Aktenzeichen 1 ZB 14.2723
Leitsatz
Beruht das Urteil des Verwaltungsgerichts auf zwei selbständig tragenden Gründen (Mehrfachbegründung), darf die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jedes der beiden Gründe ein Zulassungsgrund besteht (vgl. BayVGH BeckRS 2004, 20014). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 11 K 13.1408 2014-07-24 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Anträge werden abgelehnt.
II. Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens je zur Hälfte.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
Der Zulassungsantrag der Beigeladenen ist unzulässig, weil er nicht fristgerecht eingelegt worden ist. Einen Anschlussrechtsbehelf sieht das Gesetz nicht vor (BVerwG, U.v. 11.4.2002 – 4 C 4.01 – BVerwGE 116, 169; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Auflage, § 127 Rn. 6).
Der Zulassungsantrag des Beklagten, der auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützt wird, hat keinen Erfolg. Soweit das Verwaltungsgericht, das den Beklagten zur Erteilung einer Baugenehmigung für einen Wintergartens verpflichtet hat, eine Überschreitung der durch Bebauungsplan festgesetzten zulässigen Geschossfläche verneint hat, weil es von der Unwirksamkeit der insoweit entgegenstehenden Festsetzung Nr. 3.3 zur Anrechnung von Flächen im Dachgeschoss ausgegangen ist, hat der Beklagte die ernstlichen Zweifel bereits nicht hinreichend dargelegt (1.). Soweit das Verwaltungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Befreiung von der westlichen Baugrenze angenommen hat, vermag der Zulassungsantrag die Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zu erschüttern (2.).
1. Im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht festgestellte Unwirksamkeit der Festsetzung Nr. 3.3 genügt der Vortrag des Beklagten nicht den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.
Beruht das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts auf zwei selbständig tragenden Gründen (Mehrfachbegründung), darf die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jedes der beiden Gründe ein Zulassungsgrund besteht (BayVGH, B.v. 30.10.2003 – 1 ZB 01.1961 – NVwZ-RR 2004, 391; vgl. zu den Darlegungsanforderungen im Revisionsverfahren BVerwG, B.v. 12.1.2017 – 4 BN 1.17 – juris; B.v. 17.12.2010 – 9 B 60.10, BayVBl 2011, 352; B.v. 19.8.1997 – 7 B 261.97 – NJW 1997, 3328).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung hier nicht durchgreifend in Frage gestellt. Das Verwaltungsgericht ist von der Unwirksamkeit der nach § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO grundsätzlich zulässigen Festsetzung ausgegangen, die eine Anrechnung der Flächen von Aufenthaltsräumen einschließlich der zu ihnen gehörenden Treppenräumen in Dachgeschossen, die nicht Vollgeschosse im Sinne der Bayerischen Bauordnung sind, auf die Geschossfläche bestimmt, mit der Folge, dass das Bauvorhaben die durch den Bebauungsplan festgesetzte zulässige Geschossfläche von 240 m² einhält. Seine Annahme hat das Verwaltungsgericht auf zwei voneinander unabhängige Begründungen gestützt. Zum einen hat es auf die Diskrepanz zwischen dem Inhalt der Festsetzung und dem Wortlaut der Begründung zum Bebauungsplan abgestellt. Zum anderen hat es die Erforderlichkeit der Festsetzung wegen Fehlens von städtebaulichen Gründen verneint.
Das Vorbringen des Beklagten setzt sich zwar eingehend mit dem ersten Argument des Verwaltungsgerichts, der abweichenden Aussage zwischen Festsetzung und Begründung und ihren Folgen auseinander, nicht aber mit dem weiteren Argument der fehlenden Erforderlichkeit der Festsetzung. Insbesondere enthält der Vortrag des Beklagten keine Aussage dazu, dass die Festsetzung städtebaulich erforderlich ist. Der Beklagte verweist in seinem Zulassungsantrag im Hinblick auf die Frage nach dem notwendigen Begründungsumfang lediglich darauf, dass eine eigenständige Darlegung von städtebaulichen Gründen in der Begründung im Hinblick auf die Festsetzung zu weitreichend sei. Der Beklagte verkennt dabei – auch soweit er die Unbeachtlichkeit eines Abwägungsmangels nach § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB anspricht -, dass die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur städtebaulichen Rechtfertigung nicht auf eine defizitäre Begründung oder Abwägung, sondern auf das Fehlen der Erforderlichkeit im Sinn von § 1 Abs. 3 BauGB zielen. Dies wird auch unter Heranziehung der in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zitierten Kommentarstellen deutlich, die sich mit der städtebaulichen Rechtfertigung im Sinn der Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 BauGB bei Festsetzungen nach § 20 Abs. 3 Satz 2 BauNVO befassen. Demzufolge stellen die Rechtsausführungen des Verwaltungs-gerichts eine selbständig tragende Begründung dar.
2. Im Übrigen vermögen die ausreichenden Darlegungen zum Befreiungsanspruch des Klägers von der westlichen Baugrenze nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung nicht zu begründen. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB hat.
a) Insbesondere werden durch die Überschreitung der westlichen Baugrenze die Grundzüge der Planung nicht berührt, da die Abweichung von der festgesetzten westlichen Baugrenze in geringfügigem Maße nicht die planerische Grundkonzeption in Frage stellt (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110). Der Argumentation des Verwaltungsgerichts ist zu folgen, dass aufgrund des Verlaufs der westlichen Bau- und Grundstücksgrenze auf dem klägerischen Grundstück im Vergleich zu deren Verlauf auf den unmittelbar südlich und nördlich angrenzenden Grundstücken die Zulassung des Bauvorhabens zu keinem näheren Heranrücken an die westliche Grundstücksgrenze führt, als dies bei den nördlich und südlich ge-legenen Grundstücken der Fall ist. Dadurch wird im Ergebnis die planerische Grundkonzeption nicht tangiert.
Auch wird durch die Befreiung das planerische Konzept in Form einer von dem Beklagten befürchteten Vorbildwirkung für eine Vielzahl von gleichgelagerten Fällen nicht verändert (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 a.a.O.). Zumindest im Straßengeviert, in dem das klägerische Grundstück gelegen ist, lässt sich die besondere Situation, die vorliegend die Befreiung rechtfertigt, nicht ohne Weiteres auf andere Grundstücke übertragen. Einer Atypik, wie von der Beklagten vorgetragen, bedarf es im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht (BVerwG, B.v. 5.3.1999 a.a.O.; Söfker in Ernst/ Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand 1.10.2016, § 31 Rn. 29 mit Verweis auf BT-Drs. 13/6392 S. 56).
b) Zutreffend ist das Verwaltungsgericht bei der Befreiungsentscheidung von einer Ermessensreduzierung ausgegangen. Zwar handelt es sich bei der Entscheidung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB um eine vom Einvernehmen der Gemeinde nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB abhängige Ermessensentscheidung (BayVGH, U.v. 6.7.2005 – 1 B 01.1513 – juris). Liegen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Ausnahme aber vor, ist eine Ablehnung nur dann ermessensgerecht, wenn der Befreiung gewichtige Interessen entgegenstehen (vgl. BVerwG, U.v. 19.9.2002 – 4 C 13.01 – BVerwGE 117, 50). Die von dem Beklagten vorgetragenen Erwägungen der bisherigen Einhaltung der Baugrenzen im betroffenen Plangebiet und des gemeindlichen Interesses an der weiteren Einhaltung ihrer gestalterischen Vorstellungen haben kein solches Gewicht, dass sie eine Versagung rechtfertigen können. Andere Gründe sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 S. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.
Mit diesem Beschluss wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).