Baurecht

Erfolglose Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung zur Nutzungsänderung einer Arztpraxis in allgemeine Büro- und Verwaltungsräume für einen mobilen Pflegedienst

Aktenzeichen  W 5 K 19.579

Datum:
8.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 28672
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 59, Art. 64, Art. 68 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
BauGB § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 1
BauNVO § 4 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 Nr. 2, § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Dass das Grundstück abweichend von der erteilten Baugenehmigung genutzt wird, ist nicht relevant für die rechtliche Überprüfung der angegriffenen Baugenehmigung, sondern allenfalls für die Frage des bauaufsichtlichen Einschreitens. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Nutzung als allgemeine Büro- und Verwaltungsräume für einen ambulanten Pflegedienst stellt eine in einem Allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässige Anlage für soziale Zwecke im dar. Dem steht nicht entgegen, wenn die Räume nur als Basisstation dienen und die pflegerischen Leistungen extern erbracht werden. (Rn. 34 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
3. Anlagen für soziale Zwecke sind in Allgemeinen Wohngebieten auch dann zulässig, wenn sie nicht den Bedürfnissen der Bewohner dieses Gebietes dienen; der Einzugsbereich kann sich überwiegend oder vollständig auf andere Baugebiete erstrecken. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Der Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg, da die angefochtene Baugenehmigung des Landratsamts M.-S. vom 10. April 2019 (in der Fassung des Schreibens vom 24. Januar 2020) nicht rechtswidrig ist und damit die Klägerin nicht in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Nach Art. 59 BayBO ist im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren der Prüfungsrahmen beschränkt. Die Bauaufsichtsbehörde hat insbesondere die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB zu prüfen (Art. 59 Satz 1 Nr. 1a BayBO).
Der Nachbar eines Vorhabens kann eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn es das Vorhaben an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. OVG Münster, B.v. 5.11.2013 – 2 B 1010/13 – DVBl. 2014, 532; BVerwG, B.v. 28.7.1994 – 4 B 94/94; U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84; U.v. 13.6.1980 – IV C 31.77; alle juris).
2. Streitgegenstand des vorliegenden gerichtlichen Verfahrens einer Anfechtungsklage (in der Form der baurechtlichen Nachbarklage) ist der prozessuale Anspruch der Klägerin auf Aufhebung des Verwaltungsakts, hier – nach dem eindeutigen Klageantrag – der Nutzungsänderungsgenehmigung des Landratsamts M.-S. vom 10. April 2019 (in der Fassung des Schreibens vom 24. Januar 2020) – und die Rechtsbehauptung der Klägerin, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig sei und sie in ihren Rechten verletze (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 121 Rn. 25 m.w.N. zu Rspr. und Lit.).
2.1. Die Klägerin kann damit mit ihrem Vorbringen, dass das Anwesen des Beigeladenen abweichend von der erteilten Baugenehmigung nicht nur von 09:00 Uhr bis 13:00 Uhr, sondern von 7:00 Uhr bis 23:00 Uhr für die Zwecke eines mobilen Pflegedienstes genutzt werde und sie durch diese Nutzung in ihren Rechten beeinträchtigt werde, im hiesigen Verfahren nicht durchdringen. Denn das durch den Bauantrag gekennzeichnete Vorhaben bestimmt Inhalt und Gegenstand der Baugenehmigung wie auch den Gegenstand möglicher nachbarlicher Einwendungen (vgl. VGH Mannheim, U.v. 1.4.1998 – 4 S 722/98 – NVwZ 1998, 986; Gaßner in Simon/Busse, BayBO, Stand: 137. EL Juli 2020, Art. 64 Rn. 23). Dieses Vorbringen ist mithin nicht relevant für die rechtliche Überprüfung der angegriffenen Baugenehmigung, sondern allenfalls für die Frage des bauaufsichtlichen Einschreitens.
2.2. Soweit die Klägerseite insoweit vorbringt, dass die Bauaufsichtsbehörde die tatsächlichen Nutzungszeiten bei der Entscheidung über den Bauantrag hätte zugrunde legen müssen, weil diese gewusst habe, dass der Bauantrag mit der Wirklichkeit nicht übereinstimme und sie sich in kollusivem Verhalten über die Tatsachen hinweggesetzt habe, kann dies der Klage nicht zum Erfolg verhelfen.
Denn es ist der Bauherr, der durch den Bauantrag und die Bauvorlagen den Gegenstand des Baugenehmigungsverfahrens festlegt (vgl. BayVGH, B.v. 19.7.2016 – 9 ZB 14.1147 – juris; Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Stand: 15. Edition Juni 2020, Art. 64 Rn. 13). Hierdurch erfolgt die inhaltliche Umschreibung des Vorhabens, an die die Bauaufsichtsbehörde gebunden ist. Dies gilt in besonderem Maße für die Nutzung des Vorhabens. Das zur Prüfung gestellte Vorhaben ist die bauliche Anlage in ihrer durch die Nutzung bestimmten Funktion als Einheit. Mit dem Bauantrag wird festgelegt, was Gegenstand der Baugenehmigung sein soll (Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Art. 64 Rn. 13).
Ergeben sich Zweifel an Inhalt bzw. Reichweite des Bauantrags – und nur dann – ist dieser entsprechend § 133 BGB auszulegen. Als empfangsbedürf-tige Willenserklärung des öffentlichen Rechts sind die allgemeinen Grundsätze des bürgerlichen Rechts entsprechend anzuwenden. Maßgeblich ist dabei nicht allein der Wortlaut des im Bauantrag bezeichneten Vorhabens im buchstäblichen Sinn, sondern der erklärte Wille, wie er bei objektiver Würdigung zu verstehen ist (vgl. BayVGH, B.v. 19.7.2016 – 9 ZB 14.1147 – juris; Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Art. 64 Rn. 36). Etwas im Bauantrag nicht oder anders Bezeichnetes ist deshalb dann nicht maßgeblich, wenn sich durch objektive Umstände eine anderweitige Deutung ergibt (vgl. BayVGH, B.v. 19.7.2016 – 9 ZB 14.1147 – juris; Gaßner in Simon/Busse, BayBO, Art. 64 Rn. 9, 13 ff.). Die Grenze der Auslegung liegt aber im eindeutigen Wortlaut, der nicht umgedeutet werden darf (vgl. Gaßner in Simon/Busse, BayBO, Art. 64 Rn. 13c).
Vorliegend sind aber der Bauantrag und insbesondere die hierzu erfolgten Angaben zu den Nutzungszeiten eindeutig: In der Betriebsbeschreibung wurde ausschließlich eine Betriebszeit „von 9:00 Uhr bis 13:00 Uhr“ angegeben. Einer Auslegung in dem Sinne, dass weitergehende Nutzungszeiten beantragt worden wären, sind diese eindeutigen Angaben nicht zugänglich. Davon, dass hier im Bauantrag ein offensichtlich unrichtiger Nutzungszweck angegeben worden wäre, – wie die Klägerseite wohl meint – bei dem die Bauaufsichtsbehörde auf den wirklichen, d.h. erkennbar beabsichtigten Nutzungsweck abstellen kann (vgl. hierzu Gaßner in Simon/Busse, BayBO, Art. 64 Rn. 22; Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Art. 64 Rn. 37), kann nicht die Rede sein. Denn der Nutzungszweck „allgemeine Büro- und Verwaltungsräume (Pflegedienst)“ ist hier vollkommen unumstritten; streitig sind lediglich die Betriebszeiten.
Mithin hat das Landratsamt M.-S. zu Recht der streitgegenständlichen Baugenehmigung die Nutzung als Büro- und Verwaltungsräume (Pflegedienst) mit den Betriebszeiten von 9:00 Uhr bis 13:00 Uhr zugrunde gelegt.
3. Für eine Verletzung des Bauordnungsrechts (Art. 59 Satz 1 Nr. 1c BayBO) ist von vornherein weder etwas vorgetragen noch sonst wie ersichtlich. Gleiches gilt für beantragte Abweichungen (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) sowie für andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO).
4. Mit der Genehmigung des streitgegenständlichen Vorhabens ist auch kein derartiger Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts (Art. 59 Satz 1 Nr. 1a BayBO), nämlich weder gegen den Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin noch gegen das nachbarliche Rücksichtnahmegebot, verbunden.
4.1. Bauplanungsrechtlich beurteilt sich das streitgegenständliche Vorhaben nach § 30 Abs. 1 BauGB, da es im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans „W. – H.“ der Gemeinde E …, in der Fassung der 1. Änderung vom 29. Oktober 1980, liegt.
Nach diesem qualifizierten Bebauungsplan erweist sich das streitgegen-ständliche Vorhaben auf Nutzungsänderung einer Arztpraxis in allgemeine Büro- und Verwaltungsräume (Pflegedienst) hinsichtlich seiner Art möglicherweise schon als allgemein zulässig nach § 30 Abs. 1 BauGB. Denn es ist fraglich, ob es insoweit den Festsetzungen des Bebauungsplans, als dieser unter Ziffer 2.1 der textlichen Festsetzungen ein Allgemeines Wohngebiet gemäß § 4 BauNVO festsetzt, widerspricht. Durch diese Festsetzung werden gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO 1977 die Vorschriften der §§ 2 bis 14 BauNVO Bestandteil des Bebauungsplans, soweit nicht aufgrund der Absätze 4 bis 9 etwas anderes bestimmt wird.
Gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BauNVO 1977 sind in Allgemeinen Wohngebieten zulässig Wohngebäude, die der Versorgung des Gebietes dienenden Läden, Schank- und Speisewirtschaften sowie nicht störende Handwerksbetriebe und schließlich Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke. In diesem Zusammenhang ist allein von Bedeutung, ob die beantragte Nutzung des Untergeschosses des Hauses des Beigeladenen als allgemeine Büro- und Verwaltungsräume für einen ambulanten Pflegedienst als eine in einem Allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässige Anlage für soziale Zwecke im vg. Sinn angesehen werden kann. Anlagen für soziale Zwecke dienen in einem weiten Sinne der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt. Es handelt sich um selbständige Hauptanlagen, die auf Hilfe, Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen ausgerichtet sind (BVerwG, B.v. 13.7.2009 – 4 B 44/09 und B.v. 26.7.2005 – 4 B 33/05; beide juris). Als typische Beispiele werden etwa Einrichtungen für alte Menschen oder für Kinder und Jugendliche angesehen, die ein besonders soziales Angebot annehmen wollen (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2009 – 4 B 44/09 – juris). Unzweifelhaft bieten ambulante Pflegedienste Hilfe-, Unterstützungs- und Betreuungsleistungen in diesem Sinne an. Darauf, ob der Pflegedienst (nur) den Bewohnern des umliegenden Wohngebiets dient, kommt es jedenfalls nicht an. Anlagen für soziale Zwecke sind in Allgemeinen Wohngebieten auch dann zulässig, wenn sie nicht den Bedürfnissen der Bewohner dieses Gebietes dienen; der Einzugsbereich kann sich überwiegend oder vollständig auf andere Baugebiete erstrecken (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 4. Aufl. 2019, § 4 Rn. 44; s.a. BVerwG, B.v. 13.7.2009 – 4 B 44/09 – juris). Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO und damit der klar zum Ausdruck gebrachten Regelungsabsicht des Verordnungsgebers. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. B.v. 13.7.2009 – 4 B 44/09 – juris; vgl. auch Fickert/Fieseler, BauNVO, 13. Aufl. 2019, § 3 Rn. 20.74) stellen die Räumlichkeiten eines ambulanten Pflegedienstes jedenfalls dann, wenn die Pflegeleistungen nicht lediglich außer Haus, sondern auch in der Station erbracht werden, keine in einem reinen Wohngebiet unzulässigen Anlagen für Verwaltungszwecke dar.
Fraglich ist aber, ob dann, wenn – wie hier – die pflegerischen Leistungen nicht im Gebäude des Pflegedienstes, sondern lediglich „extern“ erbracht werden, nicht ebenfalls eine Anlage für soziale Zwecke vorliegt. Es stellt sich die Frage, ob dieser Unterschied für die bodenrechtliche Beurteilung der Einrichtung erheblich ist oder sie nicht dann auch sozialen Zwecken dient, wenn sie für den (engeren) Bereich pflegerischer Leistungen als „Basisstation“ für die Fachkräfte und als Anlaufstation für betroffene Personen oder von Angehörigen dient. Jedenfalls hinsichtlich der von Klägerseite kritisierten Verkehrsfrequenz wirkt eine „externe“ Leistungserbringung nicht störender als eine pflegerische Betreuung in dem Gebäude des Beigeladenen. Werden die Leistungen extern erbracht, entsteht jedenfalls weniger Zu- und Abgangsverkehr in Bezug auf die in der Pflegestation tätigen Fachkräfte und Kunden (so OVG Schleswig, U.v. 29.4.2009 – 1 LB 5/08 – juris; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 8.11.2018 – OVG 2 B 5.17 – BeckRS 2018, 36324).
4.2. Letztlich muss die Frage der Einordnung des streitgegenständlichen Vorhabens als Anlage für soziale Zwecke hier genauso wenig entschieden werden wie die Frage, ob es als einer freiberuflichen Nutzung ähnliche gewerbliche Tätigkeit i.S.v. § 13 BauNVO einzustufen ist (vgl. auch hierzu OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 8.11.2018 – OVG 2 B 5.17 – BeckRS 2018, 36324 einerseits und OVG Schleswig, U.v. 29.4.2009 – 1 LB 5/08 – juris andererseits), weil jedenfalls die Zulassung des Vorhabens im Wege einer Ausnahme als sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO 1977 nicht zu beanstanden ist. Das Vorhaben ist nach der Art seiner baulichen Nutzung zulässig; der Gebietserhaltungsanspruch ist nicht verletzt. Im Einzelnen:
Die Klägerin kann einen nachbarlichen Abwehranspruch insoweit nicht auf die Grundsätze stützen, die das Bundesverwaltungsgericht zum sog. Gebietserhaltungsanspruch entwickelt hat (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2004 – 4 C 12/03 – juris).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Nachbar im Plangebiet sich gegen die Zulässigkeit einer gebietswidrigen Nutzung im Plangebiet wenden, auch wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Der Nachbar hat also bereits dann einen Abwehranspruch, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung führt. Der Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst. Begründet wird dies damit, dass im Rahmen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können soll (vgl. BVerwG, B.v. 2.2.2000 – 4 B 87/99 – NVwZ 2000, 679; U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – BVerwGE 94, 151).
Die Voraussetzungen der ausnahmsweisen Zulässigkeit des Vorhabens in einem Allgemeinen Wohngebiet sind gegeben, weil es sich bei den streitge-genständlichen allgemeinen Büro- und Verwaltungsräumen für einen Pflegedienst in der von der Baugenehmigung gedeckten Form – wenn man nicht schon von einer ausnahmsweisen Zulässigkeit als Anlage für Verwaltungen nach § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO ausgehen will (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 13.7.2009 – 4 B 44/09 – juris; Vietmeier in Bönker/Bischopink, Baunutzungsverordnung, 2. Aufl. 2018, § 4 Rn. 52) – um einen nicht störenden Gewerbebetrieb im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO handelt.
Ein Betrieb stört und kann nicht nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zugelassen werden, wenn er nach seiner typischen Nutzungsweise nicht gebietsver-träglich ist. Für die Art der baulichen Nutzung gilt die so genannte „typisierende Betrachtungsweise“. Bei der Prüfung, ob ein Betrieb nicht zu den wesentlich störenden, wohnverträglichen Gewerbebetrieben i.S.v. § 4 Abs. 1 BauNVO zählt, ist in der Regel nicht auf die konkreten Verhältnisse des jeweiligen Vorhabens abzustellen, sondern von einer typisierenden Betrachtungsweise auszugehen (vgl. BayVGH, B.v. 13.12.2006 – 1 ZB 04.3549 – NVwZ-RR 2007, 659, m.w.N. zur Rspr.). Demnach ist für die planungsrechtliche Beurteilung der Zulässigkeit schwergewichtig auf den Betriebstyp des Vorhabens abzustellen, nicht aber auf die Einzelheiten der Betriebsgestaltung unter Berücksichtigung einzelner Lärmschutzauflagen (BayVGH, B.v. 15.6.1998 – 2 CS 96.3687 – juris). Es kommt also darauf an, ob das Vorhaben des Beigeladenen seinem Typ nach wohngebietsverträglich ist. Hierbei ist es unerheblich, ob (auch) § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO entgegensteht, ob also von dem Vorhaben Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind.
Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Gewerbebetrieb in diesem Sinne nichtstörend ist, sind alle mit der Zulassung des Betriebs nach dessen Gegenstand, Struktur und Arbeitsweise typischerweise verbundenen Auswirkungen auf die nähere Umgebung zu berücksichtigen. Wie auch in den üb-rigen Baugebieten der BauNVO ist hinsichtlich der zulässigen Anlagen und des zulässigen Störgrads der festgesetzte Gebietstyp maßgebend (vgl. Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 138. EL Mai 2020, § 4 BauNVO, Rn. 8; Fickert/Fieseler, § 2 BauNVO, Rn. 25.13).
Nach § 4 Abs. 1 BauNVO dienen Allgemeine Wohngebiete vorwiegend dem Wohnen. Der von dem Beigeladenen geplante Betrieb ist typischerweise nicht geeignet, das Wohnen wesentlich zu stören, und deshalb in allen Baugebieten, die auch dem Wohnen dienen, zulässig. Die Baubeschreibung des Beigeladenen, maßgeblich ist insoweit – wie bereits ausgeführt – der nach der Baugenehmigung zulässige Betriebsumfang und nicht der tatsächliche Betrieb, sieht insoweit einen Betrieb von Montag bis Sonntag von 9:00 Uhr bis 13:00 Uhr bei insgesamt 12 Beschäftigten vor. Damit ist regelmäßig maximal von 24 Fahrbewegungen pro Tag, und damit wohl deutlich weniger als bei der früheren Arztpraxis, auszugehen. Weitere störende Auswirkungen, die von dem Vorhaben ausgehen und auf die Nachbarbebauung einwirken würden, wurden von Klägerseite weder vorgetragen noch sind solche sonst wie ersichtlich. Zu berücksichtigen ist schließlich auch noch, dass das Baugrundstück am Rande des Allgemeinen Wohngebiets liegt. Der gesamte Umfang des Betriebs und damit einhergehend die Anzahl der Betriebsvorgänge und der An- und Abfahrtsverkehr ist mengenmäßig und zeitlich so begrenzt (insbesondere auf die Tagzeit), dass auch keine das Wohnen unzumutbar störende Lärmimmissionen hervorgerufen werden. Denn im Vergleich zu den nach § 4 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 BauNVO allgemein zulässigen Vorhaben hat das streitgegenständliche Vorhaben damit jedenfalls ein vergleichbares Störpotential, wenn nicht gar ein geringeres. Damit stellt das streitgegenständliche Vorhaben einen in einem Allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise zulässigen nicht störenden Gewerbebetrieb i.S.d. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO 1977 dar, so dass die Klägerin keine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs geltend machen kann.
Soweit die Klägerin Ermessenfehler geltend macht und sie insbesondere vorbringt, dass „ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs“ vorliege bzw. „keine Ermessenserwägung oder -abwägung stattgefunden“ habe, kann dies der Klage nicht zum Erfolg verhelfen.
Denn ausweislich des Bescheids vom 10. April 2019 wurde „eine Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO (…) in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erteilt“. Dies spricht deutlich dafür, dass die Behörde erkannt hat, dass ihr bei der Erteilung der Ausnahme Ermessen zusteht, dass es sich also um eine Ermessensentscheidung und nicht um eine gebundene Entscheidung handelt. Von einem Ermessensnichtgebrauch, der vorliegt, wenn die Behörde nicht erkannt hat, dass sie ein Ermessen besitzt und dieses somit nicht ausübt, kann mithin nicht gesprochen werden.
Im Übrigen ist es unschädlich, dass eine der Ausnahmeerteilung im Bescheids vom 10. April 2019 entsprechende Ermessensausübung in der Begründung keinen Niederschlag gefunden hat. Denn der Nachbar, also hier die Klägerin, kann sich hierauf nicht berufen. Eine Verletzung seiner nachbarlichen Rechte kann nur vorliegen, wenn die Voraussetzungen der ausnahmsweisen Zulässigkeit des Vorhabens nicht gegeben sind (vgl. BayVGH, B.v. 30.4.2008 – 15 ZB 07.2914 – juris). Das ergibt sich bereits aus dem Umfang des materiellen Anspruchs des Nachbarn auf Wahrung der Gebietsart. Dieser ist darauf gerichtet, Vorhaben zu verhindern, die weder regelmäßig noch ausnahmsweise in einem Baugebiet zulässig sind. Vorliegend sind die Voraussetzungen der ausnahmsweisen (wenn nicht gar der allgemeinen) Zulässigkeit des Vorhabens aber gerade gegeben. Dem entspricht schließlich auch, dass bei einem ausnahmefähigen Vorhaben – wie dem vorliegenden – die Ablehnung der Ausnahme nur dann ermessensgerecht ist, wenn besondere städtebauliche Gründe dem Vorhaben entgegenstehen. Liegen die Rechtsvoraussetzungen für die Gewährung einer Ausnahme vor, dann erfordern das vom Gesetzgeber mit den Ausnahmeregelungen des § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. den Ausnahmekatalogen der Baunutzungsverordnung verfolgte Ziel der städtebaulichen Flexibilität und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in aller Regel, dass die Ausnahme gewährt wird (vgl. BayVGH, U.v. 15.2.2010 – 2 B 09.2419 – juris, unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 19.9.2002 – 4 C 13/01 – BVerwGE 117, 50). Bei einem ausnahmefähigen Vorhaben ist deshalb die Ablehnung der ausnahmsweisen Zulassung nur dann ermessensgerecht, wenn besondere, nicht bereits von § 15 Abs. 1 BauNVO erfasste städtebauliche Gründe dem Vorhaben entgegenstehen. Andernfalls ist das Ermessen zu Gunsten des Bauherrn auf Null reduziert (vgl. BayVGH, U.v. 15.2.2010 – 2 B 09.2419 und U.v. 6.7.2005 – 1 B 01.1513; beide juris). Auf städtebauliche Erwägungen kann die Klägerin ihren Nachbarschutz aber nicht stützen; im Übrigen sind solche hier auch nicht ersichtlich. Darüber hinaus hat das Landratsamt M.-S. mit Schreiben vom 24. Januar 2020 in umfassender Weise ihre Ermessensgründe niedergelegt.
Auf die von der Klägerbevollmächtigen aufgeworfenen Frage, ob das Vorhaben nach § 31 Abs. 2 BauGB (im Wege einer Befreiung) zulässig ist, kommt es nicht mehr an, da es seiner Art nach jedenfalls schon nach § 31 Abs. 1 BauGB zulässig ist.
4.3. Das Vorhaben verletzt auch nicht das in § 15 BauNVO verankerte Rücksichtnahmegebot zu Lasten der Klägerin.
Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22/75 – juris) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewähr-leisten. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Kläger aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm als Nachbar billigerweise noch zumutbar ist (vgl. Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 13. Aufl. 2016, Vorbem. zu §§ 29 – 38 Rn. 49).
Die anhand des Rücksichtnahmegebots durchzuführende Interessenabwägung führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die Klägerin dem Interesse des Beigeladenen an der Verwirklichung des Vorhabens keine überwiegenden eigenen Interessen entgegenzusetzen hat. Insbesondere wird die Klägerin durch die nach dem Bescheid konkret zulässigen Lärmimmissionen nicht in unzumutbarer Weise beeinträchtigt, § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO.
Entgegen der Meinung der Klägerseite wird vorliegend dem Beigeladenen von der Bauaufsichtsbehörde ein konkret einzuhaltender Beurteilungspegel vorgegeben: In Ziffer 3 der Auflagen zur Baugenehmigung wurden für das Vorhaben – wegen der Vorbelastung – die um 3 dB reduzierten Immissionsrichtwerte für ein Allgemeines Wohngebiet nach Ziff. 6.1.e) der TA (Lärm), nämlich 52 dB(A) tags festgesetzt. Diesen Richtwert kann das Vorhaben auch einhalten. Denn gemäß der fachtechnischen Stellungnahme des Umweltingenieurs am Landratsamt M.-S. vom 27. März 2019, der die Angaben der Betriebsbeschreibung vom 23. Oktober 2018 zugrunde liegen, liegen die Mindestabstände von PKW-Stellplätzen gemäß der Parkplatzlärmstudie zur Tagzeit bei unter 1 m; da der Betrieb nur zur Tagzeit stattfinde und die Entfernung zum maßgeblichen Immissionsort 10 m betrage, seien die Stellplätze im Hinblick auf das Spitzenpegelkriterium als unkritisch zu sehen, womit die festgesetzten Immissionsrichtwerte deutlich unterschritten werden. Im Vergleich zur vorherigen höheren Frequentierung der Stellplätze durch den Patientenverkehr der Arztpraxis sei hier – so die Fachkraft für Immissionsschutz – sogar eine Verbesserung der Lärmsituation zu erwarten. Außer den Lärmimmissionen durch die Stellplätze würden von der beantragten Nutzung keine relevanten Immissionen erwartet.
Die insoweit von der Fachkraft für Immissionsschutz in der fachtechnischen Stellungnahme niedergelegten Maßgabenvorschläge wurden von der Bauaufsichtsbehörde vollständig als Nebenbestimmungen unter Ziffer 1 bis 3 in die streitgegenständliche Baugenehmigung aufgenommen. Damit halten sich die von dem genehmigten Vorhaben konkret hervorgerufenen Lärmimmissionen innerhalb des in einem Allgemeinen Wohngebiet Zulässigen, sodass das Vorhaben nicht das Rücksichtnahmegebot zu Lasten der Klägerin verletzt.
5. Somit konnte die Klage keinen Erfolg haben und war mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst (§ 162 Abs. 3 VwGO). Da sich der Beigeladene nicht durch eigene Antragstellung am Kostenrisiko des Verfahrens beteiligt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), entsprach es nicht der Billigkeit, seine außergerichtlichen Aufwendungen der Klägerin aufzuerlegen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.


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