Baurecht

Nachbarklage, Einfügen, Maß der baulichen Nutzung, Gebietserhaltungsanspruch, Gebietsprägungs(erhaltungs) anspruch, Rücksichtnahmegebot, Erschließung

Aktenzeichen  9 CS 22.81

Datum:
21.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 4479
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO §§ 80 Abs. 5, 80a Abs. 3, 146 Abs. 4
BauGB § 34 Abs. 1 und 2
BauNVO § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 3 S 21.2047 2021-12-16 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen, einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller, der Eigentümer des mit einer Doppelhaushälfte bebauten Grundstücks FlNr. … der Gemarkung S. … ist, wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Genehmigung für den Abbruch einer Doppelhaushälfte und die Errichtung eines Wohnhauses mit sieben Wohneinheiten.
Das Vorhabengrundstück (FlNr. …) und das daran (auf einer Länge von etwa 10 m) angrenzende Grundstück des Antragstellers liegen im unbeplanten Innenbereich. Die nähere Umgebung wird von Wohnbebauung geprägt (Einfamilienhäuser, Doppelhäuser, Reihenhäuser).
Gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 27. Oktober 2021 hat der Antragsteller am 23. November 2021 Klage erhoben. Seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 abgelehnt, weil die Anfechtungsklage mangels Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift voraussichtlich keinen Erfolg haben werde. Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Beklagter und Beigeladener verteidigen den angefochtenen Beschluss.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage zu Recht als unbegründet abgelehnt. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.
1. Bei der nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung müssen die Interessen des Antragstellers an der vorläufigen Verhinderung der Bauausführung gegenüber dem Vollzugsinteresse des Beigeladenen hintanstehen, weil die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung vom 27. Oktober 2021 voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Dritte – wie hier der Antragsteller als Nachbar – können sich (auch im Verfahren gemäß § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO) nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen eine Baugenehmigung zur Wehr setzen, wenn diese rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2019 – 15 CS 19.1227 – juris Rn. 15; B.v 18.2.2020 – 15 CS 20.57 – juris Rn. 14, jew. m.w.N.).
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass § 34 Abs. 1 BauGB keine generell drittschützende Wirkung entfaltet. Es reicht daher nicht aus, dass sich ein Vorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise oder der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (§ 34 Abs. 1 BauGB). Der Nachbarschutz richtet sich vielmehr nach dem im Merkmal des Einfügens enthaltenen (eigentlich objektivrechtlichen) Gebot der Rücksichtnahme, das wiederum nur dann nachbarschützenden Charakter hat, wenn in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (OVG LSA, B.v. 15.2.2021 – 2 M 121/20 – juris Rn. 18 m.w.N.; vgl. dazu grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – juris Rn. 26 ff.).
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung entfaltet darüber hinaus § 34 Abs. 2 BauGB in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung uneingeschränkt nachbarschützende Wirkung (grundlegend BVerwG, U.v. 19.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 = juris Rn. 12). Der sog. Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen (hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung) nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Festsetzung von Baugebieten durch Bebauungspläne kraft Bundesrechts grundsätzlich dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dient. Aufgrund der Gleichstellung von geplanten und faktischen Baugebieten (im Sinn der BauNVO) in § 34 Abs. 2 BauGB besteht in diesem Umfang auch im unbeplanten Innenbereich ein identischer Nachbarschutz (vgl. Rieger in Schrödter, BauGB, 9. Aufl. 2019, § 34 Rn. 134; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2021, § 34 Rn. 50a m.w.N.).
Das Verwaltungsgericht ist unter Heranziehung dieser Maßstäbe nachvollziehbar davon ausgegangen, dass drittschützende Vorschriften hier voraussichtlich nicht verletzt sind.
1.1 Unter Berücksichtigung des Vortrags des Antragstellers in der Beschwerdebegründung sowie der Aktenlage ergibt sich kein Gebietserhaltungsanspruch. Das Vorhaben fügt sich nach der Art der baulichen Nutzung gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 oder § 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO ein. Auch ein Mehrfamilienwohnhaus ist ein Wohngebäude im Sinn dieser Regelungen. Die Anzahl der Wohnungen betrifft nicht die Art der baulichen Nutzung (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 6 m.w.N.).
1.2 Ob darüber hinaus ein (ggf. vom Rücksichtnahmegebot unabhängiger) „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ besteht, wonach ein Vorhaben, das im konkreten Baugebiet hinsichtlich der Nutzungsart an sich entweder allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, gleichwohl als gebietsunverträglich von einem Nachbarn im (auch faktischen) Plangebiet abgewehrt werden kann, ist in der Rechtsprechung umstritten (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2012 – 2 ZB 11.2653 – juris Rn. 8 f.; B.v. 8.1.2019 – 9 CS 17.2482 – juris Rn. 16; B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 9, jew. m.w.N.). Erforderlich wäre dafür jedenfalls, dass das Bauvorhaben der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspricht, es also – bezogen auf den Gebietscharakter des Baugebietes, in dem es verwirklicht werden soll – aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirkt und deswegen (in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung) gebietsunverträglich ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2012 – 2 ZB 11.2653 – a.a.O.; B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – a.a.O., jew. m.w.N.). Diese Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar verneint. Es hat zutreffend darauf abgestellt, dass die Zahl der Wohnungen im hier maßgeblichen Anwendungsbereich des § 34 Abs. 2 BauGB kein Merkmal ist, das die Art der baulichen Nutzung prägt (vgl. BayVGH, B.v. 8.1.2019 – 9 CS 17.2482 – a.a.O. m.w.N.). Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass ein rechtswidriges Umschlagen von „Quantität in Qualität“ möglich ist (vgl. BVerwG, U.v. 16.03.1995 – 4 C 3.94 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 22.6.2021 – 9 ZB 21.466 – juris Rn. 8), liegt bei einem Wohngebäude mit sieben Wohneinheiten keine Größenordnung vor, die es erlauben würde, von einer gegenüber Ein- oder Zweifamilienhäusern andersartigen Nutzungsart zu sprechen (vgl. BayVGH, B.v. 8.1.2019 – 9 CS 17.2482 – a.a.O.). Gründe dafür, ein Wohnen in Mehrfamilienhäusern gegenüber einem Wohnen in Ein- oder Zweifamilienhäusern negativ zu beurteilen, sah das Verwaltungsgericht ebenfalls nicht (vgl. BayVGH, B.v. 4.3.2021 – 15 ZB 20.3151 – juris Rn. 16). Das lediglich den erstinstanzlichen Vortrag wiederholende Beschwerdevorbringen gibt keinen Anlass, dies infrage zu stellen.
1.3 Soweit im streitgegenständlichen Beschluss eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO) verneint wird, bleibt die Beschwerde ebenfalls erfolglos. Unabhängig davon, dass die Vorschriften zum Maß der baulichen Nutzung auch im Rahmen des § 34 BauGB grundsätzlich nicht drittschützend sind (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 4.7.2016 – 15 ZB 14.891 – juris Rn. 8 m.w.N.), werden insofern keine substantiierten Einwendungen erhoben. Der pauschale Vortrag, dem Vorhaben komme bezogen auf den Antragsteller erdrückende, einmauernde oder abriegelnde Wirkung zu (vgl. zu den Voraussetzungen für derartige Verstöße gegen das Rücksichtnahmegebot BayVGH, B.v. 22.6.2021 – 9 ZB 21.466 – juris Rn. 12), ist nicht nachvollziehbar. So hält das Vorhaben die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften ein und der rückwärtige Gartenbereich des Grundstücks des Antragstellers grenzt nur auf einer Länge von weniger als 10 m an das Vorhabengrundstück. Im Übrigen kann zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts verwiesen werden.
Es liegt auch kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme im Hinblick auf die Erschließungssituation vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs entfalten grundsätzlich weder das bauplanungsrechtliche Erfordernis der gesicherten Erschließung noch die bauordnungsrechtlichen Anforderungen an eine gesicherte Erschließung (Art. 4 Abs. 1 Nr. 2 BayBO) nachbarschützende Wirkung (BayVGH, B.v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris Rn. 16 ff. m.w.N.). Eine Ausnahme hiervon ist nur in besonderen Fallkonstellationen anzuerkennen, in denen eine unzumutbare Verschlechterung substantiiert dargelegt wird (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2011 – 2 ZB 09.3021 – juris Rn. 3 m.w.N.; B.v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – a.a.O. Rn. 18; B.v. 22.6.2021 – 9 ZB 21.466 – juris Rn. 13). Dass eine drittschützende Wirkung vorliegt, wird vom Antragsteller lediglich behauptet, ohne auf die Maßstäbe einzugehen und dies näher zu begründen. Auch insofern kann daher vollumfassend auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen werden, wo im Einzelnen dargelegt wird, dass sich aus dem entsprechenden Vorbringen des Antragstellers keine Verletzung drittschützender Normen ergibt.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht billigem Ermessen, die dem Beigeladenen im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten für erstattungsfähig zu erklären, weil er einen eigenen Sachantrag gestellt und einen wesentlichen Beitrag im Verfahren geleistet hat (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs. Sie entspricht der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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