Baurecht

Nachbarklage gegen Balkonerweiterung oberhalb eines Wintergartens – Festsetzung eines Bauraumes bei Reihenhäusern

Aktenzeichen  M 8 K 17.2619

Datum:
24.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26499
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 30 Abs. 3, § 31 Abs. 2, § 34 Abs. 1, § 233 Abs. 3
BauNVO § 22 Abs. 2 S. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BBauG § 173 Abs. 3

 

Leitsatz

1 Der Festsetzung des Bauraums (hier: übergeleitetes und fortgeltendes Bauliniengefüge gemäß § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB, welches für das entsprechende Geviert einen Bauraum bestehend aus Baugrenzen, vorsieht) kommt keine nachbarschützende Wirkung zu. (Rn. 22 – 26) (red. LS Alexander Tauchert)
2 Gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten sind im dicht bebauten innerstädtischen Bereich unvermeidlich. (Rn. 29) (red. LS Alexander Tauchert)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vorläufig vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet und hat daher keinen Erfolg. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt die Klägerin nicht in ihren nachbarschützenden Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (vgl. BayVGH, a.a.O.). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren aber nicht zu prüfen war, trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung und der Nachbar ist darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung des Vorhabens zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244/96 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.10.2008 – 2 CS 08/2132 – juris Rn. 3).
Das mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung zugelassene Vorhaben verstößt weder in bauplanungsrechtlicher noch in bauordnungsrechtlicher Hinsicht gegen drittschützende Rechte der Klägerin, die im unstreitig durchzuführenden vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Bayerische Bauordnung (BayBO) zu prüfen sind.
2. Das Vorhaben verstößt in bauplanungsrechtlicher Hinsicht nicht gegen die Rechte der Klägerin.
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich nach § 30 Abs. 3 Baugesetzbuch (BauGB) i.V.m. § 34 BauGB, da kein Bebauungsplan für das streitgegenständliche Grundstück besteht, sondern nur ein gemäß § 173 Abs. 3 Bundesbaugesetz (BBauG) und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitetes und fortgeltendes Bauliniengefüge, welches für das Geviert einen Bauraum, bestehend aus Baugrenzen, vorsieht, und das streitgegenständliche Grundstück im Übrigen im unbeplanten Innenbereich liegt.
2.1 Eine Verletzung drittschützender Rechte hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung hat die Klägerin weder vorgetragen noch ist eine solche ersichtlich.
2.2 Das Maß der baulichen Nutzung, die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und die Bauweise sind grundsätzlich nicht drittschützend (vgl. BVerwG, B.v. 11.3.1994 – 4 B 53/94 – juris Rn. 4; B.v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 29.9.2008 – 1 CS 08.2201 – juris Rn. 1; B.v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2327 – juris Rn. 9; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 3; B.v. 30.9.2014 – 2 ZB 13.2276 – juris Rn. 4; VG München, B.v. 5.4.2017 – M 8 S7 17.1207 – juris Rn. 22), weshalb sich die Klägerin auf eine subjektive Rechtsverletzung diesbezüglich nicht berufen kann. Dass insbesondere der festgesetzte Bauraum Drittschutz vermittelt, hat die Klägerin wiederum weder vorgetragen noch ist ein solcher ersichtlich.
2.3 Hinsichtlich des Nachbarschutzes im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB ist danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird oder von nicht drittschützenden Festsetzungen. Weicht ein Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans ab, so hat der Dritte einen Rechtsanspruch auf Einhaltung der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. grundlegend BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 26.2.2014 – 2 ZB 14.101 – juris Rn. 3). Bei einer Befreiung von nicht drittschützenden Festsetzungen kann der Nachbar lediglich eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme geltend machen. Alle übrigen denkbaren Fehler einer Befreiung machen diese und die auf ihr beruhende Baugenehmigung dann zwar objektiv rechtswidrig, vermitteln dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch, weil seine eigenen Rechte nicht berührt werden (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 a.a.O.; BayVGH, B.v. 26.2.2014 a.a.O.; BayVGH, B. v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris Rn. 22).
Da der Festsetzung des Bauraums keine nachbarschützende Wirkung zukommt, kann allein eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots in Betracht kommen.
2.4 Das Vorhaben verletzt aber auch nicht das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme.
Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlichen von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist, an (vgl. BVerwG, U. v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – juris Rn. 22; U. v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 16; BayVGH, B. v. 12.09.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position inne hat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215/96 – juris Rn. 9).
Im Übrigen gibt das Rücksichtnahmegebot dem Nachbarn insbesondere nicht das Recht, vor jeglicher Beeinträchtigung, speziell vor jeglichen Einblicken verschont zu bleiben (vgl. Sächs. OVG, B.v. 23.2.2010 – 1 B 581/09 – juris Rn. 5). Gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten sind im dicht bebauten innerstädtischen Bereich unvermeidlich. Die – auch insoweit gegenseitig – Betroffenen können sich durch das Anbringen von Jalousien oder verspiegelten Fenstern behelfen (vgl. BayVGH, B.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris Rn. 30).
Die hier allein streitgegenständliche Vergrößerung des Balkons um 1,43 m Tiefe auf einer Breite von 3 m ist vor diesem Hintergrund für die Klägerin nicht unzumutbar.
Dabei ist schon zweifelhaft, ob sich die Klägerin auf die erhöhten Rücksichtnahmeanforderungen im Rahmen einer offenen Bauweise (hier: Reihenhausbebauung; vgl. allgemein hierzu BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5/12 – juris Rn. 13 m.w.N.; B.v. 19.3.2015 – 4 B 65/14 – juris Rn. 6) überhaupt berufen kann. Denn die Gesamtlänge des Häuserblocks im Geviert beträgt 70 m (abgegriffen aus dem Lageplan), sodass entsprechend § 22 Abs. 2 Satz 2 Baunutzungsverordnunug (BauNVO) keine offene Bauweise vorliegen dürfte.
Die Einblicksmöglichkeiten vom streitgegenständlichen Grundstück auf das klägerische Grundstück sind jedenfalls von der Klägerin hinzunehmen. Zum einen liegen die Grundstück in einem dicht bebauten innerstädtischen Bereich: im Geviert findet sich eine Reihenhausbebauung bzw. geschlossene Bauweise, wobei die Grundstücksbreiten (abgesehen von den Randgrundstücken) nur 7-8 m betragen. Eine Einsichtnahme von den oberen Stockwerken auf benachbarte Grundstücke ist hierbei unvermeidbar. Zum anderen unterscheiden sich die gegenseitigen Einblicksmöglichkeiten der Klägerin und der Beigeladenen nicht wesentlich. Sowohl der Klägerin als auch der Beigeladenen ist es möglich, vom 1. Obergeschoss in den Garten des Nachbarn zu sehen. Vom Erdgeschoss aus vermeiden dies Sichtschutzmaßnahmen. Eine erhebliche Vergrößerung der Einsichtsmöglichkeiten durch die Balkonerweiterung um nicht einmal 1,5 m ist für das Gericht nicht erkennbar; keinesfalls wird die Grenze zur Unzumutbarkeit überschritten.
Eine mögliche Erhöhung der Lärmbeeinträchtigung durch das Vorhaben hat die Klägerin zudem nur pauschal behauptet. Für das Gericht sind mit dem Vorhaben verbundene unangemessene Geräuschimmissionen nicht ersichtlich. Die Baugenehmigung erlaubt insbesondere keine lärmintensiven Veranstaltungen oder sonstigen Nutzungen auf dem Balkon; allein eine Nutzung zu Wohnzwecken ist genehmigt. Die vorhandene Größe des Balkons erscheint für das Gericht auch nicht für größere Festivitäten geeignet. Zwar mag richtig sein, dass der Kommunwand in ihrer Ausgestaltung nur äußerst begrenzt lärmabschirmende Wirkung zukommt, sozialadäquaten Lärm hat die Klägerin jedoch hinzunehmen.
Etwaige unzumutbare Beeinträchtigungen durch Regenwasser – auch hier bleibt der Vortrag der Klagepartei im Ungefähren – sind für das Gericht nicht erkennbar und werden nicht durch die Baugenehmigung legalisiert. Im Übrigen ergeht die Baugenehmigung unbeschadet der privaten Rechte Dritter, Art. 68 Abs. 4 BayBO. Die Klägerin ist folglich hinsichtlich möglicher Beeinträchtigung ihres Eigentums auf den ordentlichen Rechtsweg zu verweisen.
3. Eine Verletzung drittschützender Rechte des Bauordnungsrechts oder sonstiger öffentlich-rechtlicher Anforderungen ist schließlich weder vorgetragen noch ersichtlich. Etwaige durch das Vorhaben bzw. das gesamt Gebäude anfallende Abstandsflächen kommen auf dem streitgegenständlichen Grundstück zum Liegen.
4. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Es entspricht der Billigkeit, auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen der Klägerin gemäß § 162 Abs. 3 VwGO aufzuerlegen, da die Beigeladene einen Antrag gestellt und sich somit selbst einem Kostenrisiko gemäß § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung er-folgt gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben