Baurecht

Baugenehmigung für das nachträgliche Anbringen eines Balkons

Aktenzeichen  Au 5 K 17.568

Datum:
19.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 134874
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

In einem Bebauungsplan festgesetzte Baugrenzen stellen einen Grundzug der Planung dar, wenn sich aus der Begründung und der Planzeichnung des Bebauungsplans ein städtebauliches Gesamtkonzept ergibt, welches seinen Ursprung in Lage und Kubatur der ursprünglichen Bestandsgebäude findet. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist in der Sache unbegründet.
1. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Aufhebung des Bescheids vom 20. März 2017 und auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung zu, da das Vorhaben nicht genehmigungsfähig ist. Der ablehnende Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Bayerische Bauordnung (BayBO) hat der Bauherr einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.
Das beantragte Vorhaben ist nach Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtig. Es liegt keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 BayBO vor. Das Vorhaben ist jedoch nicht genehmigungsfähig, da es an der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit fehlt.
2. Das beantragte Vorhaben ist bauplanungsrechtlich unzulässig.
a) Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens beurteilt sich nach § 30 Abs. 1 BauGB, da sich das Vorhaben im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans befindet. Der Bebauungsplan Nr. … „…“ der Beklagten ist seit dem 23. Dezember 2005 rechtsverbindlich.
Nach § 30 Abs. 1 BauGB ist im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der mindestens Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält, ein Vorhaben zulässig, wenn es diesen Festsetzungen nicht widerspricht.
Der von der Klägerin beantragte Balkon an der Nordseite und die beantragten Überdachungen an der Nord- und Südseite widersprechen den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr., weil die beantragten Anbauten die festgesetzten Baugrenzen nicht einhalten.
b) Die Klägerin hat jedenfalls hinsichtlich des beantragten Balkons auf der Nordseite des Hauses … keinen Anspruch auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplanes befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Die Befreiung dient dazu, im Genehmigungsverfahren Flexibilität bezüglich einzelner, im Vergleich zur planerischen Grundvorstellung außergewöhnlicher Fallgestaltungen zu schaffen, ohne den Rechtsnormcharakter des Bebauungsplans als Satzung nach § 10 Abs. 1 BauGB in Frage zu stellen (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5/99 – NVwZ 1999, 1110). Ob es sich bei den in Frage stehenden Festsetzungen um Grundzüge der Planung handelt, ist stets im konkreten Einzelfall anhand der Planungsabsicht der jeweiligen Gemeinde zu bewerten.
Je tiefer die Befreiung in den mit der Planung gefundenen Interessenausgleich eingreift, desto eher liegt es nahe, dass das Planungskonzept in einem Maße berührt wird, das eine (Um-)Planung erforderlich macht (vgl. BayVGH, B.v. 23.04.2015 – 15 ZB 13.2039 – juris Rn. 9; BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110). Eine Befreiung ist demnach ausgeschlossen, wenn das Vorhaben in seine Umgebung Spannungen hineinträgt oder erhöht, die nur durch eine Planung zu bewältigen sind. Was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch (Um-)Planung ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden (vgl. BayVGH, B.v. 23.04.2015 – 15 ZB 13.2039 – juris Rn. 9). Dabei kommt es jeweils darauf an, ob die fragliche Festsetzung Bestandteil eines Planungskonzepts ist, das das gesamte Plangebiet quasi wie ein roter Faden durchzieht, so dass eine Abweichung zu weitreichenden Folgen führen würde (Jäde in Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB – BauNVO, 7. Aufl. 2013, § 31 Rn.14).
Die Grundzüge der Planung bleiben nur gewahrt, wenn die Festsetzung, von der abgewichen werden soll, entweder gewissermaßen „zufällig“ erfolgt ist oder aber – wird von ihr abgewichen – der damit verbundene Eingriff in das Planungsgefüge eingegrenzt bzw. „isoliert“ werden kann (Jäde, a.a.O., § 31 Rn. 14; vgl. BVerwG, B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – BRS 67 Nr. 83; VGH BW, U.v. 14.3.2007 – 8 S 1921/06 – NVwZ-RR 2008, 225). Mit den Grundzügen der Planung ist eine Abweichung nur vereinbar, wenn die vom Plan angestrebte und in ihm zum Ausdruck gebrachte städtebauliche Ordnung nicht in beachtlicher Weise beeinträchtigt wird, d.h. wenn angenommen werden kann, die Abweichung liege im Bereich dessen, was der Planer gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes der Abweichung gekannt hätte (BVerwG, U.v. 9.3.1990 – 8 C 76/88 – BVerwGE 85, 66).
Entscheidend für die Beurteilung sind des Weiteren mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung (vgl. BVerwG vom 29.7.2008 – 4 B 11/08 – ZfBR 2008, 797 – juris Rn. 4). Eine Befreiung von einer Festsetzung, die für die Planung tragend ist, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110; Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Mai 2017, § 31 Rn. 37). Die Befreiung darf zudem nicht als Instrument dafür eingesetzt werden, eine von der Gemeinde städtebaulich getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben (vgl. OVG NRW, U.v. 20.2.2004 – 10 A 4840/01 – BRS 67 Nr. 84). Wenn die planerischen Festsetzungen, von denen befreit werden soll, für die Plankonzeption tragend sind, sind sie nicht befreiungsfähig, was vor allem für Festsetzungen in einem Bebauungsplan gilt, die den Gebietscharakter nach der Art und dem Maß der baulichen Nutzung betreffen (vgl. BVerwG, B.v. 19.5.2004 – 4 B 45.04 – juris).
c) Gemessen an diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung hinsichtlich des beantragten Balkons auf der Nordseite nicht vor, weil die Grundzüge der Planung berührt sind. Nach Auffassung der Kammer stellen die im Bebauungsplan Nr. … festgesetzten Baugrenzen einen Grundzug der Planung dar. Aus der Begründung und der Planzeichnung des Bebauungsplans der Beklagten ergibt sich ein städtebauliches Gesamtkonzept. Dieses findet seinen Ursprung in Lage und Kubatur der ursprünglichen Bestandsgebäude. Das Plankonzept der Beklagten im Sondergebiet EDW richtet sich sowohl im Süden als auch im Norden nach dem ehemaligen Bestand der vormals sechs Baukörper. Gemäß der Begründung des Bebauungsplans Nr. … nimmt die geplante Bebauung in diesem Bereich die ursprüngliche Baustruktur auf (S. 41), die ehemals markante Gebäudestruktur mit mehreren Lagergebäuden wird dabei ebenfalls baulich aufgegriffen (S. 71 und 76). Hierbei stellen nicht nur die Festsetzungen zur Anzahl der Vollgeschosse einen Grundzug der Planung dar (vgl. hinsichtlich der Anzahl der Vollgeschosse BayVGH, B.v. 23.4.2015 – 15 ZB 13.2039 – juris). Das planerische Konzept umfasst auch den Verlauf der Baugrenzen, der sich im Wesentlichen an der Dimensionierung der ehemaligen Lagergebäude orientiert. Die Festsetzungen hinsichtlich der Anzahl der Vollgeschosse und der Baugrenzen sind Bestandteile des planerischen Gesamtkonzeptes, die in ihrem Zusammenspiel die planerischen Vorstellungen der Beklagten sichern sollten. Beide Arten von Festsetzungen beziehen sich auf die unterschiedliche Dimensionierung der Haupt- und Zwischengebäude im nördlichen Teil des Sondergebiets entlang der …Straße.
In dieser Hinsicht ist die Zäsur zwischen den beiden Reihen der Hauptgebäude Teil der planerischen Absicht und gerade nicht nur zufällig entstanden. Im südlichen Bereich des Sondergebiets EDW ist hier jeweils ein Durchgang vorgesehen. Im nördlichen Teil waren zunächst Lärmschutzwände vorgesehen, die dann jedoch in zurückgesetzte Zwischengebäude mit fünf Vollgeschossen umgeplant wurden. Die Baustruktur mit drei Hauptgebäuden entlang der …Straße und deutlichen Zäsuren zwischen diesen Hauptgebäuden sollte durch eine entsprechende Gliederung der zugelassenen Bebauung nach außen sichtbar in Erscheinung treten (vgl. BayVGH, B.v. 23.4.2015 – 15 ZB 13.2039 – juris Rn. 11). Auch bei Betrachtung des Verlaufs der Baugrenzen wird deutlich, dass diese Festsetzung planvoll und im Rahmen eines Gesamtkonzepts erfolgte. Der Verlauf der Baugrenzen erscheint als planerisch durchdacht und nicht lediglich zufällig. Vorliegend wird eine optisch wahrnehmbare Gliederung der Baukörper nicht nur durch die unterschiedliche Anzahl der Vollgeschosse, sondern auch durch die zurückversetzten Baugrenzen bewirkt (vgl. BayVGH, B.v. 23.4.2015 a.a.O. Rn. 16).
Die Tatsache, dass – objektiv gesehen – die Festsetzung von Baulinien statt Baugrenzen die planerische Konzeption besser verwirklicht hätte, spricht nicht gegen die Annahme eines Grundzugs der Planung. Einen Grundsatz, dass die planerische Konzeption nur dann als Grundzug einer Planung Geltung beansprucht, wenn sie möglichst effektiv ist, gibt es nicht. Insbesondere lässt dies im vorliegenden Fall keinen Schluss dahingehend zu, dass die Festsetzung nur zufällig erfolgt ist. Es spricht angesichts der Entstehungsgeschichte und der Lage und Kubatur der historischen Baukörper vielmehr vieles dafür, dass der Plangeber die Festsetzung von Baugrenzen für die Verwirklichung seiner planerischen Absichten als ausreichend angesehen hat, da er nicht davon ausgegangen war, dass durch das Zurückbleiben der Bebauung hinter den Baugrenzen die gewünschte Zäsurwirkung verhindert werden würde.
Diese Einschätzung wird auch nicht durch bereits erteilte Befreiungen in Frage gestellt. Bereits erteilte Befreiungen hindern nicht die Annahme eines Grundzugs der Planung oder des Berührtseins dieser Grundzüge. Denn die Frage, ob sich bisherige Abweichungen von den die Grundzüge der Planung bestimmenden Festsetzungen auf das Vorliegen oder das Berührtsein der Grundzüge der Planung auswirken, ist grundsätzlich zu verneinen. Wenn von der Wirksamkeit des Bebauungsplans weiterhin auszugehen ist, obwohl bestimmte Festsetzungen, die einen Teil eines Grundzugs der Planung darstellen, an einigen Stellen nicht realisiert wurden, dann kann auch weiterhin von einem Vorliegen darauf bezogener Grundzüge, die im Rahmen der Erteilung einer Befreiung relevant sind, ausgegangen werden. Denn die Festsetzungen eines Bebauungsplans haben, solange nicht von einer Funktionslosigkeit des Bebauungsplans auszugehen ist, Geltungsanspruch unabhängig von dem Stand ihrer Verwirklichung (Söfker in Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Mai 2017 § 31 Rn. 37a). Ausschlaggebend ist diesbezüglich nur, ob die Festsetzung, von der im Wege der Befreiung abgewichen werden soll, weiterhin realisiert werden kann (vgl. BVerwG, B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – ZfBR 2007, 72). Dem steht vorliegend die erteilte Befreiung für das nordwestliche Treppenhaus nicht entgegen. Dieses nur teilweise außerhalb der Baugrenzen befindliche Treppenhaus zeichnet trotz der erteilten Befreiung den von der Planung erwünschten Rücksprung mit Zäsurwirkung nach.
Demzufolge stellen die streitgegenständlichen Baugrenzen einen Grundzug der Planung im Baugebiet dar. Eine Befreiung wäre jedenfalls hinsichtlich des Balkons auf der Nordseite von einem solchen Gewicht, dass Grundzüge der Planung berührt sind. Auf das Vorliegen der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB und auf die Frage der Ermessensausübung kommt es daher nicht mehr an.
d) Die Klägerin hat jedenfalls hinsichtlich des Balkons auf der Nordseite keinen Anspruch auf Erteilung einer Befreiung. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob hinsichtlich der beantragten Überdachungen der vorhandenen Balkone auf der Südseite ebenfalls die Grundzüge der Planung berührt sind. Da das streitgegenständliche Vorhaben nicht abweichend vom Bauantrag in einen zulässigen und einen nicht zulässigen Teil aufgeteilt werden kann, besteht insgesamt kein Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung.
Nach alledem war die Klage als unbegründet abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).


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