Baurecht

Baugenehmigung für Mehrfamilienhaus mit acht Wohneinheiten und einer Gewerbeeinheit unter Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans

Aktenzeichen  9 CS 19.1514

Datum:
3.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4557
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 16 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2

 

Leitsatz

1. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung und zu den überbaubaren Grundstücksflächen sind grundsätzlich nicht drittschützend. Gleiches gilt für die Festsetzungen zur Dachneigung und Dachaufbauten. Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab (hier entsprechender nachbarschützender Wille des Plangebers bei Festsetzungen zur Grundflächen- und Geschossflächenzahl verneint). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Befreit die zuständige Behörde im Rahmen einer Genehmigung (hier für Mehrfamilienhaus mit acht Wohneinheiten und einer Gewerbeeinheit) von nicht nachbarschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans, ist die Prüfung im Rechtsbehelfsverfahren eines Nachbarn über das im Begriff der nachbarlichen Interessen in § 31 Abs. 2 BauGB enthaltene und allein nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme beschränkt. Einen darüber hinausgehenden Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung bei der Erteilung einer Befreiung hat der Nachbar nicht.  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 4 S 19.512 2019-07-12 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,– Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die der Beigeladenen von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 12. April 2019 erteilte bauaufsichtliche Genehmigung zum Neubau eines Mehrfamilienhauses mit acht Wohneinheiten und einer Gewerbeeinheit für Büroräume samt Tiefgarage auf dem Grundstück FlNr. 3737/17 Gemarkung Damm. Mit dem Bescheid wurden zugleich mehrere Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 19/1 der Antragsgegnerin „für das Gebiet zwischen A. straße, G. straße, Aschaff und D2. straße“ hinsichtlich der Überschreitung der GRZ und der GFZ sowie einer Abweichung von der Dachneigung und der Errichtung von drei flach geneigten Schleppdachgauben erteilt.
Das Grundstück des Antragstellers FlNr. 3737/19 derselben Gemarkung grenzt östlich an das Vorhabengrundstück an. Es liegt ebenfalls im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 19/1 der Antragsgegnerin und ist mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebaut, für dessen Errichtung ebenfalls Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt wurden.
Der Antragsteller erhob gegen die Baugenehmigung Klage zum Verwaltungsgericht, über die noch nicht entschieden ist. Seinen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 12. Juli 2019 ab. Durch die der Beigeladenen erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans werde keine Rechtsverletzung des Antragstellers begründet, da diesen Festsetzungen kein nachbarschützender Charakter zukomme. Die Befreiungen seien weder im Einzelnen noch in ihrer Gesamtheit gegenüber dem Anwesen des Antragstellers rücksichtslos. Zwar seien die Ausführungen im angefochtenen Bescheid hinsichtlich der Berücksichtigung der nachbarlichen Interessen bei der Erteilung der Befreiungen knapp gehalten. Von einem Ermessensausfall könne aber keine Rede sein.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe das im Bebauungsplan festgesetzte Maß der baulichen Nutzung erkennbar nachbarschützende Wirkung, weil die darauf bezogenen Festsetzungen den Sinn hätten, die zu errichtenden Bauvorhaben auf eine bestimmte Baumasse zu begrenzen. Hier wandle sich Quantität in Gestalt der Begrenzung der Baumasse in Qualität um. Beim genehmigten Objekt werde eine massive Erhöhung der Baumasse zugelassen, die dem im Eigentum des Antragstellers stehenden Nachbaranwesen verwehrt worden sei. Unter Berücksichtigung dieser Ungleichbehandlung stelle sich das genehmigte Vorhaben als rücksichtslos dar. Schließlich sei das Fehlen einer ausreichenden Begründung für die erteilten Befreiungen ein Indiz für die Ermessensfehlerhaftigkeit und damit für die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung.
Der Antragsteller beantragt,
unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 18. Juli 2019, bekannt gegeben am 22. Juli 2019, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die der Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung vom 12. April 2019 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Verwaltungsgerichts für zutreffend. Das streitgegenständliche Bauvorhaben bleibe in der Dimensionierung weit hinter dem Bauvorhaben des Antragstellers auf dem Nachbargrundstück zurück.
Die Beigeladene hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers zu Recht abgelehnt, weil dessen Klage im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben wird. Die angefochtene Baugenehmigung verstößt, worauf es allein ankommt, nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die zumindest auch dem Schutz des Antragstellers zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass den Festsetzungen im Bebauungsplan zum Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und den überbaubaren Grundstücksflächen keine nachbarschützende Funktion zukommt.
Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung, hier zur GRZ, zur GFZ und zur Anzahl der Vollgeschosse (§ 16 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 BauNVO), und zu den überbaubaren Grundstücksflächen (§ 23 BauNVO) sind grundsätzlich nicht drittschützend (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 27.11.2019 – 9 CS 19.1595 – juris Rn. 23 m.w.N.). Gleiches gilt für die Festsetzungen zur Dachneigung und Dachaufbauten (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Stand: Dezember 2019, Art. 66 Rn. 377 und 381). Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 5.8.2019 – 9 ZB 16.1276 – juris Rn. 5). Darauf hat auch das Verwaltungsgericht im Ausgangspunkt abgestellt und weder aus der Begründung zum Bebauungsplan noch aus sonstigen Umständen Anhaltspunkte für einen solchen Willen der Antragsgegnerin als planender Gemeinde entnehmen können.
Zwar wird im Beschwerdevorbringen zutreffend darauf hingewiesen, dass sich eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dann ergeben kann, wenn solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis stehen (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 15). Anhaltspunkte hierfür lassen sich dem Beschwerdevorbringen aber nicht entnehmen. Der Hinweis, der Plangeber habe mit dem im Bebauungsplan festgesetzten Maß der baulichen Nutzung die zu errichtenden Bauvorhaben auf eine bestimmte Baumasse begrenzen wollen, um gerade die Interessen der Anwohner des Gebiets an einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung ihrer Anwesen zu berücksichtigen, reicht hierfür nicht aus. Gerade hinsichtlich der im Beschwerdevorbringen erwähnten GRZ und GFZ enthält der Bebauungsplan keine spezifischen Festsetzungen, sondern verweist lediglich pauschal auf die Werte des § 17 BauNVO 1962 als Höchstwerte.
Entgegen dem Beschwerdevorbringen lässt sich eine nachbarschützende Wirkung der Maßfestsetzungen auch nicht damit begründen, dass hier ausnahmsweise „Quantität in Qualität“ umschlägt, also die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen kann (vgl. BVerwG, U.v. 16.3.1995 – 4 C 3.94 – juris Rn. 17). Es ist nicht ersichtlich, dass ein Wohn- und Geschäftshaus mit acht Wohneinheiten und einer Gewerbeeinheit gerade auch unter Berücksichtigung des benachbarten Wohn- und Geschäftshauses des Antragstellers in ungefähr gleicher Größe eine Größe aufweist, die es erlauben würde, von einer in einem Mischgebiet andersartigen Nutzungsart zu sprechen.
2. Nach den überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts ist auch kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme durch die erteilten Befreiungen ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht verneint, dass das Anwesen des Antragstellers durch das Bauvorhaben „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Es hat zutreffend darauf hingewiesen, dass das geplante Bauvorhaben in der Höhe leicht hinter dem Gebäude auf dem Nachbargrundstück des Antragstellers zurückbleibt und dieses eine deutlich größere Grundfläche als das Bauvorhaben aufweist. Dem wird im Beschwerdevorbringen nicht substantiiert entgegengetreten. Allein der Hinweis auf eine angebliche Ungleichbehandlung bei der Erteilung von Befreiungen bezüglich des Gebäudes auf dem Grundstück des Antragstellers und dem geplanten Bauvorhaben reicht hierfür nicht aus.
3. Schließlich kann sich der Antragsteller auch nicht darauf berufen, die Befreiungen seien ermessensfehlerhaft erteilt worden. Befreit die zuständige Behörde – wie hier – von nicht nachbarschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans, ist die Prüfung im Rechtsbehelfsverfahren eines Nachbarn über das im Begriff der nachbarlichen Interessen in § 31 Abs. 2 BauGB enthaltene und allein nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme beschränkt. Einen darüber hinausgehenden Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung bei der Erteilung einer Befreiung hat der Nachbar nicht (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 – juris Rn. 5 und 7).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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