Baurecht

Nachbarklage gegen Baugenehmigung unter Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans zu rückwärtigen Baugrenzen für Tiefgarage

Aktenzeichen  M 9 K 17.5791

Datum:
12.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24954
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2, § 34
BauNVO § 12, § 15 Abs. 1 S. 2, § 23

 

Leitsatz

Bei Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baugrenzen, die nicht bezwecken, auch die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit und städtebaulichen Zwecken dienen, ist für den Nachbarschutz das Rücksichtnahmegebot maßgeblich, § 31 Abs. 2 BauGB, § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO, welches durch eine Befreiung nur dann verletzt ist, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (hier verneint bei Befreiung vom Bebauungsplan für rückwärtige Baugrenzen für eine Tiefgarage). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) zu tragen. Die Beigeladene zu 2) trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kostenschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Baugenehmigung vom 8. November 2017, insbesondere die Befreiung in Ziffer 3.1.1 der Baugenehmigung von der rückwärtigen Baugrenze für die Tiefgarage auf 8,99 m sowie die Entlüftungsschächte im rückwärtigen Gartenbereich, insbesondere gegenüber dem Klägergrundstück, verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
1. Die Festsetzung von Baugrenzen durch Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche im Bebauungsplan Nr. … … vom 13. November 2009 ist nicht nachbarschützend. Eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen des Bebauungsplans besteht regelmäßig nur bei Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, da nur diese Festsetzung ein auf jeweils wechselseitigen Berechtigungen und Verpflichtungen beruhendes Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen den Eigentümern der Grundstücke im Plangebiet begründet (BVerfG B.v. 27.8.2013 – 4 B 39/13). Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien oder Baugrenzen, § 23 BauNVO, haben keine dementsprechende, ein Austauschverhältnis begründende Funktion. Deshalb vermitteln solche Festsetzungen Drittschutz nur dann, wenn sie ausnahmsweise nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollen. Maßgeblich dafür ist die Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall, wobei sich ein entsprechender Wille nicht nur aus dem Bebauungsplan selbst, sondern auch seiner Begründung oder sonstigen Vorgängen in Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben kann (BayVGH B. v. 29.7.2014 9 – CS 14.1171). Dafür ist entscheidend, ob eine solche Festsetzung ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde, oder nach dem Willen der Gemeinde zumindest auch einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines gegenseitigen Austauschverhältnisses dienen soll. Dies kann bei einer Festsetzung nach § 23 BauNVO ausnahmsweise angenommen werden, wenn z. B. durch faktisch einzuhaltende Grenzabstände explizit derselbe nachbarschützende Zweck verfolgt wird wie ihn die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenregelungen des Art. 6 BayBO haben (BayVGH B. v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615).
Unter Berücksichtigung dessen ist ein entsprechender Planungswille der beigeladenen Gemeinde, dass die festgesetzten Baugrenzen Nachbarschutz vermitteln sollen, weder dem Bebauungsplan, noch dem Vorgängerbebauungsplan, noch den Begründungen des Bebauungsplans oder sonstigen Umständen zu erkennen. Die Schaffung eines gemeinsamen Grünbereichs im Inneren eines Gevierts ist ausweislich der Begründung Nr. 4 und Nr. 6 zum Bebauungsplan Nr. … und Nr. 3.1 sowie 3.3 des geltenden Bebauungsplans Nr. 103/2006 ein planerischer Leitgedanke und damit ein städtebauliches Ziel, das durch die Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche entlang der Straßen im jeweiligen Geviert erreicht werden soll. Im Hinblick auf die Größe der unterschiedlichen Grundstücke und die unterschiedlichen Abstände der Baufenster von den Nachbargrundstücken ist nicht erkennbar, dass zumindest auch eine der Funktion von Abstandsflächen vergleichbare Regelung getroffen werden sollte, die dem Nachbarn subjektive Rechte einräumt. Vielmehr dient die Ausweisung der überbaubaren Grundstücksflächen auch ausweislich der Begründung nur dem Ziel der Schaffung und des Erhalts der Grünfläche im jeweiligen hinteren Grundstücksbereich, ohne dass dadurch über diesen typischerweise städtebaulichen Gesichtspunkt hinaus subjektive Rechte der Nachbarn geschützt oder geschaffen werden sollen. Vor dem Hintergrund der Grundstücksgrößen und der jeweiligen Abstände im hinteren Grünbereich sowohl auf Seiten des klägerischen Grundstücks entlang der P. H. Straße als auch auf Seiten des Vorhabengrundstücks entlang der R. K. Straße ist kein subjektives Recht der jeweiligen Nachbarn auf Freihaltung der über die Abstandsflächen hinaus gehenden Abstände erkennbar, das gesichert werden könnte; große Gärten hinter den Häusern und ein Grünbereich im Karree sind kein durch andere Regelungen des Bauordnungs- oder Bauplanungsrechts gewährleisteter nachbarschützender Belang. Soweit die Klägerseite die Auffassung vertritt, der Bebauungsplan habe ein solches Recht auf große Freiflächen als Grünbereich im Geviert geschaffen, fehlt es an einem klaren, eindeutig im Bebauungsplan erkennbaren Willen der planenden Gemeinde, dass durch die Festsetzung der Baugrenzen im Plangebiet Bauräume mit nachbarschützender Wirkung geschaffen werden sollten.
2. Die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von der rückwärtigen Baugrenze um 8,99 m statt der im Bauungsplan vorgesehenen 6,00 m verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten als Nachbarn. Der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn hängt bei Befreiungen davon ab, ob die Festsetzung, von deren Einhaltung befreit wird, nachbarschützend ist oder nicht. Da im vorliegenden Fall von einer Festsetzung befreit wurde, die nicht bezweckt, auch die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit und städtebaulichen Zwecken dient, ist für den Nachbarschutz das Rücksichtnahmegebot maßgeblich, § 31 Abs. 2 BauGB, § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO. Das Gebot der Rücksichtnahme wird durch eine Befreiung nur dann verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BVerwG B. v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 und ständige Rechtsprechung). Eine unzumutbare Beeinträchtigung durch die Erteilung der Befreiung ist vorliegend nicht erkennbar. Das Landratsamt hat zutreffend ausgeführt, dass weder das städtebauliche Planungsziel des Erhalts eines Grünbereichs im Inneren des Gevierts noch nachbarliche Belange der Kläger oder anderer Nachbarn durch die Befreiung für den unterirdischen Teil einer Tiefgarage für 12 Fahrzeuge beeinträchtigt werden. Der Bebauungsplan Nr. … … erlaubt unter Nr. B.3.3 konkret eine Überschreitung von bis zu 6,00 m im rückwärtigen Grundstücksbereich für Tiefgaragen bei Einhaltung eines Abstands von 6,00 m zum Nachbargrundstück. Diese 6,00 m Abstand zum Nachbargrund werden im vorliegenden Fall auch bei der weiteren Befreiung um 2,99 m eingehalten. Da ein unterirdisches Gebäude weder abstandsflächenrelevant ist noch in irgendeiner Form eine beengende, einmauernde Wirkung entfalten kann, ist nicht ansatzweise nachvollziehbar, inwiefern diese Befreiung gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen und Belange der Kläger unzumutbar beeinträchtigen kann. Soweit die Klägerseite vorträgt, sie befürchte wegen des ihrem Grundstück gegenüberliegenden Entlüftungsschachts eine unzumutbare Beeinträchtigung durch Emissionen, wurde dies lediglich behauptet. In Anbetracht dessen, dass die Tiefgarage ausschließlich für ein Wohnhaus zur Erfüllung der Stellplatzpflicht dient, es sich um lediglich 12 Stellplätze handelt und der Einfahrtsbereich nicht im Bereich des klägerischen Grundstücks liegt, ist diese Behauptung weder schlüssig noch belegbar. Unter Berücksichtigung dessen, dass drei Entlüftungsschächte vorhanden sind und die Lüftung ohne Ventilatoren oder Gebläse erfolgt, kann von dem An- und Abfahrtsverkehr durch 12 Fahrzeuge in einer Tiefgarage, die vollständig unter der Erde liegt, kein unzumutbarer Lärm aus den Lüftungsschächten kommen; auf die grundsätzliche Zumutbarkeit nach § 12 BauNVO wird ergänzend hingewiesen. Entsprechendes gilt für nicht näher belegte Emissionen durch Abgase. Es erschließt sich nicht, wie die Abgase von 12 Fahrzeugen in der Tiefgarage eines Wohnhauses, verteilt auf drei Entlüftungsschächte, bei den hier vorliegenden Grundstücksgrößen und Abständen zur Wohnbebauung zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung und einem Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot führen können. Unter Berücksichtigung dessen, dass es städtebaulich im Interesse des Erhalts von Freiflächen und Grünanlagen wünschenswert ist, wenn die Freiflächen von Wohngrundstücken nicht für Garagen und Stellplätze genutzt werden, wird im vorliegenden Fall dem Gebot der Rücksichtnahme gegenüber den Belangen der Nachbarn durch die Errichtung einer Tiefgarage im besonderen Maße genüge getan.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 VwGO abzuweisen. Die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1), der Bauherrin, entspricht der Billigkeit, weil diese einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko übernommen hat, § 154 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladene zu 2), die Gemeinde, hat keinen Antrag gestellt, sodass es der Billigkeit entspricht, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selber trägt.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbar folgt aus § 167 VwGO i.V.m.§ 708 f. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben