Baurecht

Inanspruchnahme des 16 m-Privilegs

Aktenzeichen  2 CS 19.1891

Datum:
18.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 30497
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 6

 

Leitsatz

Wird das Gebäude der Beigeladenen nicht im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 1 BayBO mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut, sondern teilweise deckungsgleich (hier: 9 m) an das Gebäude des Antragstellers, kann der Beigeladene das sog. 16 m-Privileg für die noch abstandsrelevante Außenwand (hier: 11,70 m) in Anspruch nehmen.  (Rn. 6), (Rn. 9) (red. LS Alexander Tauchert)

Verfahrensgang

M 29 SN 19.4251 2019-09-05 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragsteller hat keinen Erfolg, weil die dargelegten Gründe keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO rechtfertigen (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO). Der Senat sieht nach einer in einem Eilverfahren wie diesem angemessenen summarischen Prüfung (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 -1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581) im Rahmen der von ihm eigenständig zu treffenden Ermessensentscheidung keine Notwendigkeit für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage der Antragsteller gemäß § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Antragsteller als Nachbarn können eine Baugenehmigung mit dem Ziel ihrer Aufhebung nur dann erfolgreich angreifen, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch ihrem Schutz dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klage der Antragsteller wird jedoch aller Voraussicht nach erfolglos bleiben, weil der angefochtene Bescheid nicht an einem derartigen Mangel leidet.
1. Die Baugenehmigung vom 26. Juni 2018 verstößt voraussichtlich nicht gegen das im Einfügensgebot des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthaltene Rücksichtnahmegebot. Die Antragsteller haben schon nicht die Auffassung des Erstgerichts, dass Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien und Baugrenzen grundsätzlich keine drittschützende Funktion haben und auch die ortsrechtliche Vorschrift der Verordnung über die besonderen Siedlungsgebiete (GVO) keinen nachbarschützenden Charakter besitzt, substantiiert in Frage gestellt. Anhaltspunkte dafür, dass das in etwa dem Anwesen der Antragsteller entsprechende Bauvorhaben der Beigeladenen eine erdrückende oder einmauernde Wirkung haben könnte, sind nicht ersichtlich. Vielmehr zeigen die vorliegenden Pläne, dass das Gebäude der Antragsteller noch etwas weiter nach Süden vorrückt und auch in der Höhenentwicklung das Bauvorhaben der Beigeladenen etwas übertrifft. Inwieweit die Abgrabung auf dem Grundstück der Beigeladenen das Rücksichtnahmegebot verletzen soll, ist nicht erkennbar. Diese dürfte in ihrer Größenordnung etwa dem auf dem Grundstück der Antragsteller vorhandenen Pool entsprechen. Eine Beeinträchtigung der oberirdischen Gebäudeteile auf dem Anwesen der Antragsteller durch den unterirdischen Lichthof auf dem Grundstück der Beigeladenen ist nicht zu ersehen. Ihre Nachbarn von einem teilweisen Wohnen im Untergrund abzuhalten, gehört nicht zum geschützten Interessenbereich der Antragsteller.
2. Die angegriffene Baugenehmigung vom 26. Juni 2018 verstößt voraussichtlich auch nicht gegen die grundsätzlich nachbarschützenden Vorschriften des Abstandsflächenrechts nach Art. 6 BayBO. Gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO a.F. waren in der Baugenehmigung vom 26. Juni 2018 nur beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO vom Abstandsflächenrecht zu prüfen.
Die Beigeladene kann sich vorliegend auf das sog. 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 BayBO berufen. Der Senat hält insoweit an seinem Beschluss vom 6. Mai 2019 (2 CE 19.515 – juris) fest. Hiernach genügt vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge als Tiefe der Abstandsflächen die Hälfte der nach Art. 6 Abs. 5 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m (Satz 1 Halbsatz 1). Wird ein Gebäude mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut, gilt Satz 1 nur noch für eine Außenwand; wird ein Gebäude mit zwei Außenwänden an Grundstücksgrenzen gebaut, so ist Satz 1 nicht anzuwenden; Grundstücksgrenzen zu öffentlichen Verkehrsflächen, öffentlichen Grünflächen und öffentlichen Wasserflächen bleiben hierbei unberücksichtigt (Satz 2). Aneinandergebaute Gebäude sind wie ein Gebäude zu behandeln (Satz 3).
Grundsätzlich kann eine Verkürzung einer Abstandsflächentiefe nur den Nachbarn in seinen Rechten verletzen, dessen Grundstück der betreffenden Außenwand gegenüberliegt (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 17.4.2000 – GS 1/1999 – 14 B 97.2901 – VGH n.F. 53, 89/95 f.; BayVGH, U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – BayVBl 2016, 414). Für das sog. 16 m-Privileg ist jedoch entschieden, dass sich der Nachbar auch darauf berufen kann, dass durch eine Verkürzung der Abstandsflächentiefen an den abgewandten Gebäudeseiten zugleich die gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO entfallen (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 14.7.2000 – GS 1/1999 – 14 B 97.2901 – VGH n.F. 53, 89/96).
Vorliegend wird das Gebäude der Beigeladenen nicht im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 1 BayBO mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut. Denn Voraussetzung hierfür wäre eine oberirdische, ein Gebäude nach außen gegenüber dem Freien abschließende Wand (vgl. Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 30, 91; Dohm in Simon/Busse, BayBO, Stand August 2019, Art. 6 Rn. 8). Hier wird jedoch das Gebäude der Beigeladenen nicht mit einer freistehenden Wand an der Grundstücksgrenze zum Nachbargrundstück errichtet, sondern auf einer Länge von ca. 9 m an das Gebäude auf dem Grundstück der Antragsteller deckungsgleich angebaut. Insoweit stellen z.B. auch die seitlichen Abschlusswände eines Reihenmittelhauses keine Außenwände im Sinn dieser Vorschrift dar, als sie profilgleich aneinander gefügt sind (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 21.5.1990 – GS 1/1989 – 2 B 88.2884 – VGH n.F. 43, 88/93). Damit kann die Beigeladene das sog. 16 m-Privileg vor zwei Außenwänden in Anspruch nehmen.
Mit dem Anbau an das Gebäude auf dem Grundstück der Antragsteller sind angesichts des Bestandsgebäudes auf deren Grundstück und des geplanten Bauvorhabens der Beigeladenen keine aneinandergebauten Gebäude im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO gegeben, die wie ein Gebäude zu behandeln sind. Denn für das Vorliegen von aneinandergebauten Gebäuden in diesem Sinn ist es erforderlich, dass diese im Wesentlichen profilgleich, beispielsweise Doppelhaushälften oder Reihenmittelhäuser, an der Grundstücksgrenze, aneinandergebaut werden (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 21.5.1990 – GS 2/1989 – 2 B 88.2884 – VGH n.F. 43,88/93; Schwarzer/König, BayBO, 4. Auflage 2012, Art. 6 Rn. 92). Im vorliegenden Fall kann jedoch bereits aufgrund des Bestandsgebäudes der Antragsteller nicht mehr von aneinandergebauten Gebäuden, wie beispielsweise einem Doppelhaus ausgegangen werden. Vielmehr werden das Bauvorhaben der Beigeladenen und das Bestandsgebäude auf dem Grundstück der Antragsteller nach Süden hin über eine Länge von mehr als 11 m nicht aneinandergebaut, sondern halten einen Abstand zueinander von 6 m ein. Damit ist aber auch kein Doppelhaus im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gegeben. Hiernach müssten die einzelnen Häuser eines Doppelhauses an der gemeinsamen Grenze qualitativ und quantitativ in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise so aneinandergebaut und auch im Übrigen so aufeinander abgestimmt sein, dass das von ihnen gebildete Gesamtgebäude als bauliche Einheit erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BVerwGE 110, 355). Dies ist hier aufgrund der Tatsache, dass das Gebäude auf dem Grundstück der Antragsteller und das Bauvorhaben der Beigeladenen bei einer Gesamtlänge von mehr als 20 m nur auf einer Länge von 9 m aneinandergebaut werden, nicht der Fall. Bei den nicht aneinandergebauten Gebäudeteilen handelt es sich auch jeweils um massive bis zu zweigeschossige Bauten.
Die Einwände der Antragsteller gegen die Rechtsprechung des Senats (B.v. 6.5.2019 – 2 CE 19.515 – juris) greifen nicht durch. Aus der Entscheidung des Großen Senats des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Mai 1990 (B.v. 21.5.1990 – GS 2/1989 – 2 B 88.2884 – VGH n.F. 43, 88) ergibt sich, dass die seitlichen Abschlusswände eines Gebäudes insoweit keine Außenwände im Sinn von Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO darstellen, als sie profilgleich mit einem anderen Gebäude aneinandergefügt sind. Zwar gilt Satz 2 der Vorschrift danach für solche Teile der Abschlusswände zwischen aneinandergebauten Gebäuden, die horizontal oder vertikal versetzt sind und dadurch nach außen in Erscheinung treten. Dabei besteht aber natürlich die Voraussetzung, dass an eine Grundstücksgrenze angebaut wird. Hierbei spielt es keine Rolle, ob an eine Grenze gleichzeitig von beiden Seiten oder zunächst zur einseitig angebaut wird, wenn der Anbau an der anderen Seite der Grenze, insbesondere aufgrund planungsrechtlicher Vorgaben, absehbar ist (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 21.5.1990 – GS 2/1989 – 2 B 88.2884 – VGH n.F. 43, 88/93). Dies ist jedoch vorliegend auf den Grundstücken der Antragsteller und der Beigeladenen hinsichtlich der Gebäudeteile nach Süden hin über eine Länge von mehr als 11 m nicht der Fall.
Nachdem das Bauvorhaben der Beigeladenen nach Norden und nach Süden hin jeweils die volle Abstandsflächentiefe von 1 H gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO einhält, kann es nach Osten und nach Westen das sog. 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO in Anspruch nehmen. Zum Grundstück der Antragsteller hin besitzt die abstandsflächenrelevante Außenwand eine Länge von 11,70 m, während sie zum Grundstück des westlichen Nachbarn hin eine solche von 15,99 m aufweist. Unschädlich ist insoweit, dass die Antragsgegnerin im Baugenehmigungsbescheid vom 26. Juni 2018 zum Grundstück der Antragsteller hin eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO zugelassen hat. Nachdem die Beigeladene das sog. 16 m-Privileg zum Grundstück der Antragsteller hin in Anspruch nehmen kann, geht diese Abweichung ins Leere und kann damit nicht die Antragsteller in ihren Rechten verletzen.
Im Übrigen nehmen die Antragsteller, wie der von ihnen im Klageverfahren vorgelegte Abstandsflächenplan belegt, gegenüber dem Grundstück der Beigeladenen ebenfalls eine Verkürzung der Abstandsflächentiefe auf 0,5 H in Anspruch. Insoweit wurde mit einer Baugenehmigung vom 17. Juli 2000 eine Abweichung gemäß Art. 70 Abs. 1 BayBO a.F. zugelassen (vgl. B.v. 6.5.2019 – 2 CE 19.515 – juris). Die Antragsteller wollen demnach der Beigeladenen eine entsprechende Vergünstigung versagen, wie sie selbst sie in Anspruch genommen haben. Die Klärung, inwieweit ihnen nach Treu und Glauben (§ 254 BGB in entsprechender Anwendung) ihr Einwand versagt bleibt, muss gegebenenfalls einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Ebenso kann dort der Einwand der Beigeladenen genauer überprüft werden, dass den Antragstellern nach den Grundsätzen der Gegenseitigkeit verwehrt sei, sich auf einen Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht zu berufen, weil deren Anwesen hinsichtlich der Dachgaube und des dreigeschossigen Anbaus in Richtung auf das Grundstück der Beigeladenen die gesetzlichen Abstandsflächentiefen nicht einhalte.
Hinsichtlich der ins Leere gehenden Abweichung im Baugenehmigungsbescheid vom 26. Juni 2018 hat das Erstgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass das Vorliegen einer Atypik hier äußerst zweifelhaft wäre. Dies würde jedoch ebenso für die im Fall der Antragsteller mit Bescheid vom 17. Juli 2000 zugelassene Abweichung in Richtung auf das Anwesen der Beigeladenen gelten. Dagegen dürfte die Würdigung der nachbarlichen Belange im angefochtenen Bescheid insoweit nicht zu beanstanden sein.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht der Billigkeit im Sinn von § 162 Abs. 3 VwGO, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ebenfalls den Antragstellern aufzuerlegen, weil diese selbst einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko auf sich genommen hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.


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