Baurecht

Nachbarklage gegen Baugenehmigung unter Abweichung von den Festsetzungen der Baugrenzen im Bebauungsplan

Aktenzeichen  AN 3 S 15.02415

Datum:
27.1.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 68
BauGB 31 Abs. 2
BauNVO BauNVO § 15 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Weicht ein Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans ab, kann der Nachbar beanspruchen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind und das Befreiungsermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt wurde.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Befreit die Bauaufsichtsbehörde demgegenüber von Festsetzungen eines Bebauungsplans, die nicht dem Nachbarschutz dienen, kann ein Nachbar lediglich beanspruchen, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung über die Befreiung seine Interessen hinreichend würdigt, mithin die gebotene Rücksicht auf seine Belange nimmt. Darüber hinaus hat ein Nachbar im Falle einer nicht nachbarschützenden Festsetzung weder ein Abwehrrecht gegen eine lediglich objektiv rechtswidrige Befreiung noch einen umfassenden Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung. (redaktioneller Leitsatz)
3 Durch die Festsetzung eines Bebauungsplans über das Maß der baulichen Nutzung und die überbaubaren Flächen werden die Planbetroffenen nicht in gleicher Weise zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden, wie das für die Festsetzung der Art der baulichen Nutzung angenommen wird. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung und die überbaubare Grundstücksfläche lassen in der Regel den Gebietscharakter unberührt und haben nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke. Der Nachbarschutz in diesen Fällen wird – ausschließlich – nach den Maßstäben des drittschützenden Rücksichtnahmegebots des § 31 Abs. 2 BauGB gewährleistet. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Anträge werden abgelehnt.
2. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller sind Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. …, Gemarkung … Dieses Grundstück, das im Norden an die … angrenzt, ist mit einem in einem Abstand von ca. 7 m zur … hin errichteten Einfamilienhaus bebaut.
In einem Abstand vom Wohnhaus der Antragsteller von ca. 30 m nach Süden grenzt das Grundstück Fl.Nr. … an, das nunmehr im Eigentum der Beigeladenen steht. Auf diesem Grundstück, das nördlich des … gelegen ist, soll im Süden eine Doppelhaushälfte und im Norden davon ein Einfamilienhaus errichtet werden.
Gegenstand des Bauantrages der Beigeladenen vom 25. Februar 2015 ist ausschließlich die Errichtung eines zweigeschossigen Einfamilienhauses mit einer Dachneigung von 20 Grad.
Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans Nr. … „…“. Dieser Bebauungsplan sieht jeweils entlang der … im Norden und entlang des … im Süden Baugrenzen vor.
Mit ihrem Schreiben vom 5. März 2015 an die Gemeinde … erhoben die Antragsteller folgende Einwendung gegen das Vorhaben:
Der Abstand der Bebauungsgrenze nach Norden soll vergrößert und die Anzahl der Vollgeschosse von 2 auf 1,5 verringert werden. Ein Einfamilienhaus nördlich des geplanten Doppelhauses passe nicht in das alte, gewachsene Bild dieses Straßenabschnittes. Ihr Leben und ihr Wohlbefinden sei beeinträchtigt. Der Behauptung, dass die Nachbarn im Norden auch bald ihre Grundstücke verdichten wollten, werde widersprochen.
Soweit die Antragstellerin zu 1) die Baupläne unterschrieben habe, werde sie hiermit ihre Unterschrift vom Bauplan für das Einfamilienhaus zurückziehen. Bei dem Plan für dieses Einfamilienhaus gelte noch immer der Einspruch gegen die Geschossflächenzahl und insbesondere Abstandsgrenzen zum Grundstück nach Norden.
Mit den Beschlüssen vom 17. März 2015 und 28. Juli 2015 erteilte die Gemeinde… ihr Einvernehmen zum Bauvorhaben der Beigeladenen.
Mit Bescheid vom 29. Oktober 2015 erteilte das Landratsamt … den Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses unter gleichzeitiger Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich
Baugrenze für Hauptgebäude,
Dachneigung (20 Grad statt 30 Grad) und
Traufhöhe 6,10 m statt 5,50 m.
In den Gründen der Baugenehmigung führte das Landratsamt … im Wesentlichen folgendes aus:
Die Befreiungen hätten erteilt werden können, da derartige Abweichungen städtebaulich vertretbar seien, die Grundzüge der Planung nicht berührt würden und die Abweichungen unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar seien.
Durch die Befreiung von den Baugrenzen sei eine zusätzliche Bebauung möglich, die zu einer grundsätzlich erwünschten Nachverdichtung führe. Die Abweichung sei städtebaulich vertretbar, da die Baugrenzen auch für den in Rede stehenden Grundstücksbereich hätten festgesetzt werden können und mithin mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung vereinbar seien.
Die nachbarlichen Interessen seien gewahrt, da die Abstandsflächen trotz Überschreitung der Baugrenzen eingehalten würden, so dass eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Nachbargrundstücke grundsätzlich gewährleistet sei. Aufgrund der aufgelockerten Bebauung auf den angrenzenden Grundstücken sei durch die Errichtung des Einfamilienwohnhauses auch kein „Einmauerungseffekt“ zu befürchten, der einen weitergehenden Abstand erforderlich machen würde. Somit liege eine unzumutbare Beeinträchtigung der Nachbarn nicht vor. Auch eine mögliche stärkere Verschattung des Gartens stelle keine unzumutbare Beeinträchtigung dar.
Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass mit der Festsetzung der Baugrenzen ein rückwärtiger Ruhebereich geschaffen werden sollte. Bereits die Festsetzung des Baufensters auf dem Grundstück Fl.Nr. … widerspreche dieser Annahme, da hier eindeutig ein Rücksprung von der … in den hinteren Grundstücksbereich erfolgt sei. Die Erteilung der Befreiung von den Baugrenzen entspreche pflichtgemäßem Ermessen.
Im Geltungsbereich des Bebauungsplans seien bereits Befreiungen von der Baugrenze erteilt und auch eine Bebauung in zweiter Reihe ermöglicht worden, so z. B. auf den Fl.Nrn. …, … und …
Die verringerte Dachneigung führe zu einer geringeren Gesamthöhe des Gebäudes und damit verbunden zu einer geringeren Beeinträchtigung der Belichtung der Nachbargrundstücke. Im Geltungsbereich seien bereits geringere Dachneigungen zugelassen worden.
Die Befreiung von der festgesetzten Traufhöhe berühre schon deshalb keine Grundzüge der Planung, weil sich die Höhenentwicklung des Gebäudes gegenüber der Festsetzung nicht ändere.
Der Bebauungsplan setze einen Sockel von 0,60 m und eine Traufhöhe von 5,50 m fest. Die geplante Wandhöhe betrage 6,10 m, wäre also nicht höher als die Wandhöhe, die sich bei der Addition der zulässigen Sockelhöhe und der Traufhöhe ergebe. Für Dritte bleibe der Eindruck bei gleichbleibender absoluter Höhe fast unverändert unabhängig davon, ob sich die sichtbare Wand mit dem Gelände aus lediglich zwei Stockwerken oder aus einem Sockel und zwei Stockwerken ergebe.
Da aus den vorliegenden Unterlagen auch nicht mehr nachvollzogen werden könne, weshalb im Bebauungsplan die Höhe der Wand in Sockel- und Traufhöhe unterteilt worden sei, sei außerdem fraglich, inwieweit hier die Traufhöhe als eigenständige Festsetzung gesehen werden könne. Zudem seien die Abstandsflächen eingehalten, so dass eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Nachbarn ausgeschlossen sei.
Die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen eine Befreiung erteilt worden sei, hätten grundsätzlich keinen drittschützenden Charakter. Der nachbarschützende Charakter hätte im Bebauungsplan oder zumindest während des Aufstellungsverfahrens dargestellt werden müssen. Aus dem Bebauungsplan und vorliegenden Unterlagen des Aufstellungsverfahrens sei nicht ersichtlich, dass die Festsetzungen auch dem Nachbarschutz hätten dienen sollen bzw. sollten.
Die Festsetzungen vermittelten auch kein nachbarschützendes Austauschverhältnis, insbesondere hinsichtlich eines rückwärtigen Ruhebereichs. Denn bereits der Rücksprung des Baufenster auf dem Grundstück Fl.Nr. … widerspreche diesem Austauschverhältnis. Die bisher bereits verwirklichten Bauvorhaben auf den Nachbargrundstücken (Fl.Nrn. … und …) im Einvernehmen mit der Gemeinde machten deutlich, dass die Gemeinde hier keinen rückwärtigen Ruhebereich hätte schaffen wollen.
Dementsprechend seien durch die erteilten Befreiungen keine nachbarlichen Belange beeinträchtigt und das Rücksichtnahmegebot gemäß § 15 BauNVO nicht verletzt. Aufgrund der Einhaltung der Abstandsflächen könne von einer unzumutbaren Beeinträchtigung oder einer unzumutbaren Verringerung der Belichtung oder Belüftung oder einem Einmauerungseffekt nicht gesprochen werden. Gerade auch die bestehende aufgelockerte Bebauung ringsum führe dazu, dass kein Einmauerungseffekt zu befürchten sei.
Die erhöhte Möglichkeit zur Einsichtnahme werde durch das öffentliche Baurecht grundsätzlich nicht geschützt und es werde auch lediglich die Einsichtnahme in Teile des Gartens möglich, der keinen besonders geschützten Raum (z. B. Schlafzimmer) darstelle.
Ein allgemeines „Unwohlsein“ oder „Bedrängtsein“ stellte keine unzumutbare Beeinträchtigung dar, die gegen das Rücksichtnahmegebot verstoße. Die beabsichtigte oder gerade nicht geplante Bebauung der Nachbargrundstücke sei im Baugenehmigungsverfahren nicht beachtlich, insbesondere solange lediglich eine vage Absicht und keine konkrete Planung vorliege. Andere Befreiungen, z. B. Zahl der Vollgeschosse, seien nicht notwendig gewesen. Zudem bedingten sich die Festsetzungen nicht gegenseitig, so dass die betroffenen Festsetzungen nur im Zusammenhang mit den anderen Festsetzungen hätten gesehen werden können.
Diese Baugenehmigung wurde den Antragstellern mit Einschreiben (Aufgabe zur Post am 5.11.2015) zugestellt.
Mit dem bei Gericht am 30. November 2015 eingegangenen Schriftsatz ließen die Antragsteller Klage erheben (AN 3 K 15.00788, über die noch nicht entschieden ist) und beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Hauptsacheklage gegen den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamtes … vom 29. Oktober 2015 anzuordnen.
Aus dem Bebauungsplan ergebe sich, dass die hinteren und seitlichen Baugrenzen der Grundstücke zwischen der … und dem … sowie beispielsweise auch die Baugrenzen der Grundstücke zwischen dem … und der … derart angeordnet seien, dass die hinteren und seitlichen Baugrenzen auf den jeweiligen Grundstücken jeweils einen rückwärtigen Ruhebereich schafften. Weder aus dem Planteil noch aus dem Textteil des Bebauungsplans ergebe sich, dass dies aus ausschließlich städtebaulichen Gründen erfolgt sei.
Die Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der hinteren und seitlichen Baugrenzen, insbesondere soweit diese die rückwärtigen Ruhezonen abgrenzten, seien drittschützend.
Anders als straßenseitige Baugrenzen hätten rückwärtige Baugrenzen an sich gegenüberliegenden Grundstücken sowie die seitlichen Baugrenzen an seitlich rückseitig angrenzende Grundstücke regelmäßig nachbarschützende Wirkung. Diese Regel fuße auf der Annahme, dass mit derartigen Festsetzungen grundsätzlich ein nachbarschaftliches Austauschverhältnis begründet und nach dem Willen des Ortsgesetzgebers ein gegenseitiges Verhältnis der Rücksichtnahme geschaffen werden solle. Die Regel greife nur dann nicht, wenn sich aus dem Bebauungsplan und/oder dem zu ihm gehörenden Unterlagen entnehmen lasse, dass mit der Festsetzung der überbaubaren Grundstücksflächen durch Baulinien oder Baugrenzen über die damit verfolgten städtebaulichen Gesichtspunkte hinaus die Rechte der Nachbarn nicht geschützt werden sollten. Ein Nachbarschutz vermittelndes Austauschverhältnis ergebe sich dann, wenn rückwärtige Baugrenzen in einem einheitlich bebauten Straßengeviert so festgesetzt seien, dass sie im Inneren eine zusammenhängende, allen angrenzenden Grundstücken zugute kommende unbebaute („grüne“) Fläche entstehe (VGH, B. v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171; VGH, B. v. 27.4.2009 – 14 ZB 08.1172). Drittschutz würden entsprechende Festsetzungen eines Bebauungsplanes bereits dann vermitteln, wenn nicht feststehe, dass ausschließlich städtebauliche Gründe für die Schaffung der rückwärtigen unbebauten Grundstücksflächen maßgeblich wären und seien. Vorliegend ergebe sich im rückwärtigen Bereich der Grundstücke zwischen der … und dem … ein rückwärtiger Ruhebereich, welcher durch die rückwärtig und seitlich vorgesehenen Baugrenzen begrenzt werde. Diese Begrenzung stelle sich zwischen der … sowie dem … grundsätzlich einheitlich dar. Einzige Ausnahme sei der bereits im Bebauungsplan vorgesehene öffentliche Weg auf Grundstück Fl.Nr. …, welcher den gesamten Bereich in zwei rückwärtige Ruhebereiche unterteile.
Die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der Baugrenze sei rechtswidrig, da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt seien. Die Errichtung des Gebäudes entsprechend den Vorstellungen der Grundstückseigentümer würde dazu führen, dass ein Gebäude in vollständigen Umfang in der durch die Baugrenzen festgelegten rückwärtigen Ruhezone errichtet werde. Hierdurch werde dieser Ruhebereich entscheidend beeinträchtigt. Die Schaffung der rückwärtigen Ruhebereiche gehöre zu den Grundzügen der (konkreten) Planung. Hierbei sei kein allzu strenger Maßstab anzulegen. Andernfalls hätten die Festsetzungen eines Bebauungsplans praktisch keinerlei rechtliche Bedeutung.
Eine hinreichende Begründung sei auch der Baugenehmigung vom 29. Oktober 2015 nicht zu entnehmen. Diese erkenne zwar, dass im vorliegenden Bereich eine „aufgelockerte Bebauung“ vorhanden sei, ziehe hieraus jedoch unzutreffende Rückschlüsse. Zudem setze sich die Begründung nicht hinreichend mit dem Vorhandensein bzw. der Beeinträchtigung der vorhandenen rückwärtigen Ruhebereiche auseinander.
Das Landratsamt führe in seiner Begründung aus, dass auf den Fl.Nrn. … und … bereits eine Bebauung „in zweiter Reihe“ vorhanden sei.
Aus der Begründung des Landratsamtes ergebe sich unzutreffender Weise nicht, dass jeweils westlich und östlich des Weges auf Fl.Nr. … zwei uneingeschränkte, in sich zusammenhängende rückwärtige Ruhebereiche vorhanden seien, welche jeweils durch bereits ursprünglich vorgesehene Fußwege getrennt würden. Auf den in der Begründung bezeichneten Grundstücken befinde sich lediglich im Randbereich eine weitere Bebauung jeweils mit Doppelhäusern, die jedoch den Bestand der rückwärtigen Ruhebereiche weder gefährdeten noch beseitigten. Abweichend hiervon befinde sich das Grundstück Fl.Nr. … rückseitig mitten in einem rückwärtigen Ruhebereich. Die Bebauung mit einem zweiten Gebäude würde diesen Bereich in seinem Bestand grundlegend verändern und im Ergebnis beseitigen. Insoweit stelle sich der Sachverhalt gerade anders als bei den bereits vorhandenen rückwärtigen Bebauungen an den bereits ursprünglich vorgesehenen Gehwegen dar.
Soweit das Landratsamt in seiner Begründung anführe, dass ein Einmauerungseffekt nicht zu befürchten sei, werde der gesamte Sachverhalt nicht hinreichend betrachtet. Das Landratsamt erkenne zwar, dass es bei einer rückwärtigen Bebauung mehrerer oder aller Grundstücke zu einem Einmauerungseffekt komme. Es sei dennoch der Ansicht, dass die nun beabsichtigte Bebauung nicht die Grundzüge der Planung beeinträchtige. Mit seiner Begründung sehe das Landratsamt jedoch bereits vorher, dass weitere Bebauung und Ruhebereiche zu einem Einmauerungseffekt führen könne, was ohne Zweifel dem weiteren mit der Festsetzung von Baugrenzen verfolgten Belang der „aufgelockerten Bebauung“ zuwiderlaufe. Wie würde sich das Landratsamt verhalten, sofern nun unter den gleichen Voraussetzungen die Eigentümer der Grundstücke Fl.Nrn. …, …, … sowie … eine rückseitige Bebauung ihrer Grundstücke beantragten. Es seien insbesondere keine Gründe ersichtlich, weshalb eine doppelte, auch rückwärtige Bebauung gerade auf dem Grundstück Fl.Nr. … die Voraussetzungen einer Befreiung erfüllen sollte.
Das Landratsamt … legte am 20. Januar 2016 die Akten vor. Die Befreiung von der Baugrenze für das gesamte Hauptgebäude widerspreche nicht dem städtebaulichen Konzept, da der Bebauungsplan für jedes Grundstück ein Baufenster für ein Wohnhaus vorsehe. Für den streitgegenständlichen Grundstücksbereich des Bauvorhabens wäre es ebenso im Rahmen einer geordneten städtebaulichen Entwicklung vertretbar, hier Baugrenzen festzusetzen, um eine zusätzliche Bebauung zu ermöglichen. Eine Nachverdichtung sei unter dem Gesichtspunkt des sparsamen Umgangs mit Grund und Boden gewünscht, um die zusätzliche Inanspruchnahme von Bauflächen zu verringern (§ 1a Abs. 2 Satz 1 BauGB). Im Zuge der Nachverdichtung seien im Baugebiet bereits mehrere Bauvorhaben außerhalb der Baugrenze zugelassen worden. Die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen die Befreiungen erteilt worden seien, hätten grundsätzlich keinen drittschützenden Charakter. Der nachbarschützende Charakter hätte im Bebauungsplan oder zumindest während des Aufstellungsverfahrens dargestellt werden müssen. Aus dem Bebauungsplan und den vorliegenden Unterlagen des Aufstellungsverfahrens sei nichts ersichtlich, dass die Festsetzungen auch dem Nachbarschutz dienen sollten bzw. sollen. Die Festsetzungen vermittelten auch kein nachbarschützendes Austauschverhältnis insbesondere hinsichtlich eines rückwärtigen Ruhebereichs. Denn bereits die Festsetzung des Baufensters auf dem Grundstück Fl.Nr. … widerspreche dieser Annahme, da hier eindeutig ein Rücksprung von der … in den hinteren Grundstücksbereich erfolgt sei. Auch die bisher bereits verwirklichten Bauvorhaben auf den Nachbargrundstücken im Einvernehmen mit der Gemeinde machten deutlich, dass die Gemeinde hier keinen rückwärtigen Ruhebereich habe schaffen wollen. Solcher Planungswille sei nicht erkennbar. Ein Anspruch auf Fortbestand einer faktischen Ruhezone der Eigentümer eines Grundstücks, bezogen auf das Nachbargrundstück, um dort eine Bebauung zu verhindern, sei nicht gegeben. Die Errichtung des streitgegenständlichen Wohnhauses berühre das bestehende Wohnhaus der Antragsteller aufgrund seiner geplanten Situierung nicht in nachbarlichen Schutzrechten, da die östlich und westlich angrenzende Wohnbebauung näher an das Wohnhaus der Antragsteller herangerückt sei. Aufgrund der Einhaltung der Abstandsflächen könne von einer unzumutbaren Beeinträchtigung oder einer unzumutbaren Verringerung der Belichtung oder Belüftung oder einem Einmauerungseffekt nicht gesprochen werden. Durch die geplante Bebauung werde das zulässige Maß der baulichen Nutzung im vorhandenen allgemeinen Wohngebiet eingehalten. Somit sei aufgrund der streitgegenständlichen Bebauung für die bestehende aufgelockerte Bebauung weiterhin kein Einmauerungseffekt zu befürchten. Auch eine mögliche stärkere Verschattung eines benachbarten Gartens stelle keine unzumutbare Beeinträchtigung dar. Dementsprechend sei durch die erteilte Befreiung von der Festsetzung der Baugrenze kein nachbarlicher Belang beeinträchtigt und auch das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt.
Mangels Erfolgsaussicht der Hauptsache sei daher auch der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Akten des Landratsamtes … (BV-Nr. …) Bezug genommen.
II.
Streitgegenstand vorliegender Anträge ist die Beseitigung der sofortigen Vollziehbarkeit der den Beigeladenen durch den Antragsgegner mit Bescheid vom 29. Oktober 2015 erteilten Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses unter gleichzeitiger Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. … „…“ der Gemeinde …
Die Anträge sind zulässig, jedoch nicht begründet.
In Fällen, in denen die gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO dem Grundsatz nach gegebene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wie vorliegend durch ein Bundesgesetz ausgeschlossen ist (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 212a Abs. 1 BauGB), kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung der innerhalb der Frist des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO rechtzeitig erhobenen Klage anordnen. Bei der Entscheidung hat das Gericht in einer dem Charakter des summarischen Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO entsprechenden Weise die Interessen der Antragstellerseite und des Antragsgegners sowie der Beigeladenen gegeneinander abzuwägen (Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl., § 80 Rn. 152), wobei vorrangig die bereits überschaubaren Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen sind.
Nach diesen Grundsätzen müssen die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen der Antragsteller ohne Erfolg bleiben.
Nach Überzeugung der Kammer haben die Klagen gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 29. Oktober 2015 keine so hinreichende Aussicht auf Erfolg, dass das kraft Gesetzes nach § 212a Abs. 1 BauGB bereits bestehende öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung einer Baugenehmigung ausnahmsweise zurücktreten müsste.
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung haben Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung der Baugenehmigung weiter voraus, dass der Nachbar durch sie zugleich in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies ist nur dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutze der Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. z. B. BVerwG v. 6.10.1989 – 4 C 40.87 – juris).
Aufgrund der im vorliegenden Verfahren nur vorzunehmenden summarischen Überprüfung ist festzustellen, dass eine Rechtsverletzung der Antragsteller durch die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung aller Voraussicht nach nicht gegeben ist.
Die Antragsteller werden durch den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamtes … vom 29. Oktober 2015 weder in Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die gerade dem Schutz individueller Interessen dienen, noch hinsichtlich des Gebots der Rücksichtnahme verletzt.
Eine Verletzung eigener Rechte der Antragsteller ergibt sich auch nicht durch die in der angefochtenen Baugenehmigung erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans … Süd (…) der Gemeinde … hinsichtlich der Baugrenze für das Hauptgebäude, der Dachneigung und der Traufhöhe.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Hinsichtlich des Nachbarschutzes ist insoweit grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird oder von nicht drittschützenden Festsetzungen.
Weicht ein Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans ab, kann der Nachbar beanspruchen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind und das Befreiungsermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt wurde. Befreit die Bauaufsichtsbehörde demgegenüber von Festsetzungen eines Bebauungsplans, die nicht dem Nachbarschutz dienen, kann ein Nachbar lediglich beanspruchen, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung über die Befreiung seine Interessen hinreichend würdigt, mithin die gebotene Rücksicht auf seine Belange nimmt. Darüber hinaus hat ein Nachbar im Falle einer nicht nachbarschützenden Festsetzung weder ein Abwehrrecht gegen eine lediglich objektiv rechtswidrige Befreiung noch einen umfassenden Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung (vgl. BVerwG, B. v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 – NVwZ – RR 1999, 8; BayVGH, B. v. 2.2.2012 – 14 CS 11.2284 – juris).
Durch die im vorliegenden Fall erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans … Süd (…) werden die Antragsteller nicht in ihren Rechten verletzt. Die betrefenden Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der Baugrenzen und hinsichtlich Dachneigung und Traufhöhe haben, anders als Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, kraft Bundesrecht grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion (vgl. BVerwG v. 23.6.1995, NVwZ 1995, 170). Hierzu führte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 8. Februar 2010, 2 AS 09.2907, aus, dass, auch wenn mit der Abweichung von diesen Festsetzungen spürbare Beeinträchtigungen für die Nachbarn verbunden sein können, die Planbetroffenen durch die Festsetzung eines Bebauungsplans über das Maß der baulichen Nutzung und die überbaubaren Flächen nicht in gleicher Weise zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden werden, wie das für die Festsetzung der Art der baulichen Nutzung angenommen wird. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung und die überbaubare Grundstücksfläche lassen in der Regel den Gebietscharakter unberührt und haben nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke. Der Nachbarschutz in diesen Fällen wird – ausschließlich – nach den Maßstäben des drittschützenden Rücksichtsnahmegebots des § 31 Abs. 2 BauGB gewährleistet. Die Bauleitplanung dient primär der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung (§ 1 Abs. 3 BauGB). Die Frage der drittschützenden Wirkung einer solchen Festsetzung hängt von der Auslegung des Bebauungsplanes ab und damit in erster Linie vom Planungswillen der jeweiligen Gemeinde. Ob eine Festsetzung auch dem Schutz eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreis zu dienen bestimmt ist oder nicht, kann sich dabei aus dem Bebauungsplan selbst oder auch erst aus der Begründung des Bebauungsplans ergeben (BayVGH v. 24.3.2009, 14 CS 08.3017 – juris). Nachbarschutz besteht somit nur dann, wenn die Gemeinde einer entsprechenden Festsetzung im Bebauungsplan eine solche Schutzfunktion zukommen lassen will.
Dabei ist durch Auslegung des Schutzzweckes der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln, ob die Festsetzung nach dem Willen der Gemeinde ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen worden ist oder – zumindest auch – einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll. Letztlich ausschlaggebend ist eine wertende Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs (vgl. BayVGH, B. v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris). Hingegen besteht nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs grundsätzlich keine Vermutung für die nachbarschützende Wirkung der Festsetzung überbaubarer Grundstücksflächen (BayVGH, B. v. 14.8.2014 – 2 ZB 13.2011). Eine solche Vermutung besteht daher insbesondere nicht hinsichtlich seitlicher Baugrenzen. Vielmehr muss erkennbar werden, dass der Satzungsgeber einen Nachbarschutz tatsächlich gewollt hat.
Nach diesen Maßstäben entfaltet die durchlaufende nördliche Baugrenze hinsichtlich des Bereichs der Grundstücke, die nördlich des Mühlweges liegen, so auch das Grundstück der Beigeladenen, keinen Nachbarschutz in Bezug auf die Antragsteller.
Bei der hier vorzunehmenden wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs kann nicht in der Weise herangegangen werden, wie es der Antragstellervertreter macht, der anführt, dass sich weder aus dem Planteil noch aus dem Textteil des Bebauungsplans ergebe, dass die festgesetzten Baugrenzen ausschließlich städtebaulichen Gründen dienen sollten. Insoweit besteht keine Regelvermutung hinsichtlich einer nachbarschützenden Wirkung von Baugrenzen (vgl. BayVGH, B. v. 14.8.2014 – 2 ZB 13.2011).
Auch wenn man die vom Landratsamt … vorgelegte Begründung zum Bebauungsplan der Gemeinde …„…“ heranzieht, ergibt sich keine derartige nachbarschützende Wirkung von Baugrenzen. Diese Begründung enthält nur eine Beschreibung der Gesamtfläche des Planungsgebietes mit der Unterteilung in die Flächen, die dem allgemeinen Wohngebiet zugute kommen sollen und den Flächen, die für öffentliche Verkehrsflächen in Anspruch genommen werden müssen. Eine individuelle Ausrichtung des Bebauungsplans im Hinblick auf einzelne Festsetzungen, denen die Gemeinde … nicht nur städtebauliche, sondern ausnahmsweise auch nachbarschützende Ziele zugrunde legen wollte, vermag die Kammer nicht zu erkennen.
Soweit in der Antragsbegründung darauf abgestellt wird, dass nach der Rechtsprechung ein Nachbarschutz vermittelndes „Austauschverhältnis“ dann gegeben sein kann, wenn rückwärtige Baugrenzen in einem einheitlich bebauten Straßengeviert so festgesetzt sind, dass im Innern eine zusammenhängende, allen angrenzenden Grundstücken zugute kommende unbebaute („grüne“) Fläche entsteht (BayVGH, B. v. 27.4.2009 – 14 ZB 08.1172 [„rückwärtiger Ruhebereich“], ist im vorliegenden Fall ein derartiges „Austauchverhältnis“ auch unter Würdigung der Antragsbegründung nicht erkennbar.
Auch wenn die Begründung zum Bebauungsplan insoweit keine Ausführungen enthält, ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen, dass diese jeweils den Straßen folgen und jeweils so festgesetzt sind, dass der vordere an der Straße gelegene Grundstücksteil bebaut und der hintere Grundstücksteil unbebaut bleiben soll. Dass im vorliegenden Fall bei strikter Einhaltung der Baugrenzen eine unbebaute größere Fläche zwischen … im Norden und … im Süden entsteht, ergibt sich lediglich aus der Verschwenkung des … Richtung Süden östlich der Straße … Eine bewusste nachbarschützende Planungsabsicht der Gemeinde lässt sich aber daraus nicht herleiten. Jedenfalls lässt sich weder aus der Begründung noch aus den Festsetzungen des Bebauungsplanes entnehmen, dass die Gemeinde … im streitgegenständlichen Bereich einen unantastbaren Ruhebereich schaffen wollte, der auch dem Nachbarschutz unterliegt und der auch gegenüber dem nunmehrigen städtebaulichen Ziel einer Nachverdichtung, wie es in § 1a Abs. 2 Satz 1 BauGB enthalten ist, obsiegt.
Hinsichtlich der Erteilung der Befreiungen von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung vermittelt § 31 Abs. 2 BauGB damit nur insoweit einen Abwehranspruch für den Nachbarn, als die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf berechtigte Nachbarinteressen genommen hat. Nachbarschutz bei Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung besteht also nur dann, wenn die nachbarlichen Interessen nicht hinreichend berücksichtigt worden sind; alle übrigen denkbaren Fehler einer Befreiung machen diese und auch die auf ihr beruhende Baugenehmigung zwar möglicherweise objektiv rechtswidrig, geben dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch, weil seine eigenen Rechte hierdurch nicht berührt werden. Über den Anspruch auf „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus besteht insofern kein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde.
Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung die Rechte des Nachbarn verletzt, ist dabei an den Maßstäben zu messen, die zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme entwickelt worden sind. Nach dem Gebot der Rücksichtnahme setzt die Gewährung von Nachbarschutz voraus, dass die Antragsteller unter Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles durch die Befreiungen qualifiziert und in individualisierter Weise betroffen sind und dass durch die Befreiung eintretende Nachteile das Maß dessen überschreiten, was einem Nachbarn billiger Weise noch zumutbar ist (BVerwG v. 19.9.1996 – DÖV 1997, 297; BVerwG v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – juris).
Unter Berücksichtigung des Gebots der Rücksichtnahme ist nicht erkennbar, dass die Antragsteller durch die erteilten Befreiungen unzumutbar betroffen werden. Geht es wie im vorliegenden Fall um Befreiungen von den Festsetzungen zu Baugrenzen, Dachneigung und Traufhöhe spielt bei der Prüfung der Zumutbarkeit eine maßgebliche Rolle, ob das streitgegenständliche Vorhaben – trotz der Befreiungen – die gesetzlichen Abstandsflächen einhält. So indiziert die Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften regelmäßig, dass eine „erdrückende Wirkung“ nicht eintritt (BVerwG v. 11.1.1999, NVwZ 1999, 879/BayVGH v. 15.3.2011 – 5 CS 11.9 – juris).
Wie aus dem den Bauvorlagen beigefügten Abstandsflächenplan vom 25. Februar 2015 ersichtlich, hält das Bauvorhaben im Norden zum Grundstück der Antragsteller die erforderlichen Abstandsflächen unter zulässiger Heranziehung des sogenannten 16-m-Privilegs gemäß Art. 6 Abs. 6 BayBO ein.
Wenn, wie hier, ein Bauvorhaben die bauordnungsrechtlich für eine Belichtung, Belüftung und Besonnung sowie dem Wohnfrieden von Nachbargrundstücken gebotenen Abstandsflächen einhält, ist insoweit für das Gebot der Rücksichtnahme grundsätzlich kein Raum mehr. In Bezug auf eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung ist das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme in den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften der Bayerischen Bauordnung konkretisiert worden (vgl. BVerwG v. 16.9.1993, BVerwGE 94, 151).
Trotz Einhaltung der baurechtlichen Abstandsflächenvorschriften kann allerdings eine Nachbarklage dann erfolgreich sein, wenn der Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme darin liegt, dass andere schützenswerte Belange, die nicht durch die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 ff. BayBO abgedeckt werden, in unzumutbarer Weise beeinträchtigt werden. Dies kann dann der Fall sein, wenn ein Nachbaranwesen durch die Ausmaße eines Bauvorhabens geradezu „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“ wird. Eine erdrückende Wirkung eines die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen einhaltenden Gebäudes kann nur dann angenommen werden, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse und ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück derart unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die schiere Größe des „erdrückenden Gebäudes“ aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles derart übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik“ wahrgenommen wird (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen v. 9.2.2009, NVwZ-RR 2009, 459).
Unter Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Vorhaben der Beigeladenen gegenüber den Antragstellern nicht als rücksichtslos.
Wie aus der Nordansicht der vom Landratsamt genehmigten Baupläne ersichtlich, sehen sich die Antragsteller einem zweigeschossigen Wohnhaus mit der Traufseite eines Satteldaches mit einer relativ geringen Dachneigung von 20 Grad in einem relativ großen Abstand von über 30 m zu ihrem Wohnhaus gegenüber, so dass bereits aufgrund dieser großen Entfernung von einer erdrückenden Wirkung eines die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen einhaltenden Gebäudes nicht gesprochen werden kann. Unter diesen Umständen können sich die Antragsteller nicht auf eine Verletzung des nachbarschützenden Rücksichtnahmegebots berufen. Dieses Gebot dient im Wesentlichen der Abwehr von Bauwerken, die ein Übermaß an Höhe und Volumen aufweisen und die auch mit den dort bereits vorhandenen Gebäuden nicht mehr gleichartig sind.
Die Antragsteller können demnach das in zweiter Reihe zum … hin geplante Gebäude der Beigeladenen auch nicht unter Berufung auf das Rücksichtnahmegebot abwehren.
Sind somit die von den Antragstellern erhobenen Klagen aller Voraussicht nach unbegründet und wurden andererseits auch von den Antragstellern keine Gründe vorgetragen, die derart schwerwiegen würden, dass ausnahmsweise das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung hinter dem privaten Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Rechtsbehelfe zurücktreten müsste, so muss es beim Regelfall der vom Gesetzgeber bereits getroffenen Entscheidung zugunsten des öffentlichen Interesses an der sofortigen Verwirklichung eines Bauvorhabens verbleiben.
Die Anträge waren demnach abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Streitwert: § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.


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