Baurecht

Nachbarantrag, Mehrfamilienhaus im faktischen Dorfgebiet, Gebietsprägungserhaltungsanspruch, Rücksichtnahmegebot, vorhabensbedingter An- und Abfahrtsverkehr

Aktenzeichen  15 CS 22.43

Datum:
15.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3132
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 1, 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RO 2 S 21.2157 2021-12-22 Bes VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
III. Unter Abänderung von Nr.
III. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22. Dezember 2021 wird der Streitwert für beide Instanzen auf jeweils insgesamt 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich gegen die Errichtung von zwei Mehrfamilienwohnhäusern mit insgesamt neun Wohnungen durch das Landratsamt Regensburg zugunsten des Beigeladenen.
Mit Bescheid vom 15. März 2021 erteilte das Landratsamt Regensburg dem Beigeladenen die Baugenehmigung zum Neubau von öffentlich geförderten Wohnungen mit Tiefgarage auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung S … Das Bauvorhaben besteht aus zwei Mehrfamilienhäusern mit jeweils neun Wohnungen. Die Erschließung erfolgt über eine ca. 45 m lange Stichstraße (FlNr. … Gemarkung S …), die von der Hauptstraße aus nach Norden verläuft, zwischen 3 bis 10 m breit ist und an deren Ende das Baugrundstück liegt. Die Antragstellerin zu 2 ist Eigentümerin der Grundstücke FlNr. … und … Gemarkung S …, die jeweils im Westen an die Stichstraße angrenzen. Für den Antragsteller zu 1 ist jeweils ein Nießbrauchsrecht an den beiden Grundstücken der Antragstellerin zu 2 eingetragen.
Gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 15. März 2021 erhoben die Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg (RO 2 K 21.599), über die noch nicht entschieden ist. Mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 stellten sie einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 22. Dezember 2021 ablehnte. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass die Antragsteller gegenüber dem Wohnbauvorhaben keinen Gebietserhaltungs- und Gebietsprägungserhaltungsanspruch geltend machen könnten und die mit dem Bauvorhaben verbundenen Auswirkungen auf die Erschließung nicht derart gravierend seien, dass die Schwelle der Rücksichtslosigkeit überschritten werde. Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde.
Die Antragsteller sind der Ansicht, das Bauvorhaben verletze ihren Gebietsprägungserhaltungsanspruch, weil das Bauvorhaben nach Anzahl, Lage und Umfang der Eigenart des Gebiets widerspreche, was gerade auch für die verkehrlichen Auswirkungen gelte. Es sei völlig offen, wie der Verkehr von zwei Mehrfamilienhäusern mit jeweils neun Wohnungen über die enge Erschließungsstraße abgewickelt werden solle. Das Bauvorhaben sei zudem rücksichtslos, da gerade im Bereich des Wohnanwesens der Kläger kein Begegnungsverkehr möglich sei. Das Verwaltungsgericht folge insoweit einseitig der Stellungnahme der Deutschen Verkehrswacht vom 26. August 2020 und lasse das Gutachten der Kläger über die verkehrstechnische Erschließung durch das Sachverständigenbüro G … vom 5. Mai 2021 außer Betracht.
Sie beantragen,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22. Dezember 2021 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Antragsteller vom 30. März 2021 gegen den Bescheid des Landratsamts Regensburg vom 15. März 2021 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beschwerde sei mangels ausreichender Darlegung bereits unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Es sei fraglich, ob ein Gebietsprägungserhaltungsanspruch überhaupt bestehe, jedenfalls seien die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben, da es um die Vermeidung als atypisch angesehener Nutzungen gehe, die den Wohngebietscharakter als solchen störten. Dies sei bei zwei Mehrfamilienhäusern in einem faktischen Dorfgebiet nicht zu erwarten. Das Bauvorhaben sei auch nicht rücksichtslos, da die Zugänglichkeit zum Anwesen der Antragsteller nicht dem Grunde nach und auf Dauer in Frage gestellt sei. In der Stichstraße sei nicht mit einem erheblich über die Wohnnutzung hinausgehenden Verkehr zu rechnen. Die Belastungen durch die aufgrund der Wohnnutzung an- und abfahrenden Kraftfahrzeuge seien als sozialadäquat hinzunehmen.
Der Beigeladene hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der verschiedenen Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der auf Aufhebung der Baugenehmigung vom 15. März 2021 gerichteten Anfechtungsklage zu Recht abgelehnt. Die allein zu prüfenden Beschwerdegründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragsteller zu Recht abgelehnt, weil ihre Klage im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben wird. Die angefochtene Baugenehmigung dürfte, worauf es allein ankommt, nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstoßen, die zumindest auch dem Schutz der Antragsteller zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen geht hier demnach zulasten der Antragsteller aus.
1. Die Antragsteller können sich nicht auf einen Gebietsprägungserhaltungsanspruch berufen.
Das Vorbringen, die Kläger könnten sich auf die Wahrung der typischen Prägung des Gebiets berufen (Gebietsprägungsanspruch oder Gebietsprägungserhaltungsanspruch), weil das Bauvorhaben nach dem Umfang des zu erwartenden Verkehrs der Eigenart des Gebiets widerspreche, führt nicht zum Erfolg. Unabhängig davon, ob man einen solchen Anspruch überhaupt für denkbar hält, setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht damit auseinander, dass für ein behauptetes nachbarrechtswidriges Umschlagen von Quantität in Qualität das Bauvorhaben die Art der baulichen Nutzung derart erfassen oder berühren müsste, dass bei typisierender Betrachtung im Ergebnis ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets angenommen werden müsste. Mit den (strengen) Voraussetzungen oder Fallgruppen unter denen ein solcher Ausnahmefall angenommen werden könnte (vgl. BVerwG, U.v. 16.3.1995 – 4 C 3.94 – juris Rn. 17), setzen sich die Kläger nicht hinreichend auseinander. Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen ein Wohnen in Mehrfamilienhäusern gegenüber einem Wohnen in Ein- oder Zweifamilienhäusern negativ zu beurteilen sein könnte (vgl. BayVGH, B.v. 4.3.2021 – 15 ZB 20.3151 – juris Rn. 16). Denn es kommt hierbei weder auf die Zahl der Wohnungen (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2021 – 9 ZB 21.466 – juris Rn. 8) noch auf die Ausmaße der beiden Gebäude an (vgl. NdsOVG, B.v. 28.5.2014 – 1 ME 47/14 – juris Rn. 14). Soweit die Kläger unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Februar 2008 den vorhabenbedingten An- und Abfahrtsverkehr anführen (vgl. BVerwG, B.v. 22.2.2008 – 4 B 60.07 – juris Rn. 11), zeigen sie nicht auf, dass es sich bei den beiden Mehrfamilienhäusern um eine atypische Nutzung handelt, die den Charakter einer kollektiven Wohngemeinschaft i.S.d. Gebietscharakters stören könnte (vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2002 – 4 C 1.02 – juris Rn. 17), zumal es hier um Wohnen in einem faktischen Dorfgebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 3 BauNVO geht, für das andere Zumutbarkeitsgrenzen als im allgemeinen Wohngebiet gelten.
2. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich auch keine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens gegenüber den Antragstellern im Hinblick auf den vorhabenbedingten Zu- und Abfahrtsverkehr des Bauvorhabens über die Stichstraße FlNr. … Gemarkung S …
Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann zwar in Betracht kommen, wenn sich die Erschließungssituation eines Grundstücks durch eine vorhabenbedingte Überlastung einer das Grundstück des Betroffenen erschließenden Straße oder durch unkontrollierten Parksuchverkehr erheblich verschlechtert (vgl. BayVGH, B.v. 8.1.2019 – 9 CS 17.2482 – juris Rn. 20; B.v. 30.1.2018 – 15 ZB 17.1459 – juris Rn. 11). Insoweit ist aber weder dargelegt noch ersichtlich, dass die Zugänglichkeit zum Anwesen der Kläger „dem Grunde nach“ und auf Dauer in Frage gestellt wäre (vgl. BayVGH, U.v. 6.12.2000 – 26 N 00.1059 – juris Rn. 34 ff.). Dem Zulassungsvorbringen, das nur anführt, dass im Bereich des Wohnanwesens der Antragsteller kein Begegnungsverkehr möglich sei und das Verwaltungsgericht die von den Antragstellern vorgelegte gutachterliche Stellungnahme des Sachverständigenbüros G … vom 5. Mai 2021 außer Acht lasse, lässt sich keine unzumutbar erhebliche Verschlechterung entnehmen. Abgesehen davon, dass das Verwaltungsgericht sich – entgegen dem Beschwerdevorbringen – neben der Stellungnahme der Deutschen Verkehrswacht – Verkehrswacht Regensburg e.V. vom 26. August 2020 auch mit der gutachterlichen Stellungnahme vom 5. Mai 2021 auseinandergesetzt hat (BA S. 12 f.), ist die ca. 40 m lange Stichstraße FlNr. … Gemarkung S … nur in einem Bereich von ca. 6 m – zutreffend allerdings in einem Teilbereich vor dem Anwesen der Kläger – lediglich 3 m breit. Da aufgrund der Grundstückssituation und den vorhandenen Anliegern aber mit keinem über die Wohnnutzung hinausgehenden Verkehr zu rechnen ist, sind die mit der genehmigten Nutzung üblicherweise verbundenen Belastungen durch zu- und abfahrende Kraftfahrzeuge des Anwohnerverkehrs als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 8.1.2019 – 9 CS 17.2482 – juris Rn. 21). Auf die Bauphase kommt es insoweit regelmäßig nicht an (vgl. BayVGH, B.v. 28.3.2017 – 15 ZB 16.1306 – juris Rn. 19).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Da sich der Beigeladene im Beschwerdeverfahren nicht geäußert hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.1.3, 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Danach beträgt der Streitwert für eine Nachbarklage gegen einen baurechtlichen Bescheid 7.500 bis 15.000 Euro, soweit nicht ein höherer wirtschaftlicher Schaden feststellbar ist. Im Hinblick darauf, dass es im Hauptsacheverfahren hier um Nachbaranfechtungsklagen gegen eine Baugenehmigung für zwei Mehrfamilienhäuser mit jeweils neun Wohneinheiten geht, hat das Verwaltungsgericht einen etwas höheren Streitwert als den unteren Rahmenwert der Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs – mithin 10.000 Euro – für angemessen erachtet (vgl. BayVGH, B.v. 4.1.2021 – 15 C 20.2948 – juris Rn. 14), der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gemäß Nr. 1.5 des Streitwertkatlogs zu halbieren ist. Die beiden Antragsteller bilden allerdings keine Rechtsgemeinschaft i.S.d. Nr. 1.1.3 des Streitwertkatalogs (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2017 – 15 N 15.1713 – juris Rn. 55; Bendtsen in Saenger, ZPO, 9. Aufl. 2021, § 60 Rn. 7), so dass jeweils ein eigenständiger Streitwert, mithin hier in beiden Instanzen jeweils 5.000 Euro je Antragsteller, festzusetzen ist. Dass die Antragsteller als einfache Streitgenossen i.S.d. § 59 Var. 2 ZPO aus ihrem Eigentumsrecht bzw. Nießbrauchsrecht an denselben Grundstücken heraus vorgehen, genügt nicht für die Annahme einer Rechtsgemeinschaft i.S.d. Nr. 1.1.3 des Streitwertkatalogs. Die Befugnis zur Änderung der Streitwertentscheidung des Verwaltungsgerichts ergibt sich aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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