Baurecht

Nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen

Aktenzeichen  9 ZB 15.86

Datum:
7.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 105358
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen haben nachbarschützende Wirkung, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträger einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollen. Ein solches Austauschverhältnis liegt aber regelmäßig nicht schon deswegen vor, dass rückwärtige Baugrenzen in einem einheitlich bebauten Straßengeviert so festgesetzt sind, dass im Innern ein „rückwärtiger Ruhebereich“ entsteht (Parallelfall zu VGH München BeckRS 2017, 105352). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 3 K 14.443 2014-11-20 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin, Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 519/4 Gemarkung W …, wendet sich gegen die der Beigeladenen mit Bescheid des Landratsamts Erlangen-Höchstadt vom 24. Februar 2014 erteilte Baugenehmigung zum Neubau eines Einfamilienwohnhauses mit Carport und Garage auf dem Grundstück FlNr. 519/18 Gemarkung W … (im Folgenden: Baugrundstück). Dieses Grundstück wurde aus dem nördlichen Teil des Grundstücks FlNr. 519/2 Gemarkung W … herausgemessen und grenzt im Osten an das Grundstück der Klägerin an. Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „A. Berg“ des Marktes W … Die Baugenehmigung enthält eine Befreiung von den Festsetzungen dieses Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB hinsichtlich der Baugrenze und der Dachneigung.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Klägerin mit Urteil vom 20. November 2014 abgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Klägerin beruft sich auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche Zweifel bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
Die Frage, ob die im Bebauungsplan „A. Berg“ im Bereich des Baugrundstücks festgesetzte (seitliche und rückwärtige) Baugrenze nachbarschützende Wirkung entfaltet, hat das Verwaltungsgericht aus zwei Gründen verneint. Es hat zum einen angenommen, dass die Klägerin als Nachbarin die materielle Beweislast für eine solche nachbarschützende Wirkung hat und die Unerweislichkeit dieser Frage mangels Auffindbarkeit von weiteren Unterlagen zum Bebauungsplan zu ihren Lasten geht. Zum andern hat es darauf abgestellt, dass bei einer wertenden Betrachtung des Festsetzungszusammenhangs des Bebauungsplans im Rahmen einer Gesamtschau nicht ersichtlich ist, dass durch die Anordnung der Straßen- und Gartenbereiche im Geviert, in dem das Baugrundstück liegt, eine Nachbarschutz vermittelnde rückwärtige Ruhezone geschaffen werden sollte.
Ist das Urteil des Verwaltungsgerichts auf zwei selbständig tragende Begründungen gestützt (kumulative Mehrfachbegründung), kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede dieser Urteilsbegründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht ist und vorliegt (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 16.4.2015 – 9 ZB 12.205 – Rn. 5 m.w.N.).
Hier kann der Zulassungsantrag der Klägerin keinen Erfolg haben, weil sich aus ihrem Vorbringen der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht ergibt, soweit das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans „Auracher Berg“ bei einer wertenden Beurteilung hinsichtlich der seitlichen und rückwärtigen Baugrenze und der Dachneigung keine nachbarschützende Funktion haben. Damit kann dahinstehen, ob auch im Hinblick auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur materiellen Beweislast ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils bestehen. Insoweit erscheint aus Sicht des Senats aber durchaus zweifelhaft, ob hier hinsichtlich der Frage der nachbarschützenden Wirkung der festgesetzten (seitlichen und rückwärtigen) Baugrenze überhaupt von einer non liquet-Situation auszugehen ist (vgl. BVerwG, U.v. 1.9.2016 – 4 C 2/15 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 19.9.1969 – IV C 18.67 – juris Rn. 27; BayVGH, U.v. 14.7.2016 – 2 N 15.283 – juris Rn. 21).
Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen (§ 23 BauNVO) haben – anders als die Festsetzung von Baugebieten – grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17; B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15; B.v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris Rn. 4; B.v. 12.7.2016 – 15 ZB 14.1108 – juris Rn. 11). Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (vgl. BVerwG, B.v. 13.12.2016 – 4 B 29/16 – juris Rn. 5). Maßgebend ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen worden ist oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17; B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15; B.v. 12.7.2016 – 15 ZB 14.1108 – juris Rn. 11; OVG RhPf, B.v. 1.8.2016 – 8 A 10264/16 – juris Rn. 6). Anhaltspunkte für eine Nachbarschutz vermittelnde Festsetzung können sich aus dem Bebauungsplan, seiner Begründung oder aus sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben. Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf die Nachbargrundstücke reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes aber nicht aus (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – juris Rn. 8). Letztlich ausschlaggebend ist jedoch eine wertende Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17; B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15). Aus diesen beiden Beschlüssen des Senats kann allerdings nicht abgeleitet werden, ein Nachbarschutz vermittelndes Austauschverhältnis sei regelmäßig dann gegeben, wenn rückwärtige Baugrenzen in einem einheitlich bebauten Straßengeviert so festgesetzt sind, dass im Innern ein „rückwärtiger Ruhebereich“ entsteht. Abgesehen davon, dass der Senat dies dort nur als eine mögliche Auslegung angesehen hat („kann etwa dann gegeben sein“), ergibt sich dies auch nicht aus der in den Beschlüssen in Bezug genommene Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 27. April 2009 (Az. 14 ZB 08.1172). Eine ausdrückliche Aussage zum Nachbarschutz eines solchen „rückwärtigen Ruhebereichs“ findet sich in dieser Entscheidung nicht. Entscheidungserheblich war dort vielmehr, dass diese Ruhezone als Grundzug der Planung angesehen wurde, der der vom dortigen Kläger beantragten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von den im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen entgegenstand.
Nach diesem Maßstab hat das Verwaltungsgericht bei seiner wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs zutreffend angenommen, dass die festgesetzte Baugrenze im Bereich des Baugrundstücks keine nachbarschützende Wirkung entfaltet. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang insbesondere darauf verwiesen, dass im Bereich des Baugrundstücks nur die Grundstücke mit den FlNrn. 519/1, 519/2, 519/3 und 519/4 jeweils Gemarkung W … dazu beitragen, dass bislang eine unbebaute grüne Fläche zwischen den Wohnhäusern entstanden ist. Demgegenüber würden die östlich entlang des F …wegs und westlich entlang der S …straße gelegenen Grundstücke aufgrund der dort gezogenen Baugrenzen keinen Beitrag zu der unbebauten grünen Fläche leisten. Wie sich zudem aus dem in den Verwaltungsakten befindlichen Bebauungsplanauszug entnehmen lässt, werden die Baugrenzen für die dort befindlichen Wohngrundstücke auch nicht in nahezu identischen Abständen zur jeweiligen hinteren Grundstücksgrenze festgesetzt. Damit mag zwar im „Innenbereich“ dieses Gevierts eine Ruhezone entstanden sein. Ein vom Plangeber gewolltes wechselseitiges Austauschverhältnis zwischen den Grundstücken lässt sich aber mangels eines wechselseitig vergleichbaren „Dürfens und Duldens“ der Eigentümer daraus nicht entnehmen (vgl. VGH BW, B.v. 30.6.2015 – 3 S 901/15 – juris Rn. 12).
Auch aus dem Zulassungsvorbringen der Klägerin lässt sich ein vom Plangeber gewolltes wechselseitiges Austauschverhältnis zwischen den dortigen Grundstücken nicht entnehmen. Der Hinweis darauf, dass die Straßenführung im Gebiet des Baugrundstücks, das im Bebauungsplan als Bungalowsiedlung bezeichnet wird, nahezu gleichmäßige Karrees aufweist, in welchen die Bebauungsgrenzen so angeordnet wurden, dass die Bebauung zur Straße hin erfolgt und sich auf der Straße abgewandten Seite des jeweiligen Gevierts Freiflächen befinden, reicht nach den obigen Ausführungen hierfür nicht aus. Daran ändert nichts, dass auch in den Teilen des Plangebiets, in welchen eine zweigeschossige Bebauung festgesetzt ist, „die Baugrenzen so festgelegt sind, dass die Gebäude unabhängig von der Himmelsrichtung an den Straßen liegen“. Zum einen fehlt es auch in diesen Gebieten an einem nahezu identischen Abstand der Baugrenze zur jeweiligen hinteren Grundstücksgrenze. Zum andern wird daraus deutlich, dass der Bebauungsplan „Auracher Berg“ das Instrument der Baugrenze nicht nur dort einsetzt, wo nachbarliche Interessengegensätze zumindest ansatzweise erkennbar sind; vielmehr werden die Baufenster flächendeckend und unabhängig vom Vorhandensein potenziell schutzbedürftiger Nachbarbebauung festgesetzt. Dies lässt eher auf das Ziel schließen, ein bestimmtes Ortsbild zu gestalten, als auf die Absicht, Nachbarinteressen zu wahren (vgl. NdsOVG, B.v. 18.6.2015 – ME 77/15 – juris Rn. 8). Schließlich erlaubt auch nicht der für den Bereich des Baugrundstücks im Bebauungsplan verwendete planungsrechtlich nicht aussagekräftige Begriff „Bungalowsiedlung“ den hinreichend zuverlässigen Schluss, dass hierfür nicht (nur) städtebauliche Erwägungen, sondern Vorstellungen über die Gewährung von bauplanungsrechtlichem Nachbarschutz maßgebend waren (vgl. OVG Saarl, B.v. 24.6.1989 – 2 V 13/98 – juris Rn. 8).
Soweit im Zulassungsvorbringen gerügt wird, das Verwaltungsgericht habe sich im Urteil nicht mit der Frage eines Verstoßes der angefochtenen Baugenehmigung gegen das Gebot der Rücksichtnahme auseinandergesetzt, wird übersehen, dass das Verwaltungsgericht hierzu auf seinen Beschluss im Eilverfahren vom 25. April (richtig: 24.4.) 2014 (Az. AN 3 S. 14.00442) Bezug genommen hat.
2. Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Die im Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen, lassen sich nach den obigen Ausführungen, soweit sie entscheidungserheblich sind, ohne weiteres und mit zweifelsfreiem Ergebnis im Zulassungsverfahren klären.
3. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die Frage, wer die materielle Beweislast bei einem Verlust von Unterlagen über die Erstellung eines Bebauungsplans trägt, ist nach den obigen Ausführungen mangels Entscheidungserheblichkeit hier nicht klärungsfähig.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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