Baurecht

Nachbarklage, Erteilung einer Abweichung, Abstandsflächen, Ersatzbau, Ermessensausfall, Ermessensnichtgebrauch

Aktenzeichen  M 1 K 19.5065

Datum:
10.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13688
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3
BayBO Art. 63 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 63 Abs. 1 S. 2
BayVwVfG Art. 40

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamts Rosenheim vom 9. September 2019 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte und die Beigeladene je zur Hälfte. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die streitgegenständliche, zulässige Anfechtungsklage, § 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO, hat Erfolg. Der angefochtene Baugenehmigungsbescheid vom 9. September 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger aufgrund der Rechtswidrigkeit der erteilten Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften in seinen Rechten, sodass dieser aufzuheben war, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die Baugenehmigung rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betroffenen Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Die angegriffene Baugenehmigung verletzt den Kläger in seinen Rechten, da die Vorschriften des Abstandsflächenrechts (Art. 6 BayBO), die gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c BayBO 2018 (zur Frage der maßgeblichen Rechtslage s.u. 2.), ebenso wie die beantragte Abweichung gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO 2018, im vereinfachten Genehmigungsverfahren zu prüfen waren und diesen nachbarschützende Wirkung zukommt. Die gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften ist rechtswidrig.
2. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit vorliegender Nachbarklage gegen die Baugenehmigung vom 9. September 2019 ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung maßgeblich, mithin die Bayerische Bauordnung in der Fassung vom 10. Juli 2018 (BayBO 2018). Hinsichtlich späterer Änderungen ist zu differenzieren: solche zu Lasten des Bauherrn haben außer Betracht zu bleiben. Insofern vermittelt die erteilte Baugenehmigung dem Bauherrn nämlich eine Rechtsposition, die sich gegenüber im Rechtsmittelverfahren eines Dritten eintretenden Änderungen der Sach- und Rechtslage durchsetzen kann (BVerwG, U.v. 13.12.2007 – 4 C 9.07 – juris Rn. 13). Nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten sind dagegen zu berücksichtigen. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts vermittelten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (BVerwG, B.v. 23.4.1998 – 4 B 40/98 – juris Rn. 3).
Dementsprechend sind für die vorliegend maßgebliche Frage, ob das Vorhaben zu beachtende abstandsflächenrechtliche Vorschriften einhält, insbesondere, ob die gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilte Abweichung von den nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen rechtmäßig erteilt wurde, grundsätzlich die jeweiligen Regelungen der BayBO 2018, aber auch die zugunsten des Beigeladenen eingetretenen Rechtsänderungen zu berücksichtigen, s. hierzu jeweils unten.
3. Die Neuerrichtung des abgerissenen Teils des Hauptgebäudes ist abstandsflächenpflichtig. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind von oberirdischen Gebäuden Abstandsflächen vor den Außenwänden einzuhalten. Dies gilt bei der erstmaligen Errichtung eines Gebäudes, aber auch bei der Errichtung eines Ersatzbaus für ein abgerissenes Bestandsgebäude. Ein etwaiger Bestandsschutz ist mit dem Abriss verloren gegangen. Ein nachwirkender Bestandsschutz kann, weil er in der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) nicht angelegt ist, nur kraft besonderer, hier fehlender gesetzlicher Regelung anerkannt werden (BayVGH, U.v. 13.2.2001 – 20 B 00.2213 – juris Rn. 17).
Entgegen der in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung des Beklagtenvertreters entfällt diese Pflicht auch nicht aufgrund eines Vorrangs des Bauplanungsrechts, wie er in Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO vorgesehen ist. Danach ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Ein solcher Fall liegt hier schon deswegen nicht vor, weil das Vorhaben nicht unmittelbar an der Grenze, sondern in einem Abstand von 1m zu dieser errichtet worden ist. Eine Errichtung an der Grenze, wie sie Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO schon nach seinem eindeutigen Wortlaut fordert (BayVGH, U.v. 22.11.2006 – 25 B 05.1717 – NVwZ-RR 2007, 512) ist daher nicht gegeben.
4. Für den vorliegenden Rechtsstreit kann dahinstehen, welche Abstandsflächentiefe vom Vorhaben einzuhalten ist, denn das in 1m von der Grundstücksgrenze errichtete Gebäude hält unstreitig nicht einmal die gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO erforderliche Mindestabstandsflächentiefe von 3m ein. Es bedurfte also in jedem Fall einer Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO 2018. Zwar dürfte der Beigeladenen hinsichtlich der Tiefe der erforderlich werdenden Abstandsflächen nach oben (2.) Gesagtem wohl die Änderung des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 2018 zugutekommen, wie sie der Landesgesetzgeber mit Gesetz vom 23. Dezember 2020 vorgenommen hat. Danach beträgt die Tiefe der Abstandsflächen nun nicht mehr 1 H, sondern lediglich 0,4 H (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO in der Fassung vom 23. Dezember 2020 – im Folgenden: BayBO 2021). Zudem kann die jeweilige Gemeinde durch städtebauliche Satzung oder eine Satzung nach Art. 81 BayBO ein abweichendes Maß der Tiefe der Abstandsfläche zulassen oder vorschreiben, Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO. Für den vorliegenden Rechtsstreit kann dies aber offenbleiben, weil auch nach dem neuen Rechtsstand jedenfalls ein Mindestabstand von 3m einzuhalten wäre (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 2021).
5. Die gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilte Abweichung ist rechtswidrig. Der Beklagte hat hinsichtlich des ihm bei der Erteilung der Abweichung obliegenden Ermessens die Anforderungen des Art. 40 BayVwVfG nicht beachtet. Gemäß § 114 Satz 1 VwGO prüft das Gericht, wenn die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, auch, ob der Verwaltungsakt deswegen rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.
Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 vereinbar sind. Der Beigeladenen könnte zudem der mit Gesetzesänderung vom 23. Dezember 2020 eingefügte Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO (2021) zugute kommen, wonach von den Anforderungen des Art. 6 Abweichungen insbesondere zugelassen werden sollen, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Wohngebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird. Hierbei handelt es sich ausweislich der Gesetzesbegründung um einen Fall intendierten Ermessens als sog. Regelbeispiel (LT-Drs. 18/8547, Begründung zu Nr. 22 Buchst. a (Art. 63 Abs. 1 Satz 2 neu), S. 20). Allerdings braucht auch diese Frage für die vorliegende Entscheidung nicht geklärt zu werden, genauso wie offenbleiben kann, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Abweichung überhaupt vorgelegen haben. Jedenfalls hat der Beklagte das ihm zustehende Ermessen nicht in einer Art. 40 BayVwVfG entsprechenden Weise ausgeübt. Es liegt ein Ermessensnichtgebrauch vor.
Art. 40 BayVwVfG regelt, dass, so die Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, diese ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat. Sie ist damit verpflichtet, das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben.
Ob die Verwaltung von der Ermessensermächtigung Gebrauch gemacht hat, ist anhand aller erkennbaren Umstände zu beurteilen (Wolff in Sodan/Ziekow VwGO, 5. Auflage 2018, Rn. 114b zu § 114). Als Indiz für eine Ermessensunterschreitung dient regelmäßig, wenn die Begründung der Entscheidung die Gesichtspunkte der Abwägung nicht erkennen lässt (Geis in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 1. EL August 2021, Rn. 97 zu Art. 40 VwVfG). Daneben sind aber auch sonstige Umstände zu berücksichtigen (Wolff a.a.O.), sodass sich auch aus dem Gesamtzusammenhang ergeben kann, dass die Behörde eine Ermessensentscheidung getroffen und welche Ermessenserwägungen sie angestellt hat (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, Rn. 18 zu § 114).
Im streitgegenständlichen Bescheid ist zur Begründung der Abweichungsentscheidung in bloßer Wiedergabe des Gesetzeswortlauts ausgeführt, diese habe erteilt werden können, da sie unter Berücksichtigung der ausreichenden Belüftung und Belichtung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Weitere Ausführungen enthält die Begründung indes nicht. Insbesondere fehlt es an jeglichen Ausführungen zu den aus Sicht des Beklagten abwägungsrelevanten Gesichtspunkten und infolgedessen an einer Darlegung des Abwägungsvorgangs. Obschon aus der Formulierung „konnte erteilt werden“ gefolgert werden könnte, dass die Behörde das ihr zustehende Ermessen erkannt hat, ergeben sich mangels weiterer Ausführungen im Bescheid keine Anhaltspunkte für eine Ausübung. Dass der Beklagte sein Ermessen nicht ausgeübt hat, wird zudem dadurch bestätigt, dass sich dieser im Laufe des vorliegenden Verwaltungsstreitverfahrens zwar darauf berufen hat, die Abweichung sei im Hinblick auf denkmalschutzfachliche Belange erfolgt, sich hierzu jedoch aus den – nach Auskunft des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung vollständig – vorgelegten Akten keine Anhaltspunkte ergeben. Aktenkundig ist allein die Stellungnahme der Unteren Denkmalschutzbehörde vom 8. März 2019 (Bl. 46f. der Behördenakte) zum Bauantrag. Eine Forderung dahingehend, dass die Wiedererrichtung aus denkmalfachlichen Gründen nur in der von der Beigeladenen beantragten Form erfolgen dürfe, enthält diese Stellungnahme nicht. Eine Stellungnahme der Fachbehörde (Landesamt für Denkmalschutz) ist nicht aktenkundig geworden.
Dabei hat die Zulassung eines grenznahen (Wohn-)Gebäudes durch Erteilung einer Abweichung erhebliche Auswirkungen auf die öffentlich-rechtlich geschützten Belange eines betroffenen Nachbarn. Dieser wird aufgrund dessen gezwungen, ein Heranrücken der Bebauung an die Grenznähe zu dulden und die damit einhergehenden nachteiligen Auswirkungen auf die Belichtung, Belüftung, Besonnung und den Brandschutz und damit für sein grundgesetzlich geschütztes Eigentumsrecht (Art. 14 GG) hinzunehmen. Auch diesbezüglich finden sich keinerlei Ausführungen zu Ermessenserwägungen im angefochtenen Bescheid.
Eine Ergänzung der Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, § 114 Satz 2 VwGO, schied damit mangels Ermessensbetätigung im angefochtenen Bescheid aus.
6. Gemäß § 154 Abs. 1 und Abs. 3 VwGO tragen der Beklagte und die Beigeladene, die einen eigenen Klageabweisungsantrag gestellt hat, die Kosten je zur Hälfte. Es entsprach der Billigkeit, § 162 Abs. 3 VwGO, die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen zu lassen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 ZPO.


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