Baurecht

Erfolglose Drittanfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung zum Neubau eines Lebensmittelmarktes

Aktenzeichen  Au 5 K 16.1268

Datum:
4.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 133255
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 42 Abs. 2, § 47 Abs. 2 S. 1, § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 30 Abs. 1, § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
BauNVO § 1 Abs. 3 S. 1, Abs. 2, § 4, § 6 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3, § 15 Abs. 1 S. 2
BayStrWG Art. 14
TA Lärm Nr. 2.4 Abs. 3, Nr. 7.4 Abs. 1 S. 2, Abs. 2

 

Leitsatz

1 Ein Nachbar, dessen Grundstück nicht im jeweiligen Baugebiet liegt, hat grundsätzlich keinen von konkreten Beeinträchtigungen unabhängigen Anspruch auf Schutz vor gebietsfremden Nutzungen in einem angrenzenden Baugebiet. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei der immissionsschutzrechtlichen Bewertung von Gewerbelärm sind – vorbehaltlich der Sonderfälle, in denen eine Gesamtlärmbelastung entsteht, die die verfassungsrechtliche Schwelle zur Gesundheitsgefährdung oder zu Eingriffen in die Substanz des Eigentums überschreitet – keine Summenpegel aus Gewerbelärm und Straßenverkehr zu bilden (Nr. 2.4 Abs. 3, Nr. 7.4 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 TA Lärm). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 hat die Klägerin zu tragen. Die Beigeladene zu 2 trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist in der Sache nicht begründet.
1. Die Klage ist zulässig. Die Klägerin ist als Nachbarin im baurechtlichen Sinn klagebefugt. Klagebefugt im Rahmen einer baurechtlichen Drittanfechtungsklage ist derjenige, der sich als Nachbar im baurechtlichen Sinn auf die Möglichkeit der Verletzung in drittschützenden Normen stützen kann. Der Nachbarbegriff hat eine rechtliche und eine räumliche Komponente. Nachbarn sind zum einen die Grundstückseigentümer, sowie die Inhaber eigentumsähnlicher Rechtspositionen (Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 42 Rn. 97). Räumlich sind die unmittelbar angrenzenden Nachbarn solche im baurechtlichen Sinn, sowie Betroffene im weiteren Umkreis, die von der jeweiligen nachbarschützenden Norm in den Kreis der Berechtigten gezogen werden (Kopp/Schenke a.a.O. § 42 Rn. 97). Aufgrund der immissionsschutzrechtlichen Problematik, die mit der Klage aufgegriffen werden soll, ist die Klägerin als Eigentümerin des zwar nicht unmittelbar angrenzenden, jedoch nur durch die G…-W…-Straße von den Baugrundstücken getrennten Grundstücks Fl.Nr. …5/20 klagebefugt.
2. Die Klage ist in der Sache nicht begründet. Die Klägerin ist durch die der Beigeladenen zu 1 erteilte Baugenehmigung nicht in nachbarschützenden Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung hat der anfechtende Nachbar nur, wenn das Bauvorhaben im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfenden, öffentlich-rechtlichen Vorschriften (Art. 68 Abs. 1 Bayerische Bauordnung – BayBO) widerspricht und die verletzte Norm zumindest auch dem Schutze der Nachbarn dient, ihr also drittschützende Wirkung zukommt (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14/87- BVerwGE 82, 343). Die Baugenehmigung muss demnach gegen eine im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende Vorschrift verstoßen. Weiterhin muss der Nachbar durch den Verstoß gegen diese Norm in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen sein. Eine objektive Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung reicht nicht aus, der Nachbar muss in eigenen subjektiven Rechten verletzt sein.
b) Die erteilte Baugenehmigung verstößt nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts. Der Klägerin steht kein Abwehranspruch gegen das Bauvorhaben in Form eines Gebietserhaltungsanspruches zu.
Der Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet nach § 1 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 2 Baunutzungsverordnung (BauNVO) das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zu Wehr zu setzen. Der Anspruch beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet wird, dass also ein wechselseitiges Austauschverhältnis besteht (st.Rspr. u.a. BVerwG, B.v. 18.12.2007 – B 55.07 – BayVBl 2008, 765; BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364). Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstückes in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung im selben Baugebiet grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen (BVerwG, U.v. 11.5.1989 – 4 C 1.88 – BVerwGE 82, 61).
aa) Die Baugrundstücke der Beigeladenen zu 1 und das klägerische Grundstück liegen jedoch zwar jeweils im Geltungsbereich des Bebauungsplans „…“, jedoch nicht im selben Baugebiet. Während das Vorhaben der Beigeladenen zu 1 in einem als Mischgebiet ausgewiesenen Baugebiet verwirklicht werden soll, wo es nach § 30 Abs. 1 BauGB, § 6 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 BauNVO ohne weiteres zulässig wäre, befindet sich das Grundstück der Klägerin in einem als Allgemeines Wohngebiet festgesetzten Baugebiet, das durch die G…-W…-Straße von dem Mischgebiet getrennt ist. Einen Gebietserhaltungsanspruch über ihr Baugebiet hinaus kann die Klägerin jedoch nicht geltend machen. Ein Nachbar, dessen Grundstück nicht im jeweiligen Baugebiet liegt, hat grundsätzlich keinen von konkreten Beeinträchtigungen unabhängigen Anspruch auf Schutz vor gebietsfremden Nutzungen in einem angrenzenden Baugebiet (BayVGH, B.v. 2.5.2016 – 9 ZB 13.2048 – UPR 2016, 317 Rn. 14; B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – juris Rn. 4). Allerdings kann eine Baugebietsfestsetzung im Einzelfall auch den Zweck verfolgen, Gebietsnachbarn einen Anspruch auf Gebietserhaltung zu geben. Ob in diesem Fall ausnahmsweise ein wechselseitiges Austauschverhältnis und damit ein Gebietserhaltungsanspruch besteht, kann sich dabei nicht nur aus den Bebauungsplanfestsetzungen selbst, sondern auch aus dessen amtlicher Begründung oder auch Unterlagen des Planaufstellungsverfahrens ergeben (BayVGH, B.v. 19.11.2015, 1 CS 15.2108 a.a.O.). Dafür liegen hier jedoch keinerlei Anhaltspunkte vor. Weder aus der Begründung des ursprünglichen Bebauungsplans noch aus den Erwägungen, die den jeweiligen Änderungen des Bebauungsplans „…“ zugrunde lagen, ergeben sich hierfür Anhaltspunkte. Der Bebauungsplan „…“ sah von Beginn an für die streitgegenständlichen Baugrundstücke ein Mischgebiet vor. Angrenzend daran wurden Allgemeine Wohngebiete und zunächst im Bereich des klägerischen Grundstücks ein Sondergebiet für den Bau einer Kirche festgesetzt. Durch den Tausch des Kirchengrundstücks bot sich dem Plangeber, wie sich aus der Niederschrift über eine Sitzung des Bau-, Woh-nungs- und Grundstücksausschusses vom 13. Februar 1985 ergibt, die Möglichkeit der Bebauung mit Wohnhäusern, zumal schon Bewerbungen von Bauträgern vorlagen. Weder aus dem nachfolgenden Planaufstellungsverfahren zur 2. Änderung des Bebauungsplans und den hierzu ergangenen Beschlüssen noch aus dem Bebauungsplan selbst ergibt sich, dass der Plangeber mit der Gebietsfestsetzung auch den Anwohnern im neu festgesetzten Allgemeinen Wohngebiet ein Gebietserhaltungsanspruch bezogen auf das bereits festgesetzte Mischgebiet vermitteln wollte.
Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht entscheidungserheblich auf die vom Bevollmächtigten der Klägerin aufgeworfene Frage an, ob mit dem geplanten Bauvorhaben das in einem Mischgebiet erforderliche Mischungsverhältnis von Wohnnutzung und gewerblicher Nutzung eingehalten werden kann oder ob das Mischgebiet zu einem „Gewerbegebiet“ kippt. Einen Gebietserhaltungsanspruch kann die Klägerin insoweit, wie ausgeführt, nicht geltend machen. Allein eine mögliche objektive Rechtswidrigkeit begründet keine subjektive Rechtsverletzung des Nachbarn.
bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn man mit dem Bevollmächtigten der Klägerin davon ausgehen wollte, dass der Bebauungsplan unwirksam ist. In diesem Fall beurteilt sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens nach § 34 BauGB.
Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Bauvorhaben planungsrechtlich zulässig, wenn es sich nach der Art der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der in der Baunutzungsverordnung (BauNVO) bezeichneten Baugebiete, so beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach dieser Verordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre (§ 34 Abs. 2 BauGB). Bei der Bestimmung des Gebietscharakters sind zunächst die unmittelbaren Nachbargrundstücke von Bedeutung. Berücksichtigt werden muss weiterhin die nähere Umgebung insoweit, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und soweit die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 13. Aufl. 2016, § 34 Rn. 21; BVerwG, B.v. 20.8.1998 – 4 B 79/98 – BauR 1999, 32). Neben der unmittelbaren Nachbarschaft des Baugrundstücks ist somit auch die Bebauung der näheren Umgebung von Bedeutung, sofern sich diese noch prägend auf das Baugrundstück auswirken kann. Die Grenzen des faktischen Baugebiets sind damit nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in der sich das Grundstück befindet. Vorliegend ist demnach in die „nähere Umgebung“ der Baugrundstücke auch die Bebauung jeweils in erster Reihe nördlich entlang der G…-W…-Straße, westlich entlang der K…-v…-W…-Straße bis zur Einmündung G…-W…-Straße sowie das Grundstück Fl.Nr. …1 einzubeziehen. Nach Auffassung der Kammer ist die nähere Umgebung der Baugrundstücke als Mischgebiet i.S. des § 6 Abs. 1 BauNVO zu qualifizieren. Sie ist geprägt durch Wohnnutzung und gewerbliche Nutzung. In unmittelbarer Nachbarschaft des geplanten Vorhabens liegt mit „Elektro …“ ein größerer Gewerbetrieb, der auch in seiner räumlichen Ausdehnung prägende Wirkung hat. Auf den Baugrundstücken selbst wird in den Räumen des ehemaligen Lebensmittelmarktes nach wie vor, wenn auch in zeitlichen Abständen, ein Schnäppchenmarkt durchgeführt, die gewerbliche Nutzung hält damit an. Im angrenzenden Allgemeinen Wohngebiet nördlich der G…-W…-Straße befindet sich direkt gegenüber dem geplanten Lebensmittelmarkt ein Immobilienbüro in einem Wohngebäude. Westlich der K…-v…-W…-Straße wird eine Physiotherapie-Praxis betrieben. Auf Fl.Nr. …5/6 in unmittelbarer Nachbarschaft des Bauvorhabens wurde eine reine Wohnnutzung genehmigt. Damit findet sich in der näheren Umgebung der Baugrundstücke eine Mischung aus gewerblicher Nutzung und Wohnnutzung. Ein Teil der vorhandenen gewerblichen Nutzungen („Elektro …“, Schnäppchenmarkt) dienen dabei nicht der Gebietsversorgung und sind bei typisierender Betrachtung auch nicht in einem Allgemeinen Wohngebiet nach § 4 BauNVO zulässig. Es ist deshalb von einem Mischgebiet i.S. des § 6 Abs. 1 BauNVO auszugehen ist. In einem derartigen Gebiet ist das Vorhaben der Beigeladenen zu 1 nach § 34 Abs. 2 BauGB, § 6 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 BauNVO ohne weiteres nach seiner Art bauplanungsrechtlich zulässig, es fügt sich in die nähere Umgebung ein.
cc) Damit kommt es auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans „…“ nicht entscheidend an. Es kann deshalb auch dahingestellt bleiben, ob die vom Klägerbevollmächtigten geltend gemachten Fehler des Bebauungsplans überhaupt vorliegen und ob sie von der Klägerin noch gerügt werden könnten. Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Umfang der Inzidentprüfung des Bebauungsplans im Rahmen der vorliegenden Nachbarklage auf sog. „Ewigkeitsfehler“ beschränkt ist, weil die Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO abgelaufen ist (s. hierzu auch BayVGH, U.v. 22.9.2015 – 1 B 14.1652 – juris Rn. 20). Derartige „Ewigkeitsfehler“ wären etwa ein Verstoß gegen den Erforderlichkeitsgrundsatz oder den Bestimmtheitsgrundsatz, ein fehlerhaftes Abwägungsergebnis oder das Fehlen jeglicher oder Überschreitung der Rechtsgrundlage. Der Bevollmächtigte der Klägerin macht im Wesentlichen verfahrensrechtliche Fehler geltend. Ungeachtet der Frage, ob die gerügten Verstöße überhaupt vorliegen – wofür nach Durchsicht der Bebauungsplanakten nichts spricht – ist nicht ersichtlich, dass die gerügten Verfahrensmängel einen der oben dargestellten „Ewigkeitsfehler“ begründen würden. Auch die vom Bevollmächtigten der Klägerin behauptete teilweise Funktionslosigkeit der Mischgebietsfestsetzung liegt nicht vor. Der Bevollmächtigte der Klägerin vertritt die Auffassung, dass bereits bei Erlass des Bebauungsplans fraglich gewesen sei, ob die Mischgebietsfestsetzung überhaupt verwirklicht werden konnte, nachdem in dem Gebiet, soweit aus den Unterlagen ersichtlich, bereits rein gewerbliche Nutzung vorhanden gewesen sei. Ausweislich der vorgelegten Planunterlagen war bei Erlass des Bebauungsplans „…“ jedoch ein großer Teil des betreffenden Mischgebiets noch unbebaut, so dass keinesfalls ausgeschlossen war, dass dort trotz bereits vorhandener gewerblicher Nutzung die Vorstellungen des Plangebers noch umgesetzt werden konnten.
c) Das genehmigte Bauvorhaben verstößt auch nicht gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme.
aa) Dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme kommt im Einzelfall nachbarschützende Wirkung insoweit zu, als in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Insoweit müssen die Umstände des Einzelfalles eindeutig ergeben, auf wen Rücksicht zu nehmen und inwieweit eine besondere rechtliche Schutzwürdigkeit des Betroffenen anzuerkennen ist (BVerwG, U.v. 5.8.1983 – 4 C 96/79 – BVerwGE 67, 334). Ist ein Bauvorhaben nach § 30 BauGB zu beurteilen, so ist das Gebot der Rücksichtnahme in der Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO enthalten. Für den Fall, dass ein Bauvorhaben nach § 34 BauGB zu beurteilen ist, ist das Rücksichtnahmegebot im Gebot des Einfügens bzw. in einer unmittelbaren Anwendung des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO enthalten (vgl. BVerwG, B.v. 20.4.2000 – 4 B 25/00 – BauR 2001, 212 ff.).
Das Gebot der Rücksichtnahme kann zu einer Unzulässigkeit des Bauvorhabens im Einzelfall führen, wenn von dem konkreten Vorhaben Beeinträchtigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart der Umgebung unzulässig sind, oder das Vorhaben solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt ist. Dabei müssen die Interessen im Einzelfall abgewogen werden. Der Umfang der dem Nachbarn des Bauvorhabens aufgrund der Eigenart der näheren Umgebung zuzumutenden Beeinträchtigungen und Störungen bestimmt sich unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit der Umgebung und ihrer bebauungsrechtlichen Prägung sowie den tatsächlichen oder planerischen Vorbelastungen (vgl. BVerwG, U.v. 14.1.1993 – 4 C 19/90 – DVBl 1993, 652). Das Gebot der Rücksichtnahme kann aber nur soweit verletzt sein, wie die Regelungswirkung der Baugenehmigung reicht.
bb) Dies zugrunde gelegt, besitzt die Klägerin keinen Abwehranspruch gegen das Vorhaben der Beigeladenen zu 1.
(1) Bezüglich der Zumutbarkeit von Lärmimmissionen auf das wohngenutzte Vorhaben der Klägerin ist auf die Lage ihres Grundstücks in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Allgemeinen Wohngebiet abzustellen. Der Schutzstatus der Klägerin hinsichtlich ausgehender gewerblicher Emissionen und Immissionen bemisst sich danach, was in einem Allgemeinen Wohngebiet i.S. des § 4 BauNVO zulässig ist. Im angefochtenen Bescheid ist bei den Auflagen zum Immissionsschutz festgesetzt, dass für die benachbarten Allgemeinen Wohngebiete der Beurteilungspegel von 55 dB(A) tagsüber und 40 dB(A) nachts nicht überschritten werden darf (Nr. 1). Dies entspricht den Vorgaben der TA Lärm (Nr. 6.1 Buchst. d). Daneben sind weitere Auflagen zum Immissionsschutz enthalten, die die Einhaltung der Werte sicherstellen sollen. Grundsätzlich sind derartige Nebenbestimmungen geeignet, die Nachbarrechte zu sichern, wenn die Anlage bei regelmäßigem Betrieb so genutzt werden kann, dass die entstehenden Immissionen die für die Nachbarschaft maßgebliche Zumutbarkeitsgrenze nicht überschreiten. Konkrete nutzungseinschränkende Regelungen muss die Baugenehmigung in einem solchen Fall nicht enthalten (BayVGH, B.v. 3.3.2006 – 15 ZB 04.2453 – juris Rn. 10 m.w.N.). Anhaltspunkte dafür, dass die vorgegebenen Beurteilungspegel bei regelmäßigem Betrieb und Beachtung der Auflagen nicht eingehalten werden könnten, gibt es nicht. Sowohl der Technische Immissionsschutz beim Landratsamt … als auch die von der Beigeladenen zu 1 vorgelegte Schalltechnische Verträglichkeitsuntersuchung kommen zu dem Ergebnis, dass am Anwesen der Klägerin die Beurteilungspegel, die nach der TA Lärm für ein Allgemeines Wohngebiet gelten, nicht überschritten werden. In der schalltechnischen Untersuchung wird ein Beurteilungspegel von 52 dB(A) tags und 36 dB(A) nachts errechnet.
Fehler in der Berechnung der Beurteilungspegel durch den Technischen Immissionsschutz beim Landratsamt und in der schalltechnischen Untersuchung sind nicht ersichtlich und werden von der Klägerin auch nicht vorgetragen. Der den Berechnungen zugrunde gelegte zusätzliche, dem geplanten Vorhaben zurechenbare Kraftfahrzeugverkehr entspricht weitgehend demjenigen zusätzlichen Verkehr, der in der von der Klägerin vorgelegten Verkehrsuntersuchung prognostiziert wurde. Der Verkehrslärm, der von der nahegelegenen Staatsstraße … und der östlich gelegenen, tiefergelegten Bahnstrecke verursacht wird, wurde bei der Berechnung des Beurteilungspegels zu Recht nicht berücksichtigt. Bei der immissionsschutzrechtlichen Bewertung von Gewerbelärm sind – vorbehaltlich der Sonderfälle, in denen eine Gesamtlärmbelastung entsteht, die die verfassungsrechtliche Schwelle zur Gesundheitsgefährdung oder zu Eingriffen in die Substanz des Eigentums überschreitet – keine Summenpegel aus Gewerbelärm und Straßenverkehr zu bilden (Nr. 2.4 Abs. 3, Nr. 7.4 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 TA Lärm; BayVGH, B.v. 23.11.2016 – 15 CS – 16.1688 – juris Rn. 29 m.w.N.). Eine Überschreitung der gesundheitsgefährdenden Schwelle bei Bildung eines Summenpegels ist vorliegend ausgeschlossen und wird von der Klägerin auch nicht behauptet. Auch die zu erwartenden Immissionen aufgrund des Anlieferverkehrs mit Lkw wurden nach Auffassung der Kammer zutreffend berücksichtigt. In der schalltechnischen Verträglichkeitsuntersuchung wurde ein „worst-case-Szenario“ zugrunde gelegt. Der Anliefervorgang selbst wurde mit einem Zuschlag von 3 – 5 dB(A) berücksichtigt. Zudem orientierte sich der Technische Immissionsschutz des Landratsamts, wie in der mündlichen Verhandlung nochmals erläutert wurde, bei der Berechnung der Immissionen durch die Andienvorgänge an den Vorgaben in Heft 3 des Hessischen Landesamts für Umwelt und Geologie, das sich gezielt mit den Geräuschemissionen bei derartigen Vorgängen befasst. Der zuständige Mitarbeiter des Sachgebiets Technischer Immissionsschutz beim Landratsamt erläuterte in der mündlichen Verhandlung nochmals nachvollziehbar die Grundlagen seiner immissionsschutzfachlichen Stellungnahme und der darin vorgeschlagenen Auflagen zum Immissionsschutz. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser fachlichen Beurteilung zu zweifeln. Vielmehr wurde diese durch die von der Beigeladenen zu 1 vorgelegte schalltechnische Verträglichkeitsuntersuchung bestätigt. Auch aus der von der Klägerin vorgelegten Verkehrsuntersuchung ergeben sich keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der immissionsschutzfachlichen Einschätzung. Die Kammer ist deshalb der Überzeugung, dass bei bescheidskonformem Betrieb des Lebensmittelmarktes die vorgegebenen Beurteilungspegel zuverlässig eingehalten werden können. Für den Fall, dass die Auflagen nicht eingehalten werden, ist die Klägerin auf die Möglichkeiten des bauaufsichtlichen Einschreitens zu verweisen. Eine Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung kann daraus nicht abgeleitet werden.
(2) Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots ergibt sich auch nicht aus der geplanten Form der Belieferung und Andienung des künftigen Lebensmittelmarktes.
Wie bei dem bereits früher an selber Stelle betriebenen Lebensmittelmarkt soll die Anlieferung über die K…-v…-W…-Straße und die G…-W…-Straße erfolgen. Beide Straßen sind, wie auch das von der Klägerin vorgelegte Verkehrsgutachten festgestellt hat, generell zur Aufnahme des Kundenverkehrs und auch des Lieferverkehrs geeignet. Auch der Begegnungsfall Lkw/Lkw ist grundsätzlich möglich. Problematisch werde der Begegnungsverkehr allerdings bei einseitig parkenden Pkw. Auch könnten beim Rangieren von Sattelzügen möglicherweise Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden. Die Abwicklung und die Sicherheit und Leichtigkeit des Lieferverkehrs auf den Zufahrtsstraßen zum geplanten Lebensmittelmarkt ist jedoch nicht Gegenstand der streitgegenständlichen Baugenehmigung und wird von deren Regelungswirkung nicht umfasst. Es ist Aufgabe der Straßenverkehrsbehörde, bei Störungen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs im öffentlichen Straßenraum durch entsprechende verkehrsrechtliche Anordnungen zu reagieren. Eine Verletzung in nachbarschützenden Rechten kann hieraus nicht abgeleitet werden.
Soweit die anliefernden Lkw wegen der besonderen Andiensituation bei der Ein- und Ausfahrt zum Markt im Straßenraum der G…-W…-Straße rangieren müssen, ergibt sich auch hieraus keine Verletzung der Klägerin in nachbarschützenden Rechten. Nach dem Verkehrsgutachten ist die Anlieferung auch mit einem Sattelzug möglich. Dieser biegt von der G…-W…-Straße aus vorwärts oder rückwärts auf das Gelände des Lebensmittelmarktes zur Laderampe ein und kehrt von dort wieder zurück auf die G…-W…-Straße. Die Nutzung der Straße für den dafür erforderlichen Rangiervorgang hält sich im Rahmen des Gemeingebrauchs i.S. des Art. 14 BayStrWG. Es ist üblich und ohne weiteres zulässig, eine öffentliche Straße zum Ein- und Ausbiegen aus privaten Grundstücken zu nutzen und dabei bei Bedarf auch zu rangieren.
(3) Eine Verletzung der Klägerin in nachbarschützenden Rechten ergibt sich auch nicht aus einem möglicherweise aus den Rangiervorgängen resultierenden, erhöhten Schadstoffausstoß.
Anhaltspunkte dafür, dass die maßgeblichen Grenzwerte der 39. BImSchV überschritten würden, sind nicht im Ansatz ersichtlich und werden von der Klägerin auch nicht vorgetragen. Eine Überschreitung der Grenzwerte beispielsweise für Stickstoffoxide wäre, wie der Technische Immissionsschutz des Landratsamts in der Stellungnahme vom 10. April 2017 nachvollziehbar dargelegt hat, nur bei starker Verkehrsbelastung und ungünstigen Ausbreitungsbedingungen denkbar. Dementsprechend werden solche Überschreitungen allenfalls in Großstädten an Hauptverkehrsstraßen und Verkehrsknotenpunkten gemessen.
Die allgemeine Luftreinhaltung oder die Beeinträchtigung des nahegelegenen Kinderspielplatzes durch die Abgase kann die Klägerin im Rahmen der Nachbarklage nicht geltend machen.
Nach alledem ist die Klage insgesamt als unbegründet abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Da die Beigeladene zu 1 einen Antrag auf Klageabweisung gestellt und sich somit dem prozessualen Risiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es billigem Ermessen, dass ihre außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt werden (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Beigeladene zu 2 hat keinen Antrag gestellt und trägt ihre außergerichtlichen Kosten deshalb selbst (§ 162 Abs. 3 VwGO).
4. Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).


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