Baurecht

Nachbarklage gegen Baugenehmigung unter Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung

Aktenzeichen  RN 6 K 16.2004

Datum:
26.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 143637
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 2 Nr. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Bei einer Befreiung von einer Festsetzung des Bebauungsplans, die nicht dem Nachbarschutz, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des Gebots der Rücksichtnahme, das im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ (§ 31 Abs. 2 BauGB) enthalten ist.   (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2 Für die Annahme einer Verletzung von Nachbarrechten reicht es daher nicht aus, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, darüber hinaus muss das Vorhaben den Nachbarn infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigen; der Nachbar hat über den Anspruch auf „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde.  (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3 Anders als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung haben Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion. Die Planbetroffenen werden durch die Maßfestsetzungen eines Bebauungsplans nicht in gleicher Weise wie bei der Festsetzung der Nutzungsart zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden, weil die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung den Gebietscharakter in der Regel unberührt lassen und nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke besitzen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar, für den Beigeladenen jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages.

Gründe

Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hiermit einverstanden waren.
Die zulässige Klage ist unbegründet, weil die angefochtene Baugenehmigung die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren prüft die Bauaufsichtsbehörde gemäß Art. 59 Satz 1 BayBO die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften i.S.d. Art. 81 Abs. 1 BayBO (Nr. 1), beantragte Abweichungen i.S.d. Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Nr. 2) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Nr. 3).
Das streitgegenständliche Bauvorhaben ist an den bauplanungsrechtlichen Vorgaben des § 30 Abs. 1 BauGB zu messen, da aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht ersichtlich ist, dass der Bebauungsplan „…“ bzw. das Deckblatt Nr. 1 aufgrund von Abwägungsmängeln unwirksam sein könnte, und dies auch von Klägerseite nicht in ausreichend substantiierter Weise vorgetragen wurde. Nach § 30 Abs. 1 BauGB ist ein Bauvorhaben im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans bauplanungsrechtlich zulässig, wenn es den Festsetzungen des Bebauungsplans entspricht und die Erschließung gesichert ist (§ 30 Abs. 1 BauGB). Von den Festsetzungen des Bebauungsplans kann gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und die Abweichung städtebaulich vertretbar und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Die Klage eines Nachbarn gegen eine Baugenehmigung kann jedoch nur dann Erfolg haben, wenn die Baugenehmigung den Kläger in eigenen nachbarschützenden Rechten verletzt. Es ist daher unerheblich, ob die Baugenehmigung einer vollständigen Rechtmäßigkeitsprüfung standhält, insbesondere ob die Vorschriften des jeweiligen Verfahrens eingehalten wurden.
Im Rahmen einer Nachbarklage ist bei einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu differenzieren, ob von einer Festsetzung des Bebauungsplans befreit werden soll, die dem Nachbarschutz dient: Wird eine Befreiung von nachbarschützenden Festsetzungen erteilt, ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil sie eine Voraussetzung des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht dem Nachbarschutz, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des Gebots der Rücksichtnahme, das im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ (§ 31 Abs. 2 BauGB) enthalten ist (BayVGH, B. v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris; BayVGH, B. v. 1.12.2016 – 1 ZB 15.1841 – juris). Für die Annahme einer Verletzung von Nachbarrechten reicht es daher nicht aus, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, darüber hinaus muss das Vorhaben den Nachbarn infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigen; der Nachbar hat über den Anspruch auf „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde (BVerwG, B. v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris).
Bei Anwendung dieser Grundsätze hat die vorliegende Klage keinen Erfolg, weil die angefochtene Baugenehmigung die Klägerin nicht in nachbarschützenden Rechten verletzt.
Die nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilten Befreiungen bezüglich der im Bebauungsplan fälschlicherweise als „Traufhöhe“ bezeichneten Wandhöhe, der Geschoßflächenzahl und der Zulässigkeit einer Stützmauer führen nicht zu einer Verletzung der Klägerin in eigenen Rechten.
Die Klägerin kann hinsichtlich der streitgegenständlichen Befreiungen nur die Einhaltung des Rücksichtnahmegebots für sich in Anspruch nehmen, da die von den Befreiungen betroffenen Festsetzungen des Bebauungsplans „…“ nicht dem Nachbarschutz dienen.
Anders als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung haben Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion. Die Planbetroffenen werden durch die Maßfestsetzungen eines Bebauungsplans nicht in gleicher Weise wie bei der Festsetzung der Nutzungsart zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden, weil die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung den Gebietscharakter in der Regel unberührt lassen und nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke besitzen. Insoweit sind die betroffenen Nachbarn ausreichend über das Gebot der Rücksichtnahme des § 31 Abs. 2 BauGB geschützt (BVerwG, B. v. 23.6.1995 – 4 B 52/95 – juris). Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung können nur ausnahmsweise dann Drittschutz vermitteln, wenn sich ein entsprechender Planungswille der Gemeinde als Planungsträgerin mit der hinreichenden Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan, dessen Begründung oder sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergibt. Es reicht zur Annahme eines Nachbarschutzes nicht aus, dass eine Festsetzung des Bebauungsplans günstige Auswirkungen auf die Nachbargrundstücke zur Folge hat (BayVGH, B. v. 30.6.2009 – 1 ZB 07.3058 – juris; BayVGH, B. v. 23.11.2015 – 1 CS 15.2207 – juris; BayVGH, B. v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris; BayVGH, B. v. 1.12.2016 – 1 ZB 15.1841 – juris).
Hier ergibt sich weder aus der Formulierung der von den Befreiungen betroffenen Festsetzungen des Bebauungsplans „…“ noch aus der Begründung zum Bebauungsplan der eindeutig erkennbare Wille der Gemeinde …, die an das Vorhabengrundstück angrenzenden Nachbarn durch die Festsetzungen zu Traufbzw. Wandhöhe, Geschossflächenzahl und zur Zulässigkeit von Stützmauern in ihren Rechten schützen zu wollen. Vielmehr verfolgen diese Festsetzungen nur den Zweck, dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung nachzukommen.
Es ist vorliegend kein Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme zu erkennen.
Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, ist abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, auf den Rücksicht zu nehmen ist, umso mehr kann dieser an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, umso weniger muss der Bauherr Rücksicht nehmen. Für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls kommt es wesentlich auf die Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, U. v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – juris).
Weshalb das Rücksichtnahmegebot durch die Geschossflächenzahl des streitgegenständlichen Vorhabens beeinträchtigt sein sollte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Außerdem bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben aufgrund seines Nutzungsmaßes auf das Grundstück der Klägerin eine erdrückende Wirkung ausüben könnte, die eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme begründen könnte (BVerwG, U. v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris; BVerwG, U. v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer abriegelnden bzw. erdrückenden Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (BayVGH, B. v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris). Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (BayVGH, B. v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris; BayVGH, B. v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris). Unabhängig davon, dass die Vorschriften des Abstandsflächenrechts gemäß Art. 59 Satz 1 BayBO nicht Gegenstand des Prüfprogramms im vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens sind, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt ist, wenn die den nachbarlichen Belangen ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung dienenden landesrechtlichen Vorschriften zum Abstandsflächenrecht eingehalten sind (BVerwG, B. v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – juris; BayVGH, B. v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9 – juris; BayVGH, B. v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris).
Ausweislich der genehmigten Baupläne weist das streitgegenständliche Vorhaben unter Inanspruchnahme des 16-Meter-Privilegs nach Art. 6 Abs. 6 BayBO die erforderlichen Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück auf, denn gemessen ab dem natürlichen Gelände beträgt die Wandhöhe H (Art. 6 Abs. 4 BayBO) 6,41 m und wird in einem Abstand von 3,38 m zur Grundstücksgrenze errichtet. Das Vorhaben hält damit den nach Art. 6 Abs. 6 BayBO erforderlichen Mindestabstand von 0,5 H ein. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben aufgrund seines Nutzungsmaßes trotz Einhaltung der Regelungen des Abstandsflächenrechts auf das Grundstück der Klägerin eine erdrückende Wirkung ausüben wird. Dabei wird nicht übersehen, dass sich durch das Bauvorhaben die Wohnsituation für die Klägerin nicht unerheblich verändern wird, grundsätzlich ist das Interesse eines Grundstückseigentümers an der Erhaltung einer gegebenen Situation aber nicht schutzwürdig (BVerwG, B. v. 2.8.2007 – 4 BN 29/07 – juris).
Auch in Bezug auf die ca. 1 m hohe Stützmauer liegt kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vor, denn insbesondere vor dem Hintergrund, dass in allgemeinen Wohngebieten Stützmauern mit einer Höhe von bis zu 2 m grundsätzlich ohne eigene Abstandsflächen zulässig sind (Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BayBO), kann nicht von einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Klägerin ausgegangen werden.
Schließlich kann sich die Klägerin nicht erfolgreich auf einen Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot durch eine mögliche Vernässung ihres eigenen Grundstücks berufen. Die Frage der Oberflächenwasserentsorgung ist nicht Prüfungsgegenstand im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO. Enthält die Baugenehmigung als öffentlich-rechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung keine Aussage dazu, dass auch die Abführung von Oberflächenwasser den Vorschriften des öffentlichen Rechts entspricht, ist der Nachbar insoweit auf die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche beschränkt (BayVGH, B. v. 24.7.2014 – 15 CS 14.949 – juris). Es muss daher nicht geklärt werden, ob das genehmigte Bauvorhaben des Beigeladenen tatsächlich zu einer Vernässung des Grundstücks der Klägerin führen könnte.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Klägerin hat die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen, weil dieser einen eigenen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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