Aktenzeichen 15 ZB 18.764
Leitsatz
1 § 23 BauNVO findet nicht nur auf Gebäude und Gebäudeteile Anwendung, sondern beansprucht auch für alle anderen baulichen Anlagen Geltung. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Widerrufvorbehalt bei einer Baugenehmigung als einem die Vereinbarkeit mit dem öffentlich-rechtlichen Prüfungsmaßstab im Zeitpunkt ihres Erlasses verbindlich und regelmäßig unbefristet feststellenden Verwaltungsakt ist ohne das Vorliegen besonderer Gründe im Einzelfall nicht zulässig.(Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Baugenehmigungsbehörde kann sich im Rechtstreit um die Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung auf der Grundlage des Art. 59 BayBO nicht auf die formalen Anforderungen des Art. 63 Abs. 2 S. 1 BayBO berufen, soweit es um die nur durch Erteilung von Ausnahmen und Befreiungen herzustellende Vereinbarkeit des Vorhabens mit bundesrechtlichem oder auf der Grundlage von Bundesrecht erlassenem Planungsrecht geht. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 5 K 17.113 2018-02-22 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Mit Urteil vom 22. Februar 2018 hat das Verwaltungsgericht Augsburg die Beklagte unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheids vom 10. Februar 2017 verpflichtet, der Klägerin die Baugenehmigung für die Umrüstung der auf dem Grundstück FlNr. 316/3 der Gemarkung Oberhausen mit Bescheid vom 24. Juli 2001 genehmigten einseitigen Werbeanlage mit Wechselmodul zu einer zweiseitigen Werbeanlage mit doppelseitigem Wechselmodul entsprechend dem Bauantrag vom 14. Juni 2016 zu erteilen. Das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich im Wege der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von den festgesetzten Baugrenzen und bauordnungsrechtlich über eine Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO von der Einhaltung der Abstandsflächen zum östlichen Nachbargrundstück zulassungsfähig.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
1.1 Ernstliche Zweifel ergeben sich nicht daraus, dass das Verwaltungsgericht in zwei Randnummern (27 und 29) der Entscheidungsgründe, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt offenkundig versehentlich, § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO als für die planungsrechtliche Zulässigkeit maßgebliche Vorschrift bezeichnet hat. Denn die unter Rn. 29 ausdrücklich getroffene Aussage, dass die Werbeanlage in dem tatsächlich festgesetzten Gewerbegebiet der Art nach allgemein zulässig ist, trifft fraglos zu, vgl. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO.
1.2 Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Zulassung der Nutzungserweiterung der bisher nur nach Osten wirkenden, in der Südostecke des Grundstücks FlNr. 316/3 im rechten Winkel zur Straße auf einem Monofuß errichteten Wechsel-Werbeanlage auch im Hinblick auf ihren Standort außerhalb der durch den am 17. September 1965 bekannt gemachten Bebauungsplan Nr. 221 der Beklagten festgesetzten Baugrenzen planungsrechtlich zulassungsfähig ist, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
1.2.1 Der Sachverhalt stellt sich aus der Sicht des Senats folgendermaßen dar:
Die in der zeichnerischen Darstellung dieses Bebauungsplans mit einem gerade durchgezogenen blauen Strich eingetragene „neue vordere Baugrenze“ verläuft in dem mit „GE“ bezeichneten Bereich entlang des K-wegs in rund 4 m Abstand von der Straßenbegrenzungslinie. Auf der Planzeichnung dieser Satzung tritt keines der im „GE“ als Bestand eingetragenen Gebäude vor diese, im fraglichen Bereich rund 175 m lange Baugrenze.
In den von der Beklagten vorgelegten Bauakten „K-weg 12“ befindet sich unter anderem – als Bestandteil der Genehmigung vom 24. Juli 2001 – ein Katasterkartenauszug vom 7. Februar 2001. Auf diesem wird auf dem westlich benachbarten Grundstück (FlNr. 346/9 alt, jetzt FlNr. 346/9 neu und FlNr. 346/51, je Gemarkung Oberhausen) das nahezu vollständige Heranrücken mit fast der gesamten straßenzugewandten Breite der jeweiligen dort bereits zur Zeit des Bebauungsplanerlasses vorhandenen Gebäude an die Grenze zum Gehweg dargestellt. Die dazu vorliegenden Fotos zeigen zwei eingeschossige Anbauten, die auch auf drei neueren Fotos aus dem Jahr 2016 in dem verfahrensgegenständlichen Vorgang 630-WB-2016-105-10 in äußerlich renoviertem Zustand zu erkennen sind. Auf dem jüngsten in den Akten enthaltenen Lageplan vom 7. April 2016 ist darüber hinaus auf dem östlich benachbarten Grundstück (FlNr. 316 der Gemarkung Oberhausen) ein neues Gebäude mit einem Grundriss vom 7 m mal 10 m eingezeichnet, das mit der kürzeren Seite unmittelbar an die Verkehrsflächen grenzt.
Ebenfalls auf den neueren Fotos („Ist-Zustand“ und „Standort mit Werbeträger“) ist auf diesem Grundstück eine geschätzt rund 2 m hohe, massive geschlossene Einfriedung abgebildet, die – unter Heranziehung eines aktuellen Lageplans und von Luftbildern aus google-earth – rund 60 m lang sein dürfte. Gegenüber dem letzten in den Akten enthaltenen Stand wurde das Grenzgebäude in Richtung Osten um 7 m erweitert.
Auf dem Baugrundstück wurde die Errichtung des verfahrensgegenständlichen Vorhabens mit Bescheid vom 24. Juli 2001 ursprünglich als einseitige, einschließlich ihres Vitrinenrahmens 3,85 m breite Werbeanlage auf einem 2,52 m hohen Monofuß unmittelbar am Straßenrand „widerruflich“ genehmigt. Dies geschah vor dem Hintergrund der damals aktuellen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Danach waren die Vorschriften des § 23 der Baunutzungsverordnung über die überbaubaren Grundstücksflächen nicht auf Werbeanlagen anzuwenden, weil es sich dabei nicht um Gebäude handele (vgl. U.v. 25.11.1998 – 26 B 96.3165 – BayVBl 1999, 503 = juris Ls und Rn. 17). Erst das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juni 2001 (4 C 1/01 – NVwZ 2002, 90 = juris Ls 2 und Rn. 11 bis 17) stellte klar, dass die Regeln des § 23 BauNVO nicht nur für Gebäude und Gebäudeteile, sondern auch für alle anderen baulichen Anlagen Geltung beanspruchen. Nur so könne das dem § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB zugrunde liegende Ziel erreicht werden, die städtebauliche Infrastruktur durch die Unterscheidung zwischen bebaubaren und nicht bebaubaren Grundstücksflächen durchgängig zu steuern.
Ein Widerrufvorbehalt bei einer Baugenehmigung als einem die Vereinbarkeit mit dem öffentlich-rechtlichen Prüfungsmaßstab im Zeitpunkt ihres Erlasses verbindlich und regelmäßig unbefristet feststellenden Verwaltungsakt ist ohne das Vorliegen besonderer Gründe im Einzelfall nicht zulässig (Molodovsky in Molodovsky/Famers/ Waldmann, BayBO, Stand 1.3.2018, Art. 68 Rn. 102, 104 unter Hinweis auf NdsOVG, U.v. 10.3.2004 – 1 LB 60/03 – NVwZ-RR 2005, 394 = juris Ls und Rn. 30 bis 35; anders wohl BayVGH, U.v. 25.11.1998 – 26 B 96.3165 a.a.O. Rn. 19: Ein Widerruf für den Fall künftiger Verunstaltung durch die Werbeanlage sei der Beklagten vorzubehalten). Mangels Erkennbarkeit einschlägiger Gründe hat die Beklagte hiervon zu Recht keinen Gebrauch gemacht; der Vorbehalt des Widerrufs in der Genehmigung aus dem Jahr 2001 dürfte ohnehin ins Leere gehen.
1.2.2 Zu den von der Beklagten im Zulassungsantrag aufgeworfenen Verfahrensfragen:
Das Vorhaben der Klägerin, der Umbau der vorhandenen Vitrine unter Beibehaltung ihrer äußeren Abmessungen zu einer auch nach Westen wirkenden Wechselwerbeanlage, bedarf nach Art. 55 Abs. 1, Art. 57 Satz 1 Nr. 12 BayBO einer Baugenehmigung. Die Baugenehmigung ist gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO zu erteilen, weil dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Art. 59 Satz 1 BayBO beschränkt im vorliegenden Fall den Maßstab der rechtlichen Prüfung auf die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB und beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 BayBO (dazu nachfolgend 1.3).
Die Beklagte rügt in ihrer Zulassungsbegründung, dass das Verwaltungsgericht einen „konkludenten Antrag“ auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht hätte ausreichen lassen dürfen (Schriftsatz vom 6.4.2018 auf Seite 8 unter V.). Nach Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO setze die Zulassung nicht nur von Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO, sondern auch von Ausnahmen und Befreiungen von bauplanungsrechtlichen Vorschriften des Bundes einen ausdrücklichen schriftlichen und begründeten Antrag voraus; anderenfalls liege – wie hier – ein prozessuales Hindernis für den Erfolg der Verpflichtungsklage vor.
Der Senat folgt dieser, allein auf den Wortlaut des Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO gestützten Meinung nicht. Die entscheidende Weichenstellung nimmt das Gesetz in Art. 59 Satz 1 BayBO mit der Bestimmung des Prüfumfangs seitens der Bauaufsichtsbehörde vor. Unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der einschlägigen Regelungen – namentlich auch des Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO –, die auf der Grundlage des Gesetzentwurfs der Staatsregierung vom 15. Januar 2007 (LT-Drs. 15/7161, Art. 63 BayBO war dort noch Art. 68b, zur Begründung vgl. Seite 69 linke Spalte oben) mit Wirkung zum 1. Januar 2008 grundlegend geändert (vgl. Art. 73 Abs. 1 BayBO 1998 im Vergleich zu Art. 59 Satz 1 BayBO 2008) beziehungsweise neu eingefügt wurden (wie Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO 2008), erscheint – wenn man die Vorschrift des Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO im nachfolgenden Verwaltungsprozess überhaupt für anwendbar hält – eine teleologische Reduktion deren Anwendungsbereichs nicht zuletzt zur Erzielung sachgerechter Ergebnisse angezeigt. Danach kann sich die Baugenehmigungsbehörde im Rechtstreit auf die Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung auf der Grundlage des Art. 59 BayBO nicht auf die formalen Anforderungen des Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO berufen, soweit es um die nur durch Erteilung von Ausnahmen und Befreiungen herzustellende Vereinbarkeit des Vorhabens mit bundesrechtlichem oder auf der Grundlage von Bundesrecht erlassenen Planungsrecht geht.
Der Genehmigungsmaßstab für die Bauaufsichtsbehörde umfasst selbst im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach dem klaren Wortlaut von Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO auch die Vorschriften des § 31 BauGB über Ausnahmen und Befreiungen. Nach dieser grundlegenden Verfahrensvorschrift ist damit die Zulassungsfähigkeit eines zur Genehmigung beantragten Vorhabens auch unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten stets zu prüfen. Während der Geltung des nachkonstitutionellen Baurechts von Bund und Ländern war es rund viereinhalb Jahrzehnte lang gängige Praxis, mit Einreichung des Bauantrags auch die für das Vorhaben erforderlichen Abweichungen als beantragt anzusehen (vgl. König in Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl., Art. 63 Rn. 23). Ein plausibler Bedarf, dies im Hinblick auf die mit einem Vorhaben möglicherweise verbundenen planungsrechtlichen Ausnahmen und Befreiungen zu ändern, bestand nicht. Welchen aus der Praxis mitgeteilten Anlass es gegeben haben sollte, gerade in dieser Hinsicht „die Verantwortlichkeit der Bauherrn und – namentlich auch – der Entwurfsverfasser für die Einhaltung der materiell-rechtlichen Anforderungen zu stützen“, wie es die Begründung zum Gesetzentwurf ausführt, wird nicht erläutert. Die Begründungspflicht ihrerseits soll lediglich eine Ordnungsvorschrift sein; sie soll keineswegs die Zulassung von Abweichungen erschweren, sondern die Bauaufsichtsbehörde dadurch, dass der Bauherr (mit dem Entwurfsverfasser) dazu angehalten wird, ihr seine Motive für die Abweichung darzutun, eine bauherrnfreundliche Entscheidung erleichtern.
Anders verhält es sich mit der durch Art. 59 Satz 1 BayBO (bis zum 31. August 2018, vgl. § 6 i.V.m. § 1 Nr. 17 a) = Art. 59 Satz 1 Nr. 1 b) des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10. Juli 2018, GVBl S. 523) im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren vollständig ausgeschlossenen Prüfung bauordnungsrechtlicher Vorschriften. Hier erstreckt sich die Prüfung durch die Bauaufsichtsbehörde seit dem 1. Januar 2018 nur noch auf beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO. Dadurch war es der Bauaufsichtsbehörde möglich, ein Vorhaben trotz Widerspruchs zu bauordnungsrechtlichen Vorschriften, namentlich des Abstandsflächenrechts, allein planungsrechtlich zu genehmigen. Erst der ausdrückliche Antrag auf Erteilung einer Abweichung von bauordnungsrechtlichen Vorschriften begründet eine Verpflichtung der Behörde zur entsprechenden Prüfung.
Diese Überlegungen führen dazu, dass die ohnedies nur die Formalien des Verfahrens vor der Bauaufsichtsbehörde regelnden Bestimmungen des § 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO im verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsprozess auch im Fall eines nach Art. 59 BayBO zu prüfenden Vorhabens nur hinsichtlich Abweichungen von Anforderungen der Bayerischen Bauordnung oder auf deren Grundlage erlassener Vorschriften Anwendung finden können.
Fehlt ein Antrag auf Befreiung, mag die Genehmigungsbehörde den Bauherrn wegen Unvollständigkeit des Bauantrags gemäß Art. 65 Abs. 2 Satz 1 BayBO zur Stellung eines solchen auffordern. Entscheidet sie aber über eine Ausnahme oder Befreiung in der Sache, ist es ihr nach Treu und Glauben entsprechend § 242 BGB jedenfalls verwehrt, sich hierauf im gerichtlichen Verfahren (Verpflichtungsklage) zu berufen.
1.2.3 Zur planungsrechtlichen Situation ist unter Berücksichtigung des oben unter der Nummer 1.2.1 beschriebenen Sachverhalts Folgendes anzumerken:
Hinsichtlich der planungsrechtlichen Situation hat es das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Prüfung der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB für die Annahme, dass im konkreten Einzelfall die Grundzüge der aus dem Jahr 1965 stammenden Bauleitplanung nicht berührt werden, genügen lassen, dass die Beklagte bereits mit Bescheid vom 24. Juli 2001 die Errichtung einer einseitig hinterleuchteten Wechselwerbeanlage genehmigt hatte. Das Ziel der Freihaltung des Bereichs südlich der Baugrenze bis zur öffentlichen Verkehrsfläche von baulichen Anlagen jeglicher Art könne jedenfalls am verfahrensgegenständlichen Standort so nicht mehr durchgesetzt werden. Die planerische Grundkonzeption werde durch die bloße Auswechslung der Vitrine, ohne dass damit eine Veränderung der Anlage hinsichtlich Standort und Abmessungen einhergehe, nicht mehr entscheidend berührt. Eine Vorbildwirkung für eine Vielzahl von gleichgelagerten Fällen ergebe sich wegen der vorangegangenen Erstgenehmigung für die einseitige Werbeanlage nicht.
Die Beklagte hält dem entgegen, dass allein die erteilte Abweichung von der festgesetzten Baugrenze, die einen Grundzug der Bauleitplanung darstelle, nicht dazu führe, dass die entsprechende Festsetzung keine Geltung mehr beanspruchen könne. Die Entstehung einer von den Festsetzungen eine Bebauungsplans abweichenden Bebauung allein verändere nicht die Grundzüge der Planung.
Aus der Sicht des Senats werden beide Auffassungen dem Sachverhalt nicht vollständig gerecht. Auf die Richtigkeit des vom Verwaltungsgericht gefundenen Ergebnisses, dass der verfahrensgegenständliche Bauantrag planungsrechtlich genehmigungsfähig ist, bleibt dies allerdings ohne Einfluss.
Ausgehend davon, dass es sich bei der in Rede stehenden Baugrenze auf den nördlich des K-wegs im Gewerbegebiet gelegenen Grundstücken um den Ausdruck einer planerischen Grundkonzeption – der grundsätzlichen Freihaltung eines 4 m breiten Streifens von baulichen Hauptanlagen – handelt, drängt sich vor dem Hintergrund der hier in den letzten über fünf Jahrzehnten und insbesondere in der jüngsten Vergangenheit stattgefundenen tatsächlichen Entwicklung die Frage auf, welcher Geltungsanspruch der Baugrenze im fraglichen Bereich noch zukommt. Wenn bereits von einer Funktionslosigkeit dieser Festsetzung auszugehen wäre, bedürfte es keiner Befreiung mehr. Wäre die Festsetzung zwar noch nicht vollständig funktionslos, könnte eine Befreiung aber deswegen angezeigt sein, weil die Auswirkungen des Vorhabens der Klägerin nicht mehr entscheidend ins Gewicht fallen, da die Grundkonzeption der Planung an Ort und Stelle durch die bisherige tatsächliche Entwicklung im Baugebiet aufgeweicht und stellenweise vollständig überholt ist (vgl. BayVGH, U.v. 9.8.2007 – 25 B 05.1337 – juris Rn. 35, 41; VG München, U.v. 3.4.2017 – M 8 K 15.5546 – juris Rn. 18, 34 ff.).
In Anbetracht der baulichen Entwicklung auf den Grundstücken FlNr. 316 (insgesamt 14 m lange Grenzgebäude neueren Datums, geschlossene Einfriedung an der Südgrenze auf ca. 60 m Länge), FlNr. 316/3 (im Jahr 2001 genehmigte Werbeanlage) und FlNr. 346/51 sowie 346/9 (jeweils etwa 8 m breite, eingeschossige Anbauten bis praktisch an die Gehwegkante, die wohl bereits vor 2001 errichtet wurden) erscheint es mehr als fraglich, dass das mit der Festsetzung der Baugrenze in 4 m Abstand von der öffentlichen Verkehrsfläche verfolgte Ziel hier in absehbarer Zeit noch einmal verwirklicht werden könnte. Es liegt vielmehr nahe, dass das entsprechende Abrücken der Bebauung auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen sein dürfte. In diesem, insgesamt rund 110 m langen Bereich kann die im Jahr 1965 festgesetzte Baugrenze keinen sinnvollen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung im Sinn des § 1 Abs. 3 BauGB mehr leisten (vgl. zu dieser Anforderung: BayVGH, U.v. 14.12.2016 – 2 B 16.1574 – NVwZ-RR 2017, 483 = juris Rn. 33 m.w.N.).
Jedenfalls aber ist dem Verwaltungsgericht im Ergebnis darin zuzustimmen, dass die Genehmigung des verfahrensgegenständlichen Bauantrags die planerische Grundkonzeption des Bebauungsplans nicht mehr entscheidend berühren kann. Selbst wenn man die Bauraumbegrenzung nicht für obsolet erachten wollte, wäre die entsprechende Festsetzung in der Umgebung des Baugrundstücks und auf diesem selbst derart aufgeweicht und überholt, dass eine Befreiungslage im Sinn von § 31 Abs. 2 BauGB gegeben ist. Wegen der Reduzierung des Ermessens in diesem Fall wird ergänzend auf die Ausführungen im angegriffenen Urteil verwiesen (a.a.O. Rn. 44).
Angesichts dessen kann auch von einer ins Gewicht fallenden Verschlechterung der aktuellen Situation vor Ort – anders als die Beklagte meint – nicht die Rede sein. Eine Bezugsfallwirkung sieht der Senat nicht. Hier handelt es sich um den Sonderfall einer bereits an diesem Standort genehmigten Anlage, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat (Urteil Rn. 39).
1.3 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils folgen auch nicht daraus, dass das Verwaltungsgericht die bauordnungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens über die Erteilung der beantragten Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO von der Einhaltung der Abstandflächen nach Art. 6 BayBO gegenüber dem östlich benachbarten Grundstück bejaht und die Beklagte hierzu verpflichtet hat.
Das Vorliegen einer besonderen, atypischen Lage ist darin zu sehen, dass die streitige Anlage aufgrund der Baugenehmigung vom 24. Juli 2001 errichtet wurde und in ihren äußerlichen Abmessungen, insbesondere der Ansichtsfläche der Vitrine, nicht geändert werden soll. Nach Aktenlage wird im Übrigen der grenznahe Bereich auf dem östlichen Nachbargrundstück auch in einer 4 m überschreitenden Tiefe nach Aktenlage seit Jahrzehnten als Zufahrt zum dort befindlichen Hauptgebäude genutzt.
2. Besondere rechtliche Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) bestehen im Hinblick auf die Beurteilung der planungsrechtlichen Situation nicht, vgl. oben 1.2.1 und 1.2.3.
3. Die behauptete Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) wird nicht in ausreichender Weise dargelegt. Dem erstinstanzlichen Urteil ist kein Rechtssatz zu entnehmen, wonach die Festsetzung von Baugrenzen nicht zu den Grundzügen einer Planung gehört. Ob eine Befreiung hiervon die Grundzüge der jeweiligen Planung berührt, ist eine Frage des Einzelfalls.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Streitwert: § 47, § 52 Abs. 1 GKG, wie Verwaltungsgericht.
Mit der unanfechtbaren (§ 152 Abs. 1 VwGO) Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).