Baurecht

Nachbarklage, Neubeurteilung der Abstandsflächen bei Nutzungsänderung, Erfordernis eines atypischen Falls

Aktenzeichen  M 29 K 20.2780

Datum:
15.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 49490
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6
BayBO Art. 63

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamts F. vom 29. Mai 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Genehmigungsbescheid des Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung oder einen Bauvorbescheid nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn der entsprechende Bescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind.
Dies ist vorliegend der Fall.
Das streitgegenständliche Bauvorhaben des Beigeladenen verstößt gegen die drittschützenden Vorschriften des Abstandsflächenrechts, da es nicht die nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO erforderliche Abstandsfläche zur Grundstücksgrenze der Kläger einhält.
Zwar genießt das Gebäude des Beigeladenen insoweit Bestandsschutz, als eine Teilung des Grundstücks, durch die der Abstandsflächenverstoß eingetreten ist, erst nach (genehmigter) Errichtung des Gebäudes und Aufnahme seiner Nutzung erfolgt ist. Die nunmehr geplante Nutzungsänderung, mit dem erstmals eine Büronutzung im Erdgeschoss beantragt wurde, erfordert indes eine Neubewertung der Abstandsflächen.
Die Frage der Beurteilung von Abstandsflächen ergibt sich nicht nur bei Neubauten, sondern kann auch bei Nutzungsänderungen oder baulichen Veränderungen neu aufgeworfen werden. Eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung ist bei der Änderung eines Gebäudes immer dann veranlasst, wenn sich entweder die für die Ermittlung der Abstandsflächentiefe relevanten Merkmale ändern oder wenn die Änderung für sich betrachtet zwar keine abstandsflächenrelevanten Merkmale betrifft, das bestehende Gebäude aber die nach dem geltenden Recht maßgeblichen Abstandsflächen nicht einhält und die Änderung möglicherweise zu nicht nur unerheblichen nachteiligen Auswirkungen auf die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange wie Belichtung, Belüftung und Wohnfrieden führen kann (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2015 – 15 ZB 13.2384 – juris; BayVGH, U.v. 26.11.1979 – 51 XIV 78 – juris; VG Ansbach, U.v. 27.8.2014 – AN 9 K 13.00456 – juris).
So liegt der Fall hier. Durch die geänderte Nutzung des Gebäudes im Erdgeschoss entstehen nicht nur unerhebliche Auswirkungen auf den Wohnfrieden. Durch den massiven Abstandsflächenverstoß des Gebäudes befinden sich die Fenster im Erdgeschoss unmittelbar an der Grenze zum Grundstück der Beigeladenen. Zwar ist dies auch im Bestand bereits der Fall. Allerdings bringt eine Nutzung der Räumlichkeiten als Büros, verbunden mit etwaigem Kundenverkehr und Nutzung der Räumlichkeiten durch haushaltsfremde Angestellte, eine erhebliche Intensivierung mit sich, wodurch die Frage der Beurteilung von Abstandsflächen neu aufgeworfen wird.
Dass diese zum Grundstück der Kläger nicht eingehalten werden, ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Die nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 BayBO hinsichtlich der Einhaltung der Abstandsflächen erteilte Abweichung ist rechtswidrig.
Da von nachbarschützendem Recht abgewichen wird, ist die Abweichungsentscheidung auch im Rahmen des Drittrechtsbehelfs vollumfänglich zu überprüfen.
Die Voraussetzungen einer Abweichung nach Art. 63 BayBO liegen nicht vor. Vorliegend fehlt es an der tatbestandlichen Voraussetzung einer atypischen Grundstückssituation. Da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann, musste es – so die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (statt vieler vgl. BayVGH, B.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris Rn. 17) und der bayerischen Verwaltungsgerichte jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10. Juli 2018 (GVBl. S. 523) – im Einzelfall besondere Gründe geben, die es rechtfertigen, dass die Anforderung zwar berücksichtigt, ihrem Zweck aber nur unvollkommen entsprochen wird. Es müssen rechtlich erhebliche Umstände vorliegen, die das Vorhaben als einen atypischen Fall erscheinen lassen und die dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris). Voraussetzung für einen atypischen Sachverhalt ist mithin, dass Gründe vorliegen, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Nach einer Grundentscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris) kann sich eine atypische Fallgestaltung etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben; in solchen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung rechtfertigen.
Die erkennende Kammer geht davon aus, dass ein solch atypischer Sachverhalt auch nach der Novellierung der Bayerischen Bauordnung durch § 1 des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10. Juli 2018 (GVBl. S. 523), durch die mit Wirkung zum 1. September 2018 dem Art. 6 Abs. 1 BayBO folgenden Satz 4 angefügt worden ist: „Art. 63 bleibt unberührt“, weiter zu fordern ist.
Die Neuregelung stellt nach Auffassung der erkennenden Kammer lediglich eine Klarstellung dar, denn selbstverständlich konnten schon bisher Abweichungen nach Art. 63 BayBO von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts erteilt werden. Zwar ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, dass der neue Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO einem Bedürfnis der Praxis Rechnung trage und „ausdrücklich klar“ stelle, dass tatbestandliche Voraussetzungen einer Abweichung von Vorgaben des Abstandsflächenrechts ausschließlich in Art. 63 geregelt seien. Die Gesetzesbegründung stellt weiter darauf ab, dass eine „Atypik“, wie sie die Rechtsprechung auch nach der Änderung der abstandsrechtlichen Vorschriften durch das Gesetz vom 12. April 1994 (GVBl. Nr. 8/1994, S. 210) als zusätzliches (nunmehr ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal) einer Abweichung verlangt, vom Gesetz nicht gefordert wird (vgl. LT-Drs. 17721574, S. 13). Allerdings kann vom Wortlaut her eine eindeutige Regelung, wonach Abweichungen von Abstandsflächenvorschriften keine Atypik verlangen, dem Gesetzestext jedenfalls nicht entnommen werden, was die Frage aufwirft, ob der in den Gesetzesmaterialien festgehaltene Wille des Gesetzgebers überhaupt Ausdruck im Gesetz gefunden hat.
Die bisher hierzu ergangene Rechtsprechung der bayerischen Verwaltungsgerichte ist uneinheitlich. Teilweise wird das Erfordernis eines atypischen Falls weiter verlangt (so VG München, U.v. 24.7.2019 – M 9 K 18.5334 – juris Rn. 27 ff.; VG Ansbach, B.v. 12.10.2021 – AN 3 S 21.01688 – juris), teilweise wird die Frage offengelassen (so VG Würzburg, B.v. 13.11.2018 – W 5 S 18.1260 – juris Rn. 49; VG München, U.v. 21.9.2020 – M 8 K 18.4715 – juris) und teilweise wird mit der Gesetzesbegründung das Erfordernis einer Atypik verneint (so VG Augsburg, U.v. 11.7.2019 – Au 5 K 19.54 – juris Rn. 35, U.v. 1.8.2019 – Au 5 K 19.84 – juris Rn. 38). Auch in der Literatur wird kritisch angemerkt, dass eine vom Wortlaut her eindeutige Regelung, wonach Abweichungen von Abstandsflächenvorschriften keine Atypik verlangen, dem neuen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO nicht entnommen werden könne (Weinmann, in: BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Stand: August 2021, Art. 63 BayBO, Rn. 42). Das Erfordernis der Atypik sei vielmehr auch vor der Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal gewesen, sondern Folge des Umstands, dass Abweichungen eine Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Vorschriften, von denen abgewichen werden soll, erfordern (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO).
Auch die erkennende Kammer geht davon aus, dass nach der Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO weiterhin eine atypische Fallkonstellation zu fordern ist. Der (geänderte) Wortlaut des Art. 6 BayBO steht dem nicht entgegen. Die Intention des Gesetzgebers, künftig auf das Erfordernis einer atypischen Situation bei Erteilung einer Abweichung zu verzichten, hat aus Sicht der Kammer keinen Niederschlag im Gesetz gefunden. Überdies resultiert das Erfordernis einer atypischen Sachverhaltskonstellation ohnehin aus einer Auslegung des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO, da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann. Diese Vorschrift bleibt nach Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO aber gerade unberührt.
Eine atypische Fallgestaltung etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Zwar ist eine Einhaltung der Abstandsflächen zum Grundstück des Klägers durch den nachträglichen Grundstückszuschnitt nicht mehr möglich. Dies begründet jedoch für sich gesehen noch keine Atypik, zumal dieser Grundstückszuschnitt nachträglich erfolgt ist. Dabei wurde die eintretende Abstandsflächenproblematik sehenden Auges in Kauf genommen. Zudem ist der Beigeladene in der Nutzung des Gebäudes zu Wohnzwecken angesichts des Bestandsschutzes aus der bestehenden Baugenehmigung in keiner Weise eingeschränkt. Das Grundstück ist damit nach wie vor sinnvoll nutzbar.
Überdies setzt eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO nach dem eindeutigen Wortlaut auch eine Würdigung nachbarlicher Belange voraus. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz damit eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 17). Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich dabei nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 20).
Das Gebäude des Beigeladenen grenzt im Westen des Grundstücks nahezu unmittelbar an das Grundstück der Kläger an. Wägt man diesen eklatanten Abstandsflächenverstoß einerseits mit der – vergleichsweise geringen – Einschränkung des Beigeladenen durch Nichterteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen im Rahmen seiner beantragten Nutzungsänderung andererseits, überwiegt aus Sicht der Kammer das Interesse der Kläger, angesichts des geringen Abstands des Nachbargebäudes wenigstens keine geänderte Nutzung, unter Umständen durch einen wechselnden Personenkreis, ertragen zu müssen.
Damit liegen die Voraussetzungen einer Abweichung nach Art. 63 BayBO nicht vor. Der Genehmigungsbescheid des Beklagten ist daher rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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