Baurecht

Erdrückende oder abriegelnden Wirkung eines Bauvorhabens

Aktenzeichen  1 ZB 16.1046

Datum:
11.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 3413
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34

 

Leitsatz

1. Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Annahme einer erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes ist grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als das betroffene Gebäude. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auch ein Vorhaben, das den Rahmen der näheren Umgebung einhält, kann im Einzelfall rücksichtslos sein, weil es auf die gesteigerte Schutzwürdigkeit der unmittelbaren Umgebung nicht ausreichend Rücksicht nimmt. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
4. Vorhaben, die den maßgeblichen Rahmen einhalten oder ihn zwar überschreiten, die städtebauliche Situation aber nicht verschlechtern, fügen sich in der Regel nach § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB ein. Unter dieser Voraussetzung kommt den Interessen des Bauherrn an der Realisierung seines Vorhabens grundsätzlich ein gewisser Vorrang vor den Interessen der Nachbarn zu, von Beeinträchtigungen verschont zu bleiben. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

1 K 15.3286 2016-04-05 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 12.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Kläger wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Gewerbebaus mit Appartements. Das zuletzt in seinem Umfang reduzierte Bauvorhaben sieht ein Gebäude mit einer Länge von ca. 80 m vor, das aus einem nördlichen Gebäudeteil mit einer eingeschossigen Halle und einem zweigeschossigen Büroteil und einem – durch einen Rücksprung abgegrenzten – erdgeschossigen Zwischenbau sowie einem südlichen Gebäudeteil mit Büroräumen und einer Kleingastronomie im Erdgeschoss und Appartements im Ober- und Dachgeschoss besteht.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist nicht dargelegt bzw. liegt nicht vor.
Die fristgerechten Darlegungen des Klägers sind nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zu wecken (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO). Ernstliche Zweifel im Sinn dieser Vorschrift, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn in der Antragsbegründung ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall.
Es ist nicht ernstlich zweifelhaft, dass das Bauvorhaben des Beigeladenen nicht zu Lasten des Klägers gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Das Bauvorhaben hat gegenüber dem Kläger keine einmauernde bzw. erdrückende Wirkung. Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122; BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 16; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4).
Daran gemessen sind die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum (drittschützenden) Gebot der Rücksichtnahme nicht zu beanstanden. Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. Das Verwaltungsgericht begründet unter Zugrundelegung seiner beim Augenschein getroffenen Feststellungen und einer Bewertung der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls, dass es sich bei dem gegenüber einer früheren Planung reduzierten Bauvorhaben ungeachtet einer (Gesamt-)Länge von 80 m nunmehr um ein gegliedertes Gebäude handelt, das in seinen tatsächlichen Wirkungen hinter der im Plan dargestellten Höhe zurückbleibt, weil es ca. 20 cm tiefer liegt als die Terrasse des Klägers und zwischen dem Vorhaben und dem Wohnhaus des Klägers insgesamt 17 m liegen (vgl. UA S. 7 f.). Es hat dabei die vorhandene Situation bei der Interessenabwägung zu Lasten des Klägers zutreffend berücksichtigt. Soweit der Kläger in der Zulassungsbegründung einwendet, das Verwaltungsgericht habe die beim Augenschein getroffenen wesentlichen Feststellungen verkannt, da von seiner Terrasse aus der Gesamtkomplex des Bauvorhabens sichtbar sei, was sich nachteilige und unzumutbar auf sein Grundstück auswirke, legt er nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO genügenden Weise dar, warum das Vorhaben ungeachtet der optischen Gliederung eine so stark ins Gewicht fallende Verschlechterung der Verhältnisse zu Folge hat, dass eine Unzumutbarkeit für ihn anzunehmen wäre. Für die Annahme einer „erdrückenden Wirkung“ eines Nachbargebäudes ist im Übrigen grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper – wie hier – nicht erheblich höher ist als das betroffene Gebäude (vgl. BVerwG, U.v. 30.9.1983 – 4 C 18.80 – NJW 1984, 250; BayVGH, B.v. 20.4.2010 – 2 ZB 07.3200 – juris Rn. 3).
Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auf die Beziehung eines Bauvorhabens auf einem Baugrundstück und dessen Auswirkungen insgesamt zum Nachbargrundstück abstellt, da es für die Beurteilung der Rücksichtslosigkeit allein auf „die nähere Umgebung“, in der sich Bauvorhaben und Nachbargrundstück befinden, ankomme, bleibt er den Nachweis schuldig, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen das in der näheren Umgebung anzutreffende Bauvolumen und die Lage der Baukörper in der näheren Umgebung erkennbar überschreitet. Im Übrigen legt er nicht konkret dar, welche bodenrechtlich relevanten Störungen mit dem angegriffenen Vorhaben verbunden sein sollen (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369). Das wäre jedoch für die sachgerechte Bewertung der gegensätzlichen Interessen von Nachbarn und Bauherrn im Rahmen des Rücksichtnahmegebots unabdingbar gewesen. Zwar kann auch ein Vorhaben, das den Rahmen der näheren Umgebung einhält, im Einzelfall rücksichtslos sein, weil es auf die gesteigerte Schutzwürdigkeit der unmittelbaren Umgebung nicht ausreichend Rücksicht nimmt. Gleichwohl fügen sich Vorhaben, die den maßgeblichen Rahmen einhalten oder ihn zwar überschreiten, die städtebauliche Situation aber nicht verschlechtern, in der Regel nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ein (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 a.a.O.). Unter dieser Voraussetzung kommt auch den Interessen des Bauherrn an der Realisierung seines Vorhabens grundsätzlich ein gewisser Vorrang vor den Interessen der Nachbarn zu, von Beeinträchtigungen verschont zu bleiben (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung ergeben sich nicht aus dem Vortrag des Klägers, dass es vorliegend trotz Einhaltung der Abstandsflächen aufgrund der Firsthöhe zu einer Verschattung seines Grundstücks bereits in den Nachmittagsstunden komme. Denn das Rücksichtnahmegebot ist keine allgemeine Härteklausel, die über den speziellen Vorschriften des Städtebaurechts oder gar des gesamten öffentlichen Baurechts steht. Der Rückschluss aus dem Abstandflächenrecht auf eine mögliche Verletzung von Nachbarrechten kann nur in besonders gelagerten Fällen zur Unzulässigkeit eines Bauvorhabens führen, das die abstandsflächenrechtlichen Vorschriften nicht verletzt (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – NVwZ 1999, 879). Die Bezugnahme des Klägers auf die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 4. November 2009 (9 CS 09.2422) und 26. Juli 1991 (20 CS 89.1224), die damit in Einklang stehen, können seinem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg verhelfen, da es sich in beiden Fällen nicht um ein gegliedertes Gebäude handelte. Wann die bauplanungsrechtliche Relevanzschwelle im Einzelnen erreicht ist, lässt sich nicht anhand von verallgemeinerungsfähigen Maßstäben feststellen, sondern hängt von den jeweiligen konkreten Gegebenheiten ab. Für die Annahme einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots genügt es nicht schon, wenn ein Vorhaben die Situation für den Nachbarn nachteilig verändert. Dass das Bauvorhaben allein wegen einer mit ihm verbundenen Verschattung das Grundstück des Klägers unzumutbar beeinträchtigt, vermag der Senat angesichts des Abstands der beiden Gebäude von 17 m nicht zu erkennen. Es kommt daher nicht entscheidend auf die Vorlage einer Verschattungsstudie an.
Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 30. August 2016 ausführt, die zutreffende Vorbelastung seines Anwesens durch die massiven und langen Baukörper in der näheren Umgebung werde durch das Bauvorhaben nochmals in unzumutbarer Art und Weise verschärft, da die einzig verbliebene Freifläche, die zwischen den beiden massiven Bestandsgebäuden und seinem Wohnhaus liege, überbaut werde, werden die im Zusammenhang mit einem möglichen Vertrauensschutz stehenden Einwände bereits nicht fristgerecht vorgebracht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 53).
Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen, da sein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dem Kläger gemäß § 162 Abs. 3 VwGO auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da dieser einen Antrag gestellt hat. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben