzung als Campingplatz keine Gefahrerhöhung durch das konkrete Bauvorhaben ersichtlich. Auch das IMS vom 11. Juli 1986 ist insofern nicht einschlägig, weil es nach seiner Nr. 3 Gefahren wie Funkenflug, die auf den Wald einwirken können, nicht zum Gegenstand hat.
IV.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Da der Beigeladene zu 1) keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO). Dagegen waren die Kosten der Beigeladenen zu 2) dem Kläger aufzuerlegen, da die Beigeladene zu 2) sich mit der Antragstellung einem Kostenrisiko ausgesetzt hat. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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