Baurecht

Nachbarklage gegen eine isolierte Befreiung vom Bebauungsplan

Aktenzeichen  M 1 K 16.3351

Datum:
6.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Im Rahmen der Erteilung einer isolierten Befreiung ist hinsichtlich des Nachbarsschutzes danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird oder die betroffenen Festsetzungen keinen Drittschutz entfalten. Weicht ein Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans ab, so kann es nur zugelassen werden, wenn die Abweichung nach § 31 Abs. 2 BauGB rechtmäßig ist. Im Falle eines Abweichens von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (VGH München BeckRS 2016, 54866 mwN). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige (1.) Klage ist unbegründet (2.). Der Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 2015 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht erhoben worden.
Der am 7. Oktober 2015 erlassene Bescheid wurde dem Kläger nicht bekannt gegeben. Die 1-monatige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO hat daher nicht zu laufen begonnen. In einem solchen Fall, in dem dem Nachbarn der Bescheid nicht bekannt gegeben wird, gilt in entsprechender Anwendung der §§ 74, 58 Abs. 2 VwGO eine Klagefrist von einem Jahr. Diese beginnt ab dem Zeitpunkt, zu dem der Nachbar sicher Kenntnis von dem Bescheid erlangt hat oder hätte erlangen müssen (BVerwG, B. v. 16.3.2010 – 4 B 5.10 – juris Rn. 8). Die am … Juli 2016 eingegangene Klage ist danach rechtzeitig erhoben worden, da weniger als ein Jahr zwischen dem Erlass des streitgegenständlichen Bescheids und der Klageerhebung liegt. Auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch den Kläger bzw. ein Kennenmüssen kommt es somit nicht mehr an.
2. Die Klage ist unbegründet, da der Bescheid vom 7. Oktober 2015 den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
Nachbarn können sich gegen einen an einen Dritten gerichteten baurechtlichen Bescheid nur dann mit Erfolg zur Wehr setzten, wenn diese rechtswidrig ist und die Rechtwidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. z. B. BayVGH, B. v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Eine Verletzung derartiger drittschützender Normen liegt hier nicht vor.
2.1 Eine Verletzung nachbarlicher Rechte des Klägers ist schon aufgrund des eingeschränkten Regelungsgehalts der streitgegenständlichen isolierten Befreiung begrenzt. Nach Art. 63 Abs. 3 i. V. m. Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO entscheidet die Gemeinde über den Antrag nur soweit es um die isolierte Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans geht. Gegenstand des Bescheids ist nur die Zulassung der Nichtbeachtung der gemeindlichen Bebauungsplansatzung. Demgegenüber wird mit der isolierten Befreiung nicht über die baurechtliche Zulässigkeit der Anlage im Gesamten entschieden. Eine Legalisierungswirkung kann durch die streitgegenständlichen Entscheidung somit nicht für Umstände eintreten, die nicht Gegenstand der Prüfung waren. Folglich kann sich auch eine Verletzung von Nachbarrechten nicht aus Normen ergeben, die nicht Inhalt der gemeindlichen Prüfung waren. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass ein Aufhebungsanspruch des Klägers nur aus der Anwendung des § 31 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) abgeleitet werden kann soweit von dem im Bebauungsplan „…-West“ festgesetzten überbaubaren Flächen befreit wurde. Verstöße gegen andere baurechtliche Normen müssen außer Betracht bleiben.
Im Rahmen der Erteilung einer solchen Befreiung ist hinsichtlich des Nachbarsschutzes im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird oder die betroffenen Festsetzungen keinen Drittschutz entfalten. Weicht ein Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans ab, so kann es nur zugelassen werden, wenn die Abweichung nach § 31 Abs. 2 BauGB rechtmäßig ist. Im Falle eines Abweichens von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (BayVGH, B. v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris Rn. 3 m. w. N.).
2.2 Die Festsetzung der Baugrenze auf dem Baugrundstück, von der mit dem streitgegenständlichen Bescheid befreit wurde, hat keine nachbarschützende Funktion. Der Kläger kann somit nicht die allgemeine Rechtswidrigkeit der Befreiung geltend machen.
Eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen des Bebauungsplans ist nur bei Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung regelmäßig anzunehmen (BVerwG, B. v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien oder Baugrenzen haben dagegen ebenso wie Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion (BayVGH, B. v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris Rn. 4). Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche in Form von Baugrenzen vermitteln Drittschutz nur dann, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion ausnahmsweise haben sollen. Eine solche drittschützende Zielrichtung muss sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan, seiner Begründung oder sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben (BayVGH, B. v. 23.11.2015 – 1 CS 15.2207 – juris Rn. 8). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht ersichtlich. Der Bebauungsplan und dessen Begründung enthalten über die bloße Festsetzung der Baugrenze hinaus keinen Hinweis, dass der Verlauf derselben ausnahmsweise Dritte schützen soll. Eine solche Intention ist auch nicht aus der von der Klägerseite als Beleg herangezogenen Festsetzung Nr. 3.3 des Bebauungsplans abzuleiten. Darin wird u. a. geregelt, dass ausnahmsweise für bestimmte Bauteile eine Überschreitung der Baugrenzen zugelassen wird, sofern neben den übrigen Festsetzungen ein Mindestabstand von der Nachbargrenze und öffentlichen Flächen von 1,5 m eingehalten wird. Der von der Klägerseite hieraus gezogene Umkehrschluss, die Baugrenzen seien für sämtliche anderen Anlagen drittschützend, kann durch das Gericht nicht nachvollzogen werden. Ein spezieller Nachbarbezug der Festsetzung aller Baugrenzen lässt sich schon deshalb nicht aus dieser Regelung ableiten, weil die Ausnahme in gleicher Weise für alle Baugrenzen gilt, unabhängig davon, ob diese einem benachbarten Baugrundstück oder einer öffentlichen Straße gegenüberliegen. Eine Aussage zur Schutzwirkung der betroffenen Baugrenze oder aller Baugrenzen, die benachbarten Wohngrundstücken gegenüberliegen ist nicht zu erkennen. Zudem handelt es sich bei der Regelung um eine allgemeine Zulassung bestimmter Bauteile von Hauptbaukörpern außerhalb von Baugrenzen entsprechend § 23 Abs. 3 Satz 2 Baunutzungsverordnung (BauNVO). Eine Regelung gem. § 23 Abs. 5 Satz 1 BauNVO über die Zulässigkeit von Nebenanlagen außerhalb der überbaubaren Grundstückflächen wird damit nicht getroffen. Dementsprechend lässt sich aus der Ausnahmevorschrift nichts zur Zulässigkeit von Nebenanlagen außerhalb von Baugrenzen und einer insoweit bestehenden nachbarschützenden Funktion der Baugrenzen folgern. Zudem lässt sich aus der Regelung ersehen, dass der Satzungsgeber den Nachbarn gerade nicht generell vor baulichen Anlagen in einem geringen Abstand schützen wollte. Vielmehr werden sogar verglaste Wintergärten bis zu einer Länge von 5 m in einem Mindestabstand von der Nachbargrenze von 1,5 m für zumutbar gehalten. Weshalb diese Teile von Hauptgebäuden nach dem Willen des Satzungsgebers nur einen Abstand von 1,5 m einhalten müssen, während die Baugrenzen im Übrigen aus Gründen des Nachbarschutzes generell nicht überschritten werden sollten, ist nicht ersichtlich. Nicht zuletzt spricht gegen die nachbarschützende Funktion der Baugrenze auf dem Baugrundstück auch, dass der durch die Baugrenze festgeschriebene Abstand von der geplanten Grundstücksgrenze nicht nur gegenüber der Grundstücksgrenze zum Kläger, sondern in gleicher Weise auch gegenüber der Straße und der Grundstücksgrenze nach Süden vorgesehen ist. Dies spricht für eine städtebauliche Funktion der Baugrenze, da diese Abstände unabhängig von der Zulässigkeit von baulichen Anlagen auf dem benachbarten Grundstück festgelegt wurden.
2.3 Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme, das auch bei der Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans zu prüfen ist, liegt nicht vor.
Zunächst gilt es zu berücksichtigen, dass sich eine Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Klägergrundstück nur aus dem mit der Befreiung Zugelassenen ergeben kann. Im vorliegenden Fall wird durch die Befreiung ein Heranrücken der eingehausten Luftwärmepumpe an das Klägergrundstück zwischen 0,6 m und 0,9 m über die festgesetzte Baugrenze hinaus ermöglicht. Zu prüfen ist deshalb nicht eine mögliche Rücksichtslosigkeit der Gesamtanlage, sondern lediglich die Rücksichtslosigkeit des Heranrückens um 0,6 m bis 0,9 m. Die von der Klägerseite in dem Rahmen des Rücksichtnahmegebots eingewendeten Emissionen der Luftwärmepumpe können deshalb nur dann von Belang sein, wenn eine Überschreitung der für das Klägergrundstück zumutbaren Immissionen gerade durch die Verringerung des Abstandes entstehen würde. Für eine derartige Annahme ist nichts ersichtlich. Vielmehr ergibt sich aus dem Gutachten des Ingenieurbüros H. F. vom … August 2015 (Bl. 27 der Behördenakte), in plausibler und nachvollziehbarer Weise, dass die eingehauste Luftwärmepumpe die maßgeblichen Werte der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm vom 26.8.1998 (TA Lärm) für Dorfgebiete sowohl zur Tagzeit als auch zur Nachtzeit bei weitem einhält.
Eine Rücksichtslosigkeit der Anlage ergibt sich auch nicht aus einem Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht. Abgesehen davon, dass die Abstandsflächen nicht Gegenstand der Prüfung im Rahmen der streitgegenständlichen Befreiung sind, ergibt sich bereits aus Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO eindeutig, dass die streitgegenständliche Anlage ohne eigene Abstandsfläche zulässig ist und sogar an die Grundstücksgrenze gebaut werden dürfte.
Das vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung übergebene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. November 2016 (Az.: 7 A 263/16) hat mit der vorliegenden Fallgestaltung nichts zu tun. Es befasst sich mit der Frage, ob ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten des Nachbarn besteht. In dem entschiedenen Fall handelt es sich um eine an einer Gebäudeaußenwand angebrachte Luftwärmepumpe, die die landesrechtlichen Abstandflächenvorschriften nicht einhält. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Es ist hier nicht wie im Fall des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen die allgemeine baurechtliche Zulässigkeit des Vorhabens Prüfungsgegenstand.
Der Kläger hat als unterlegene Partei gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Da die Beigeladenen einen eigenen Klageantrag gestellt haben und sich deshalb in das Kostenrisiko des § 154 Abs. 3 VwGO begeben haben, entsprach es der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten gemäß § 162 Abs. 2 VwGO ebenfalls dem Kläger aufzuerlegen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5.000,– festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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