Baurecht

Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans

Aktenzeichen  1 ZB 21.2577

Datum:
14.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 952
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab, wobei entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde, je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zu den Grundzügen der Planung gehört die Entscheidung des Satzungsgebers, durch die Festsetzung von Höhenkoten die jeweilige Bebauung an das natürliche Geländeniveau anzupassen und (zusätzlich) einen größeren Niveauunterschied zur bestehenden nördlichen Bebauung zu vermeiden. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Wenn die Grundzüge der Planung berührt werden, scheidet eine Befreiung aus. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 1 K 19.4109 2021-07-27 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 20.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Kläger begehren die Erteilung einer Baugenehmigung für das von ihnen 2015 zunächst im Rahmen einer Genehmigungsfreistellung errichtete Einfamilienhaus mit Doppelgarage unter Befreiung von der Festsetzung der Höhenkote der am 11. Dezember 2007 beschlossenen und am 17. Dezember 2007 bekannt gemachten 15. Änderung des Bebauungsplans „T.“ der Gemeinde G. (nachfolgend „Bebauungsplan“), in dessen Geltungsbereich das Grundstück FlNr. …19, Gemarkung T. (nachfolgend „Baugrundstück“), liegt.
Bei einer Baukontrolle im Jahr 2016 stellte das Landratsamt fest, dass das klägerische Gebäude planabweichend und unter Verstoß gegen die Festsetzungen des Bebauungsplans errichtet wurde, da es die vorgegebene Höhe um 48 cm überschritt. Den daraufhin gestellten Bauantrag nahmen die Kläger 2016 nach einem Hinweis des Landratsamts auf die beabsichtigte Ablehnung des Antrags zurück; das Landratsamt sprach eine Duldung für das Gebäude aus. Mit Bescheid vom 16. Juli 2019 lehnte das Landratsamt den im Jahr 2018 (erneut) gestellten Bauantrag der Kläger ab. Die Gemeinde hatte jeweils ihr Einvernehmen zu der beantragten Befreiung erteilt. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Das Vorhaben widerspreche den Festsetzungen des Bebauungsplans zur festgesetzten Höhenkote. Ein Anspruch auf Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB bestehe nicht, weil das Vorhaben Grundzüge der Planung berühre.
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor bzw. ist nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass die Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur maximal zulässigen Höhenkote nicht in Betracht kommt, weil durch das Vorhaben die Anpassung der Bebauung an das natürliche Geländeniveau auf sämtlichen Grundstücken in Frage gestellt würde und dadurch Grundzüge der Planung berührt würden.
Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris Rn. 3). Das angefochtene Urteil geht von diesen Grundsätzen aus und legt anhand der Begründung des Bebauungsplans dar, dass das Grundkonzept der Bauleitplanung, das für das gesamte Plangebiet gilt, nach wie Geltung beansprucht und die von den Klägern begehrte Abweichung von der festgesetzten Höhenkote in einem Maße darüber hinausginge, welches Veranlassung für eine Änderung der entsprechenden Festsetzungen böte. Damit wäre der Rahmen einer Randkorrektur der vorgegebenen Bauleitplanung „Anpassung der Bebauung an das natürliche Geländeniveau auf den Grundstücken“ durch die Erteilung einer Befreiung deutlich überschritten (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10.09 – BVerwGE 138, 166; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris Rn. 37; B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110). Soweit die Kläger im Hinblick auf das hängige Gelände und eine dadurch erforderliche unterschiedliche Betrachtung der örtlichen Situation sowie der im Plangebiet gelegenen Grundstücke an ihrer Auffassung festhalten, dass durch die Festsetzung vor allem die nördlich gelegenen Wohnhäuser vor einer höher gelegenen Bebauung geschützt werden sollten, ergeben sich keine rechtlichen Zweifel an der angefochtenen Entscheidung. Zu den Grundzügen der Planung gehört die Entscheidung des Satzungsgebers, durch die Festsetzung von Höhenkoten die jeweilige Bebauung an das natürliche Geländeniveau anzupassen und (zusätzlich) einen größeren Niveauunterschied zur bestehenden nördlichen Bebauung zu vermeiden. Es reicht nicht aus, den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Motivation der Gemeinde lediglich einen behaupteten alleinigen Schutz der nördlichen Wohnbebauung als Anlass für das Bauplanungsverfahren entgegenzuhalten, zumal sich dies weder aus der Begründung des Bebauungsplans noch aus der vorliegenden Normaufstellungsakte ergibt. Welche Konsequenz eine „ungenaue Zitierung“ der Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB durch das Verwaltungsgericht haben soll, legen die Kläger weder dar noch ist eine solche erkennbar.
Soweit das Zulassungsvorbringen ausführt, dass mit der Auffassung des Verwaltungsgerichts zur Unbeachtlichkeit der 13. Änderung des Bebauungsplans für die Beurteilung des planerischen Grundkonzepts kein Einverständnis bestehe, fehlt es bereits an einer Auseinandersetzung mit der Begründung des Verwaltungsgerichts. Wie das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, entfalten etwaige vorangegangene Fassungen keinerlei Wirkung für die Zukunft, da jede Änderung eines gültigen Bebauungsplans die Änderung eines bestehenden bzw. die Aufstellung eines neuen planerischen Grundkonzepts darstellt. Dies folgt über § 10 BauGB aus dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtssatz, dass die spätere Norm die frühere verdrängt (vgl. BVerwG, B.v. 16.5.2017 – 4 B 24.16 – ZfBR 2017, 682). Für die einzelnen textlichen Festsetzungen eines Bebauungsplans gilt nichts Anderes. Mit der 15. Änderung des Bebauungsplans hat die Gemeinde die frühere städtebauliche Konzeption, die Gebäude am A.weg an der Höhenentwicklung der Straße zu orientieren, aufgegeben. Die Grundzüge der Planung sind vorliegend auch nicht obsolet geworden. Zwar hält auch das auf dem unmittelbar westlich an das Baugrundstück angrenzenden Nachbargrundstück errichtete Gebäude die im Bebauungsplan festgesetzte Höhenkoten nicht ein und wurde höher errichtet. Dies ist jedoch allein dem Umstand geschuldet, dass die Errichtung des Gebäudes zeitlich vor der Bekanntmachung der 15. Änderung des Bebauungsplans erfolgte und damit an abweichenden Festsetzungen zu messen war. Zudem steht mit dem planerischen Grundkonzept des angegriffenen Bebauungsplans fest, dass bei Abbruch und Neubau des Gebäudes die festgelegten Höhenkoten einzuhalten wären.
Ohne Erfolg machen die Kläger weiter geltend, dass das Festhalten an den Festsetzungen der Höhenkoten für die Grundstücke am A.weg entgegen der Planvorstellung der Gemeinde, die einer Befreiung von der Festsetzung zugestimmt hatte, nicht mit § 31 BauGB vereinbar wäre. Denn dass die Baugenehmigungsbehörde nicht an das erteilte Einvernehmen gebunden ist, ergibt sich unschwer anhand der gesetzlichen Bestimmungen und ist im Übrigen auch in der Rechtsprechung geklärt (vgl. BVerwG, B.v. 15.11.1991 – 4 B 191.91 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 28.9.2021 – 1 ZB 21.386 – juris Rn. 11). Auch die von der festgesetzten Höhenkote abweichende Errichtung des Nachbargebäudes vor In-Kraft-Treten der 15. Änderung des Bebauungsplans führt nicht dazu, dass auf der Grundlage der Darlegungen des Planungsträger in der Planbegründung die Annahme gerechtfertigt ist, dass eine Umsetzung der festgesetzten grundstücksbezogenen Höhenkoten nicht realisiert werden kann (vgl. BVerwG, B.v. 28.4.2004 – 4 C 10.03 – BauR 2004, 1567; B.v. 3.12.1998 – 4 CN 3.97 – BVerwGE 108,71; BayVGH, U.v. 13.2.2015 – 1 B 13.646 – juris Rn. 30). Im Übrigen bleibt es der Gemeinde unbenommen, in der neueren Planung auf die Besonderheiten der jeweiligen Grundstücke Rücksicht zu nehmen.
Wenn – wie hier – die Grundzüge der Planung berührt werden, scheidet eine Befreiung aus (vgl. BVerwG, B.v. 24.0.2009 – 4 B 29.09 – juris Rn. 5). Zudem entfaltet die Zulassung einer abweichenden (höheren) Höhenfestsetzung Vorbildwirkung für andere Grundstücke. Denn die Gründe, die für eine solche Befreiung tragend wären, ließen sich für weitere Grundstücke im Plangebiet anführen.
Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner zu tragen, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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