Baurecht

Normenkontrollantrag gegen Bebauungsplan und Rückwirkungsmöglichkeiten des ergänzenden Verfahrens

Aktenzeichen  15 NE 18.1148

Datum:
15.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 7176
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 6
BauGB § 1 Abs. 7, § 2 Abs. 3, § 214 Abs. 4
FlurbG § 58 Abs. 4 S. 2

 

Leitsatz

§ 214 Abs. 4 BauGB in der seit 20. Juli 2004 geltenden Fassung erstreckt die Rückwirkungsmöglichkeit des ergänzenden Verfahrens auf alle beachtlichen Fehler aller Satzungen nach dem BauGB und der Flächennutzungspläne. Die Durchführung eines ergänzenden Verfahrens setzt allerdings (seit jeher) stets voraus, dass der zu behebende Mangel nicht von solcher Art und Schwere ist, dass er die Planung als Ganzes von vorneherein in Frage stellt oder die Grundzüge der Planung berührt (hier verneint).  (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens gesamtschuldnerisch.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich als Plannachbarn auch im Weg des vorläufigen Rechtsschutzes gegen den am 30. April 2018 gemäß § 10 Abs. 3 BauGB ortsüblich bekannt gemachten Bebauungsplan Nr. 87 „S.-West“ der Antragsgegnerin, gegen den sie am 15. Mai 2018 Antrag auf Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 VwGO gestellt haben (15 N 18.1070). Die Antragsbefugnis der Antragsteller im Normenkontrollverfahren gründe auf deren Anspruch auf gerechte Abwägung auch ihrer Belange bei der Aufstellung des Bebauungsplans (§ 1 Abs. 7 BauGB). Konkret sei sie daraus herzuleiten, dass die unmittelbar am Grundstück der Antragsteller vorbeiführende Erschließungsstraße für das Baugebiet dort zu erheblichen und nicht zumutbaren Immissionsbelastungen führe.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO sei zur Abwehr schwerer Nachteile geboten. Durch die Fortsetzung der Erschließungsarbeiten drohten vollendete Tatsachen, die Antragsteller litten unter dem Lärm ständig an ihrem Anwesen vorbei in das Baugebiet fahrender Laster. Die erforderliche Straßenbreite von 6 m sei nach wie vor nicht erreicht, zum Grundstück der Antragsteller hin werde sich ein vorher nicht vorhandenes Gefälle ergeben. Durch die Bauarbeiten an der Straße seien auch schon Risse am Haus entstanden. Es sei eine Zumutung, als Eigentümer eines Einfamilienhauses auf dem Nachbargrundstück ein großes Bauvorhaben trotz Klageeinreichung hinnehmen zu sollen. An der Verhinderung vollendeter Tatsachen hätten die Antragsteller ein schutzwürdiges Interesse. Jedenfalls sei der Bebauungsplan offensichtlich unwirksam. Die Voraussetzungen für ein ergänzendes Verfahren nach § 214 Abs. 4 BauGB hätten mit Blick auf die vorgenommene Einziehung eines Weges nicht vorgelegen. Die Abwägung bezüglich der Überschreitung der Immissionsgrenzwerte auf dem Grundstück der Antragsteller sei fehlerhaft. Der Abstand des Reiterhofs, dessen Koppeln täglich genutzt würden, zur nächstgelegenen Wohnbebauung sei zu gering.
Die Antragsteller beantragen,
den Bebauungsplan Nr. 87 „S.-West“ vom 26. April 2018 bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag vom 14. Mai 2018 außer Vollzug zu setzen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antrag habe keine Aussichten auf Erfolg, da den Antragstellern weder durch den Bebauungsplan noch durch dessen Vollzug schwere Nachteile drohten noch andere Gründe dafür ersichtlich seien, die eine vorläufige Außervollzugsetzung rechtfertigen würden. Im Anschluss an die Entscheidung des Senats vom 24. November 2017 im Verfahren 15 N 16.2158 seien die gerügten Ermittlungsdefizite im Weg eines ergänzenden Verfahrens behoben worden. Es seien drei Immissionsgutachten eingeholt und deren Ergebnisse bei der Überarbeitung des Planentwurfs berücksichtigt und abgewogen worden. Die Zustimmung der Rechtsaufsichtsbehörde nach § 58 Abs. 4 FlurbG zur teilweisen Auflassung und Verlegung eines Flurbereinigungswegs auf eine zu errichtende Gemeindestrasse liege vor.
Mit Beschluss vom 3. März 2017 (15 NE 16.2315) setzte der Senat den Vollzug des Bebauungsplans Nr. 87 „S.-West“ in seiner am 29. September 2016 bekannt gemachten Fassung bis zur Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug. Mit Beschluss vom 22. August 2017 (15 NE 17.1221) lehnte der Senat einen Antrag der Antragsgegnerin auf Abänderung dieser Entscheidung ab. Mit Urteil vom 24. November 2017 (15 N 16.2158) erklärte der Senat den Bebauungsplan für unwirksam.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden und dem Verfahren 15 N 18.1070 sowie die beigezogenen Normaufstellungsakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist nicht begründet.
1. Die Antragsteller sind antragsbefugt; sie berufen sich als Plannachbarn auf ihren subjektiven Anspruch auf gerechte Abwägung ihrer Belange gemäß § 1 Abs. 7, § 2 Abs. 3 BauGB im Hinblick auf die Zunahme des Verkehrslärms durch die unmittelbar östlich ihres Grundstücks geplante Erschließungsstraße für das rund 50 Parzellen umfassende Plangebiet.
2. Gemäß § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab bei Bebauungsplänen sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrag, soweit sich diese im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinn von § 47 Abs. 6 VwGO geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass dessen Vollzug suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn dessen (weiterer) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Weg einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten in der Hauptsache – dringend geboten ist (BayVGH, B.v. 3.3.2017 – 15 NE 16.2315 – juris Rn. 20 m.w.N.). Gemessen daran ist die begehrte einstweilige Anordnung hier weder zur Abwehr schwerer Nachtteile noch aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten.
2.1 Die Kritik der Antragsteller, die Voraussetzungen für ein ergänzendes Verfahren nach § 214 Abs. 4 BauGB hätten nicht vorgelegen, greift nicht durch. § 214 Abs. 4 BauGB in der seit 20. Juli 2004 geltenden Fassung (BGBl I S. 1359, 1377) erstreckt die Rückwirkungsmöglichkeit des ergänzenden Verfahrens auf alle beachtlichen Fehler aller Satzungen nach dem BauGB und der Flächennutzungspläne. Als Folgeänderung (vgl. BT-Drs. 15/2250 S. 74) wurde gleichzeitig in § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO das Wort nichtig durch das Wort unwirksam ersetzt (BGBl I 2004 S. 1381). Die Durchführung eines ergänzenden Verfahrens setzt allerdings (seit jeher) stets voraus, dass der zu behebende Mangel nicht von solcher Art und Schwere ist, dass er die Planung als Ganzes von vorneherein in Frage stellt oder die Grundzüge der Planung berührt (BVerwG, U.v. 8.10.1998 – 4 CN 7/97 – NVwZ 1999, 414 = juris Ls und Rn. 13 m.w.N., zur Vorläuferregelung des § 215 a Abs. 1 Satz 1 BauGB i.d.F. d. Bek. v. 27.8.1997, BGBl I S. 2141). Das ist hier aber offenkundig nicht der Fall. Die straßenmäßige Erschließung innerhalb des Baugebiets hat gegenüber der vorhergehenden Planfassung keine Änderung erfahren. Ein direkt am östlichen Rand des Plangebiets gelegener Teil eines Flurbereinigungswegs wird durch die Satzung gemäß § 10 Abs. 1 BauGB i.V.m. Art. 23 GO mit Zustimmung der Rechtsaufsichtsbehörde gemäß § 58 Abs. 4 Satz 2 FlurbG (vgl. Schreiben des LRA S. vom 4.7.2017, S. 2735/6 d. Verfahrensakten der Antragsgegnerin) eingezogen und in einer Länge von rund 40 m ab der Einmündung in die S-straße mit einer Breite von 6 m zur Gemeindestraße umgewidmet. Rechtsfehler sind der Antragstellerin hierbei nicht unterlaufen.
2.2 Die im Urteil des Senats vom 24. November 2017 noch festgestellten Mängel in der Abwägung gemäß § 2 Abs. 3, § 1 Abs. 7 BauGB (vgl. UA unter 2. c) bis e) der Entscheidungsgründe auf S. 12 ff.) wurden behoben.
2.2.1 Die Antragsgegnerin hat eine schalltechnische Verträglichkeitsuntersuchung über die vom Verkehrslärm herrührenden Geräuschimmissionen im geplanten Baugebiet und an den bestehenden Wohnhäusern entlang der S-straße unter Berücksichtigung der von der BAB A 93 und der Bahnlinie S.-F. im Wald verursachten Emissionen erstellen lassen (Teil F – Anlage 5 der sonstigen Anlagen zum Bebauungsplan). Die nach diesen Berechnungen an den Fassadenseiten des Gebäudes der Antragsteller auftretenden Erhöhungen der Lärmimmissionen einschließlich einer Überschreitung des einschlägigen Orientierungswerts der DIN 18005 von 55 dB(A) tagsüber um 0,6 bzw. 0,7 dB(A) an der Nordostfassade sowie die im Nachtzeitraum [Orientierungswert: 45 dB(A)] mit Steigerungen zwischen 0,3 und 0,9 dB(A) an allen Fassadenseiten, hier unter Berücksichtigung der bestehenden Vorbelastung nur an der Fassade Nord-Ost auf letztlich mit 47,5 (EG) bzw. 47,7 dB(A) (1.OG) errechneten Werte hat die Antragsgegnerin im Rahmen ihrer Abwägung (Niederschrift über die Sitzung des Planungs- und Umweltausschusses vom 24.04.2018, TOP 2, S. 2358 bis 2370 d. Verfahrensakten der Antragsgegnerin i.V.m. S. 91 der Beschlussvorlage = S. 2695 d. Verfahrensakten) als noch zumutbar bewertet, zumal der maßgebliche Immissionsgrenzwert der 16. BImSchV vom 49 dB(A) nicht überschritten werde und an den straßenabgewandten Seiten zum Teil noch die Orientierungswerte für reine Wohngebiete von 40 dB(A) eingehalten seien.
Die Antragsteller stellen die Richtigkeit der Ergebnisse der Begutachtung nicht in Frage; sie sehen eine „gravierende Abwägungsfehleinschätzung“ darin, dass der Belang ihrer Gesundheit von vorneherein offenbar als geringwertig angesehen worden sei, da es anderenfalls ja nahegelegen hätte, eine andere Erschließungsvariante zu wählen. Die „Überschreitung der Immissionsgrenzwerte“ werde von der Antragsgegnerin „offensichtlich schlicht ausgeblendet“. Insbesondere Letzteres ist nicht der Fall, was sich aus der Wiedergabe der Beschlussfassung seitens der Antragsgegnerin am Ende des vorhergehenden Absatzes ergibt. Auch das Ergebnis der Abwägung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
2.2.2 Die Antragsgegnerin hat ferner ein immissionsschutztechnisches Gutachten zur Beurteilung der auf das Plangebiet einwirkenden Geruchsimmissionen durch das südlich gelegene Reitzentrum S. eingeholt (Teil F – Anlage 7 der sonstigen Anlagen zum Bebauungsplan = S. 2947 bis 2980 d. Verfahrensakten). Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass in allen im Plangebiet festgesetzten Baufenstern der Geruchsimmissionswert nach der GIRL von 10% der Jahresstunden eingehalten bzw. deutlich unterschritten werde.
Substantielle Einwände hiergegen bringen die Antragsteller nicht vor. Die von den Antragstellern behauptete Angabe, dass die nördlich der Stallungen gelegenen Pferdekoppeln nur alle zwei Tage genutzt würden, findet sich in der Begutachtung nicht. Auf den Seiten 12 und 13 ist dort eine Lagedarstellung der Anlagenteile abgebildet sowie vermerkt, dass die Pferdekoppeln alle zwei Tage abgegangen und der Pferdekot aufgesammelt werde.
Die Antragsgegnerin hat sich die dargestellten Ergebnisse in rechtlich einwandfreier Art und Weise zu eigen gemacht und in ihre Abwägungsentscheidung eingestellt (S. 2693 d. Verfahrensakte = S. 89 der Beschlussvorlage i.V.m. S. 2358/2366 = S. 5 der Niederschrift über TOP 2 der Sitzung des Planungs- und Umweltausschusses vom 24.04.2018).
2.3 Auch im Übrigen lässt der Vortrag der Antragsteller keine zur Unwirksamkeit der Planung führenden Mängel erkennen, die offensichtlich wären. Zwar wird auf Seite 4 des Schriftsatzes vom 22. Mai 2018 eine entsprechende Behauptung aufgestellt, jedoch in Bezug auf die Bauleitplanung auch in den nachfolgenden Ergänzungen mit Schriftsätzen vom 24. Juli und 23. August 2018 nicht mehr näher erläutert. Die mit den von ihren geschilderten Baumaßnahmen einhergehenden Beeinträchtigungen der Antragsteller sind nicht Gegenstand der Rechtmäßigkeitsprüfung des Bebauungsplanes selbst.
Eine „ungefragte Fehlersuche“ (vgl. BVerwG, B.v. 17.5.2018 – 4 B 20/18 – juris Rn. 10; U.v. 8.3.2017 – 4 CN 1/16 – UPR 2017, 347-352 Rn. 29; B.v. 4.10.2006 – 4 BN 26/06 – BayVBl 2007, 120 = juris Ls 2 und Rn. 7; U.v. 17.6.1993 – 4 C 7/91 – ZfBR 1993, 304 = juris Rn. 17) ist im vorliegenden Verfahren nicht veranlaßt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 52 Abs. 1 und Abs. 8, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG unter Berücksichtigung der Nr. 9.8.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ-Beilage 2013, 57).
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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