Baurecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag nach stattgegebener Nachbarklage gegen Baugenehmigung für sechs Doppelhaushälften wegen nicht hinreichend deutlichen Abstandsflächen in Baugenehmigung

Aktenzeichen  1 ZB 21.735

Datum:
12.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20858
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
BayBO Art. 59 S. 1 Nr. 1b
BaybBO Art. 6 (idF v. 1.9.2018 – 31.1.2021)
BGB § 242

 

Leitsatz

1. Der Baugenehmigungsbescheid, der auf die geprüften und revidierten Bauvorlagen verweist, ist hinreichend bestimmt, wenn es die Antragsunterlagen sind. In nachbarrechtlichen Streitigkeiten ist dabei die Bestimmtheit der Baugenehmigung nur daraufhin zu prüfen, ob es dem Nachbarn möglich ist, festzustellen, ob und in welchem Umfang er durch das Vorhaben in seinen drittschützenden Rechten betroffen ist.  (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Nachbar hat grundsätzlich einen Anspruch auf zentimetergenaue Einhaltung der Abstandsflächen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 11 K 18.5124 2020-12-03 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beigeladene zu 2 trägt die Kosten des Zulassungsverfahren. Die Beigeladene zu 1 trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Kläger wenden sich gegen die auf den Nachbargrundstücken vorgesehene Bebauung mit sechs Doppelhaushälften.
Der Klage gegen die erteilte Baugenehmigung gab das Verwaltungsgericht statt. Die Baugenehmigung sei zu unbestimmt. Insbesondere lasse sich aus den Bauplänen die Einhaltung der Vorschriften über Abstandsflächen nicht mit der notwendigen Sicherheit feststellen. Durch die Einfügung einer Tekturklappe sei die genaue Position und der genaue Abstand der Nordostseite der Doppelhaushälften 1 und 2 zu der nordwestlichen Hauswand der Doppelhaushälften 5 und 6 nicht ersichtlich. Dies betreffe zwar eine Seite der Doppelhaushälften 5 und 6, welche nicht dem betroffenen Nachbargrundstück zugewandt sei. Das Gebäude mache aber in Richtung des klägerischen Grundstücks vom sog. 16-m-Privileg nach Art. 6 Abs. 5 BayBO Gebrauch, so dass die Kläger auch die Einhaltung der Abstandsflächen auf den anderen Seiten verlangen könnten. Unabhängig hiervon halte das genehmigte Bauvorhaben auch an der nordöstlichen Seite der Außenwand der Doppelhaushälften 5 und 6 die notwendige Abstandsfläche zum Grundstück der Kläger nicht ein. Für die Abstandsflächen sei auf die Umgestaltung des Geländes abzustellen, an der nordöstlichen Seite der Wand sei eine halbe Abstandsfläche von 3,49 m und an der südöstlichen Seite der Wand von 3,50 m einzuhalten. Aus den genehmigten Plänen lasse sich an der nordöstlichen Seite aber lediglich ein Abstand zur Grundstücksgrenze von 3,35 m herausmessen.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Wird das angegriffene Urteil auf zwei selbständig tragende Erwägungen gestützt, kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (vgl. für die Revisionszulassung BVerwG, B.v. 26.8.2019 – 4 BN 1.19 – NVwZ 2020, 326; B.v. 20.12.2016 – 3 B 38.16 u.a. – NVwZ-RR 2017, 266). Das ist nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht ist jedenfalls zu Recht davon ausgegangen, dass sich aus den genehmigten Plänen nicht hinreichend deutlich ergibt, dass die notwendigen Abstandsflächen vor der nordöstlichen Außenwand der Doppelhaushälften 5 und 6 eingehalten werden.
Für die mit Bescheid vom 13. September 2018 erteilte Baugenehmigung gilt Art. 59 BayBO in der Fassung vom 10. Juli 2018, so dass nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1b BayBO die Einhaltung der Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO (wieder) zum Prüfprogramm der Behörde gehörte. Da es sich vorliegend um eine Nachbarklage handelt, ist grundsätzlich maßgeblich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung; nur nachträgliche Änderungen zugunsten des Bauherrn sind zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, B.v. 8.11.2010 – 4 B 43.10 – BauR 2011, 499; B.v. 23.4.1998 – 4 B 40.98 – NVwZ 1998, 1179). Für die Berechnung der Abstandsflächen ist daher Art. 6 BayBO in der Fassung vom 10. Juli 2018 zu berücksichtigen. Dass die ab 1. Februar 2021 geltende Fassung des Art. 6 BayBO im Zusammenhang mit der von der Gemeinde erlassenen Abstandsflächensatzung vom 24. März 2021 eine günstigere Berechnung der Abstandsflächen insbesondere zu der Seite des klägerischen Grundstücks ermöglicht, wird weder im Zulassungsverfahren geltend gemacht noch ist dies ersichtlich.
Der Baugenehmigungsbescheid, der auf die geprüften und revidierten Bauvorlagen verweist, ist hinreichend bestimmt, wenn es die Antragsunterlagen sind (vgl. BVerwG, B.v. 20.5.2014 – 4 B 21.14 – juris Rn. 9). In nachbarrechtlichen Streitigkeiten ist dabei die Bestimmtheit der Baugenehmigung nur daraufhin zu prüfen, ob es dem Nachbarn möglich ist, festzustellen, ob und in welchem Umfang er durch das Vorhaben in seinen drittschützenden Rechten betroffen ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2020 – 1 CS 20.1595 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4; B.v. 28.5.2018 – 9 CS 18.10 – juris Rn. 13). Eine zur Aufhebung einer im Nachbarrechtsstreit angefochtenen Baugenehmigung führende Unbestimmtheit hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Baumaßnahmen kann sich daraus ergeben, dass sich hinsichtlich der einzuhaltenden Abstandsflächen relevante und zum Gegenstand der Baugenehmigung gemachte Pläne inhaltlich widersprechen (vgl. SächsOVG, B.v. 5.12.2002 – 1 B 325/01 – juris Rn. 21).
Nach diesen Maßgaben ist jedenfalls die Darstellung der Abstandsfläche an der nordöstlichen Ecke der Außenwand der Doppelhaushälften 5 und 6 unbestimmt, weil sich aus den genehmigten Plänen (Erstschrift und Zweitschrift) jeweils unterschiedliche Maße ergeben und der notwendige Abstand zur klägerischen Grundstücksgrenze in der Ausfertigung, die bei der Behörde als genehmigter Plan verbleibt, nicht nachgewiesen ist. Wie die Beigeladene zu 2 richtig vorgetragen hat, sind die Abstandsflächen in dem genehmigten Plan „Grundrisse EG und KG, Lageplan“ sowohl im Lageplan (Maßstab 1:1000) als auch im Grundrissplan als gestrichelte Linien eingezeichnet, die Darstellung mit Angabe der Maße erfolgt im Grundrissplan (Maßstab 1:100). Dabei hat der Planfertiger die einzuhaltende Abstandsfläche vor der Außenwand der Doppelhaushälften 5 und 6, die dem klägerischen Grundstück zugewandt ist, mit 3,55 m berechnet, der Abstand ist in der Erstfertigung an der nordöstlichen Ecke aber tatsächlich nur mit ca. 3,35 m vermaßt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat. Aus dem von der Beigeladenen zu 2 vorgelegten genehmigten Plan (2. Fertigung) kann hingegen der angegebene Abstand von 3,55 m knapp herausgemessen werden. Die Widersprüchlichkeit der eingereichten Pläne kann auch nicht durch Auslegung beseitigt werden. Sie ist für die Wahrung der Nachbarrechte maßgeblich, da die Einhaltung einer Abstandsfläche von 3,35 m an der nordöstlichen Ecke der Außenwand nicht ausreichend ist. Es besteht aufgrund der Situierung der drei Baukörper auf dem Baugrundstück hier auch kein Spielraum. Ob die Abstandsflächen richtig berechnet sind, ist keine Frage der Bestimmtheit der Baugenehmigung bzw. der Bauvorlagen, sondern der Richtigkeit der Darstellung der Abstandsflächensituation (vgl. BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4). Das Verwaltungsgericht ist ausgehend von den Darstellungen und Vermaßungen in dem Plan „Ansichten“ von einer einzuhaltenden Abstandsfläche von 3,49 m bzw. 3,50 m vor der nordöstlichen Außenwand der Doppelhaushälften 5 und 6 ausgegangen, die sich auch aus den Bleistifteintragungen des Behördenmitarbeiters in der Erstschrift ergibt; die entsprechenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts werden im Zulassungsverfahren nicht angegriffen (zu dem Abstellen auf die veränderte Geländeoberfläche vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2021 – 15 CS 21.403 – juris Rn. 100; B.v. 23.12.2013 – 15 CS 13.2479 – juris Rn. 17). Da bereits mit der widersprüchlichen Darstellung der Abstandsflächen in den vorgelegten und genehmigten Plänen eine nachbarrechtlich relevante Unbestimmtheit der Baugenehmigung vorliegt, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob sich eine solche auch dadurch ergibt, dass durch die verschoben aufgeklebte Tekturklappe der genaue Abstand der Nordostseite der Doppelhaushälften 1 und 2 zu der nordwestlichen Hauswand der DHH 5 und 6 nicht ersichtlich ist, oder ob hier aufgrund der Darstellung im Lageplan und in den weiteren Plänen bzw. ggf. auch durch die Art der Anbringung der Tekturklappe und deren Regelungsgehalt eine abschließende Bewertung möglich ist.
Soweit die Beigeladene zu 2 einen möglichen Abstandsflächenverstoß von wenigen Zentimetern auf wenigen Metern als unbeachtlich ansieht, kann dem nicht gefolgt werden. Der Nachbar hat grundsätzlich einen Anspruch auf zentimetergenaue Einhaltung der Abstandsflächen (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2021 – 15 CS 21.403 – juris Rn. 100; B.v. 13.1.1993 – 1 CS 92.3651 – juris Rn. 3). Die Berufung auf die Unbestimmtheit der Baugenehmigung hinsichtlich der Einhaltung der Abstandsflächen stellt sich auch nicht als unzulässige Rechtsausübung dar. Zwar kann sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) ein Nachbar gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück nicht dieser Vorschrift entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, U.v. 11.11.2014 – 15 B 12.2672 – NVwZ-RR 2015, 247; U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37; auch OVG NW, B.v. 18.6.2020 – 7 A 1510/18 – BauR 2020, 1441; VGH BW, B.v. 29.9.2010 – 3 S 1752/10 – juris Rn. 5). Die Kläger verstoßen aber an der Grenze zum Bauvorhaben nicht gegen das Abstandsflächenrecht. Auf ihrem Grundstück steht dort nach übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten nur eine ca. 3 m lange Garage. Soweit die Beigeladene zu 2 auf das angrenzende Grundstück abstellt, an dem die Kläger Miteigentum haben und auf dem sich grenzständige Garagengebäude (ca. 12 m) und ein Mülltonnenhäuschen befinden (6,5 m), stehen die Garagen zum einen nach dem unbestrittenen Vortrag der Kläger nicht im (Sonder-)Eigentum der Kläger, sondern die Kläger nutzen dieses Grundstück als Zuwegung zu ihrer eigenen Garage. Zum anderen ist die Lage der Gemeinschaftsgaragen an der Grundstücksgrenze durch eine entsprechende Festsetzung in dem dort geltenden Bebauungsplan verbindlich vorgeschrieben (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO).
Die Beigeladene zu 2 hat die Kosten des Zulassungsverfahren zu tragen, da ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene zu 1 ihre außergerichtlichen Kosten, soweit solche angefallen sein sollten, selbst trägt, da sie sich im Verfahren nicht geäußert hat (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 1.1.3, 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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