Baurecht

Bauvorhaben fügt sich in die Eigenart der näheren Umgebung ein

Aktenzeichen  M 8 K 14.3168

Datum:
18.1.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34

 

Leitsatz

1 Bei der Frage, ob sich ein Vorhaben in die nähere Umgebung einfügt, ist für die in § 34 Abs. 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale die nähere Umgebung jeweils gesondert zu ermitteln.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Die nähere Umgebung iSd § 34 Abs. 1 BauGB ist der umliegende Bereich auf den das Vorhaben eine Auswirkung haben kann und das Vorhaben den bodenrechtlichen Charakter des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks prägt oder beeinflusst (ebenso BVerwG BeckRS 2008, 39787).  (redaktioneller Leitsatz)
2 Um das Maß der baulichen Nutzung zu bestimmen, kann als Auslegungshilfe die Baunutzungsverordnung herangezogen werden; Enscheidend sind jedoch die Maßfaktoren, die nach außen hin wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung in Beziehung zueinander setzen lassen.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung des Bescheids vom 30. Juni 2014, die mit Bauantrag vom 18. März 2014 nach Plan-Nr. … beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung i. H. v. 110% des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Erteilung der beantragten Baugenehmigung, da das Vorhaben keinen öffentlichen Vorschriften widerspricht, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind (§ 113 Abs. 5 VwGO, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO, Art. 59 Abs. 1 BayBO) und Ablehnungsgründe nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO nicht vorliegen.
1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens beurteilt sich im Hinblick auf das übergeleitete Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen nach § 34 BauGB.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.
1.1 Der Art nach fügt sich das geplante Vorhaben unstreitig in die ausschließlich von Wohnnutzung geprägte Umgebung ein (§ 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 3 BauNVO).
1.2 Ebenso fügt sich das Vorhaben hinsichtlich des geplanten Maßes der baulichen Nutzung in seine nähere Umgebung ein.
1.2.1 Als „maßgebliche nähere Umgebung“ ist dabei der umliegende Bereich anzusehen, soweit sich die Ausführung des Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks prägt oder beeinflusst (BVerwG v. 26.5.1978, BauR 1978 S. 276; BVerwG v. 28.8.1998, NVwZ-RR 1999 S. 105; v. 11.2.2000, Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 197; BVerwG v. 28.8.2003 – 4 B 74/03 – juris). Welcher Bereich als „nähere Umgebung“ anzusehen ist, hängt davon ab, inwieweit sich einerseits das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits sich diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirken (BayVGH, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 m. w. N.). Daraus folgt, dass nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft des Baugrundstücks zu berücksichtigen ist, sondern auch die Bebauung der Umgebung insoweit berücksichtigt werden muss, als auch diese noch prägend auf das Baugrundstück wirkt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: 119. EL November 2015, § 34 Rn. 36). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. In der Regel gilt bei einem inmitten eines Wohngebiets gelegenen Vorhaben als Bereich gegenseitiger Prägung das Straßengeviert und die gegenüberliegende Straßenseite (BayVGH, B.v. 27.9.2010 – 2 ZB 08.2775 – juris Rn. 4; U.v. 10.7.1998 – 2 B 96.2819 – juris Rn. 25; U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 und U.v. 24.7.2014 – 2 B 14.1099 – juris Rn. 20).
Dabei ist die nähere Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann. Bei dem Kriterium des Nutzungsmaßes ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Nutzungsart (BayVGH, B.v. 16.12.2009 – 1 CS 09.1774 – juris Rn. 21 m. w. N.).
Gemessen an diesen Vorgaben erstreckt sich die für den Parameter des Nutzungsmaßes maßgebliche nähere Umgebung sowohl auf den Bereich nördlich und südlich des Vorhabengrundstücks, entlang der Westseite der …straße (Fl.Nr. …, … und …) und auf die Bebauung auf der gegenüber liegenden Straßenseite, als auch – entgegen der Ansicht der Beklagten – auf das südöstlich des Vorhabengrundstücks liegende Grundstück …straße 6/… Straße 65 (Fl.Nr. …). Zwar liegen die Anwesen …straße 6 und … Straße 65 schräg gegenüber dem Vorhabengrundstück in Richtung Südosten und sind durch den ca. 35 m breiten, begrünten …-Platz von dem Vorhabengrundstück getrennt. Der bei dem Augenschein gewonnene Eindruck hat jedoch ergeben, dass der …-Platz hinsichtlich der Bebauung rund um diesen Platz als verbindendes und verknüpfendes Element wirkt. Wegen der Kleinteiligkeit des Platzes besteht eine klare Sichtbeziehung zwischen dem Baugrundstück und dem Gebäude …straße 6. Auch das baugleiche Gebäude … Straße 65 kann von dem Baugrundstück aus in den Blick genommen werden. Aufgrund dieser deutlichen Sichtbeziehung und ähnlicher Bebauungsstruktur rund um den Platz, entsteht der Eindruck einer einheitlichen zusammengehörigen Bebauung, so dass eine wechselseitige Prägung dieser Bebauung gegeben ist. Damit gehören die schräg gegenüber dem Vorhabengrundstück liegenden Gebäude … Straße 65 und …straße 6 zu der prägenden näheren Umgebung hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB.
1.2.2 Das streitgegenständige Bauvorhaben hält sich innerhalb des durch seine nähere Umgebung vorgegebenen Maßes der baulichen Nutzung und fügt sich insoweit in diese ein.
Ein Vorhaben fügt sich dann nicht im Sinn des § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn es, bezogen auf die in dieser Vorschrift genannten Kriterien, den aus der Umgebung ableitbaren Rahmen überschreitet und geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche bewältigungsbedürftige Spannungen zu begründen oder zu erhöhen (BVerwG, B.v. 25.3.1999 – 4 B 15/99 – juris Rn. 5). Bei der Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung kann dabei mangels anderer allgemein anerkannter Anhaltspunkte auf die in der Baunutzungsverordnung verwendeten Begriffsmerkmale zurückgegriffen werden. Das bedeutet aber nicht, dass die Maßbestimmungsfaktoren des § 16 Abs. 2 BauNVO – unterschiedslos und möglicherweise gar mit allen Berechnungsregeln der BauNVO – wie Festsetzungen eines Bebauungsplans rechtssatzartig heranzuziehen wären. Die Vorschriften der Baunutzungsverordnung können im unbeplanten Innenbereich lediglich als Auslegungshilfe berücksichtigt werden. Maßgeblich bleibt die konkrete, am tatsächlich Vorhandenen ausgerichtete Betrachtung. Im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB ist daher in erster Linie auf solche Maßfaktoren abzustellen, die nach außen hin wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung in Beziehung zueinander setzen lassen. Ihre (absolute) Größe nach Grundfläche, Geschosszahl und Höhe, bei offener Bebauung zusätzlich auch ihr Verhältnis zur umgebenden Freifläche, prägen das Bild der maßgeblichen Umgebung und bieten sich deshalb vorrangig als Bezugsgrößen zur Ermittlung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung an (BVerwG, U.v. 23.3.1994 – 4 C 18/92 – juris Rn. 7).
Für das Einfügen nach dem Maß der baulichen Nutzung kommt es nicht auf die Feinheiten der an landesrechtliche Begriffe (Vollgeschoß) und die Art der baulichen Nutzung (Aufenthaltsräume) anknüpfenden Berechnungsregeln der Baunutzungsverordnung für die Geschoßfläche an; entscheidend ist vielmehr allein, ob sich das Gebäude als solches in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (BVerwG, U.v. 23.3.1994 – 4 C 18/92 – juris Rn. 7).
Unter Zugrundelegung dieser Bezugsgrößen fügt sich das Bauvorhaben auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung in seine Umgebung ein und überschreitet nicht dessen Rahmen.
Die in der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks liegenden Gebäude … Straße 65 und …straße 6 auf der Fl.Nr. … dienen vorliegend als Vorbilder für das geplante Bauvorhaben. Diese Gebäude bleiben mit ihrer Grundfläche ca. 14 m² hinter der Grundfläche des geplanten Dreispänners zurück und verfügen damit über eine dem Bauvorhaben vergleichbare Grundfläche. Der Grundflächenunterschied von ca. 14 m² ist mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar.
Auch hinsichtlich der Geschosszahl und der Höhe lassen sich die Gebäude … Straße 65 und …straße 6 als Vorbilder für das streitgegenständliche Vorhaben heranziehen. Der geplante Dreispänner soll – ebenso wie die Vergleichsobjekte – über zwei Geschosse mit einem ausgebauten Dachgeschoss verfügen. Zwar tritt das ausgebaute Dachgeschoss des Vorhabens wegen des geplanten Mansardgiebeldaches mit giebelseitigen Fenstern und straßenseitigen Dachgauben nach Außen deutlich in Erscheinung und vermittelt den Eindruck der Dreigeschossigkeit. Allerdings kommt auch den Gebäuden … Straße 65 und …straße 6 eine dreigeschossige Wirkung zu. Diese verfügen augenscheinlich über zwei ausgebaute Dachebenen und zwei Dachgauben an der Nordseite, sowie über eine größere Dachgaube an der Südseite, die wegen ihrer Massivität nahezu zwerchgiebelartig wirkt. Diese zahlreiche massive Dachaufbauten lassen die Gebäude dreigeschossig wirken und beeinflussen insoweit die Höhenentwicklung in der näheren Umgebung, so dass sich das – nahezu gleich hohe Vorhaben – an dieser Bebauung orientieren kann. Zudem verfügen die Gebäude … Straße 65 und …straße 6 über einen etwa 1 m vorspringenden, knapp 3 m breiten zweigeschossigen Erker auf der Südseite, der die Gebäude in ihrer Gesamtkubatur massiver wirken lässt, so dass sich das Vorhaben auch hinsichtlich seiner Gesamtkubatur innerhalb des in der näheren Umgebung angelegten Rahmens hält.
1.3 Schließlich begegnet das Bauvorhaben auch hinsichtlich des Einfügens nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, keinen rechtlichen Bedenken. Das geplante Vorhaben kann die Bebauungstiefe von dem unmittelbar benachbarten Gebäude …straße 19, Fl.Nr. … ableiten, so dass sich auch insoweit ein Vorbild in der näheren Umgebung finden lässt.
2. Da weder sonstige öffentlichrechtliche Vorschriften – die Inhalt des Prüfumfangs der Baugenehmigung sind – noch sonstige Ablehnungsgründe bauordnungsrechtlicher Art gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO dem Vorhaben entgegenstehen, war die Beklagte zur Erteilung der beantragten Baugenehmigung zu verpflichten und der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO vollumfänglich stattzugeben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 37.500,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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