Baurecht

Nutzungsänderung, Nichteinhaltung der Abstandsflächen aufgrund Teilung des Grundstücks

Aktenzeichen  1 ZB 22.89

Datum:
14.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6532
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6, Art. 63

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 29 K 20.2780 2021-09-15 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Beigeladene trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Das Grundstück FlNr. …7 Gemarkung E., das mit einem Dreifamilienhaus bebaut war, wurde im Jahr 2013 mehrfach geteilt. Die Grundstücksflächen mit dem bestehenden Wohngebäude wurden von dem Beigeladenen erworben. Das neu gebildete Grundstück FlNr. …13, Gemarkung E., haben die Kläger erworben. Dieses Grundstück ist noch unbebaut; den Klägern wurde am 27. März 2020 ein Vorbescheid zum Neubau eines Einfamilienhauses mit Garage erteilt, den der Beigeladene angefochten hat.
Aufgrund der vorgenommenen Teilung hält das Wohnhaus des Beigeladenen die Abstandsflächen im südöstlichen Bereich zu dem klägerischen Grundstück nicht mehr ein. Seinen Antrag auf Nutzungsänderung von Wohnin Büroräume für seinen Dachdeckerbetrieb im Erdgeschoss des südlichen Teils des Wohnanwesens genehmigte das Landratsamt mit Bescheid vom 29. Mai 2020. Dabei wurde für die geringere Tiefe der Abstandsflächen eine Abweichung erteilt. Gegen die Baugenehmigung erhoben die Kläger Klage.
Mit Urteil vom 15. September 2021 hob das Verwaltungsgericht die Baugenehmigung auf. Die geplante Nutzungsänderung, mit dem erstmals eine Büronutzung im Erdgeschoss beantragt worden sei, erfordere eine Neubewertung der Abstandsflächen. Die nach Art. 63 BayBO hinsichtlich der Einhaltung der Abstandsflächen erteilte Abweichung, die im Rahmen des Drittrechtsbehelfs vollumfänglich zu überprüfen sei, sei rechtswidrig. Die Voraussetzungen einer Abweichung lägen nicht vor. Eine atypische Fallgestaltung, die nach der Novellierung der Bayerischen Bauordnung weiter zu fordern sei, liege nicht vor. Überdies setze eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO auch eine Würdigung nachbarlicher Belange voraus. Bei dieser Interessenabwägung überwiege das Interesse der Kläger, angesichts des geringen Abstands des Nachbargebäudes wenigstens keine geänderte Nutzung ertragen zu müssen.
Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat der Beigeladene die Zulassung der Berufung beantragt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor bzw. sind nicht dargelegt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat den Baugenehmigungsbescheid vom 29. Mai 2020 zu Recht aufgehoben, da die erteilte Abweichung hinsichtlich der Einhaltung der Abstandsflächen zu dem klägerischen Grundstück rechtswidrig ist.
Soweit der Beigeladene zunächst geltend macht, dass es keiner Neubetrachtung oder Neubewertung der Abstandsflächenproblematik bedurft habe, ist das nicht zutreffend.
Bei einer Nutzungsänderung – hier Änderung der Art der Nutzung von Wohnnutzung zu gewerblicher Nutzung – ist die bauliche Anlage gemäß § 29 BauGB in ihrer geänderten Funktion als Einheit zu prüfen (vgl. BVerwG, B.v. 15.9.2021 – 4 B 16.21 – juris Rn. 4; U.v. 17.6.1993 – 4 C 17.91 – NVwZ 1994, 294). Mit der Änderung der Funktion wandelt sich das Vorhaben nicht nur zum Teil. Vielmehr entzieht die Änderung dem ursprünglichen Vorhaben die Identität. Gegenstand der erneuten Beurteilung ist die bauliche Anlage in ihrer geänderten Funktion. Der Bestandsschutz deckt die bauliche Anlage nur in ihrer jeweiligen Funktion (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.1974 – IV C 32.71 – BVerwGE 47, 185). Dieser planungsrechtliche Grundsatz hat auch Auswirkungen auf die bauordnungsrechtliche Prüfung. Hält das bestehende Gebäude die erforderlichen Abstandsflächen nicht ein, ist zu prüfen, ob eine Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen gewährt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2019 – 9 ZB 15.2606 – juris Rn. 14; B.v. 4.8.2016 – 1 ZB 15.2619 – juris Rn. 4; U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – BayVBl 2015, 347). Eine abstandsflächenrechtliche Privilegierung von Nutzungsänderungen (vgl. z.B. § 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 BauO Bln) sieht Art. 6 BayBO nicht vor. Auch wenn man davon ausgeht, dass es einer abstandsflächenrechtlichen Neubewertung nur dann bedarf, wenn die Nutzungsänderung im Hinblick auf die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange nachteilige Auswirkungen haben kann (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2015 – 15 ZB 13.2384 – juris Rn. 11), hat das Verwaltungsgericht diese Prüfung zutreffend vorgenommen. Angesichts von zwei Büroräumen und einem Besprechungsraum ist eine intensivere Nutzung der Räume im Vergleich zu der früheren kleinen Wohneinheit zu erwarten, weitere Feststellungen bzw. eine Beweisaufnahme sind hierzu nicht nötig.
Die Frage, ob es für die Erteilung einer Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandstiefe nach Art. 6 Abs. 5 BayBO gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO auch nach der Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO eines atypischen Sachverhalts bedarf und in welcher Hinsicht und mit welcher Intensität ein derartiger atypischer Sachverhalt gegeben sein muss, um eine Abweichung zuzulassen, kann vorliegend dahinstehen, da bereits die nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erforderliche Interessenabwägung eine Abweichung nicht begründen kann. Wird das angegriffene Urteil auf zwei selbständig tragende Erwägungen gestützt, kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (vgl. für die Revisionszulassung BVerwG, B.v. 26.8.2019 – 4 BN 1.19 – NVwZ 2020, 326; B.v. 20.12.2016 – 3 B 38.16 u.a. – NVwZ-RR 2017, 266).
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO unter Berücksichtigung des Zwecks von Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 BayBO und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen nicht vereinbar ist. Es hat dabei das Interesse des Beigeladenen an der Nutzungsänderung nicht außer Acht gelassen, wie mit dem Zulassungsantrag vorgetragen wird, sondern aufgrund des geringen Abstands zur Grundstücksgrenze zu Recht ein überwiegendes Interesse der Kläger an keiner Verschlechterung der Situation bejaht. Es kommt nicht darauf an, ob der Beigeladene für die Grundstücksteilung verantwortlich ist, das Baurecht ist objekt- und nicht personenbezogen. Für das Vorhaben des Beigeladenen sprechen auch keine die nachbarlichen Interessen der Kläger überwiegenden öffentlichen Belange. Es wird bei Berücksichtigung der Wertung des Gesetzgebers in Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO nicht Wohnraum geschaffen, sondern Wohnraum in Gewerbeflächen umgewandelt. Abstandsflächenwidrige Bebauungsverhältnisse sollen nach Möglichkeit bereinigt werden und nicht verfestigt werden (BayVGH, U.v. 13.2.2001 – 20 B 00.2213 – BauR 2001, 1248). Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, in dem eine nachträgliche Grundstücksteilung zu der Abstandsflächenverkürzung geführt hat. Die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften ist im Gegensatz zu der offenbar vom Landratsamt vertretenen Rechtsauffassung (vgl. Aktennotiz auf Bl. 92 der Behördenakte) keine Variante zu der Möglichkeit einer Abstandsflächenübernahme.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zugleich, dass die Streitsache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist, die eine Zulassung der Berufung erforderlich machen würden. Insbesondere kommt es hier nicht entscheidungserheblich darauf an, ob für eine Abweichungsentscheidung von den Abstandsflächenvorschriften weiterhin ein atypischer Sachverhalt zu fordern ist. Mit der Behauptung, dass sich die Frage der Reichweite des Bestandsschutzes eines Gebäudes stelle, bei dem durch eine Grundstücksteilung nach genehmigter Errichtung eines Gebäudes und Aufnahme der Nutzung gesetzliche Abstandsflächen nicht eingehalten würden, und den weiteren Ausführungen, dass sich das Verwaltungsgericht mit dieser Frage unzutreffend befasst habe, wird eine allgemeine Klärungsbedürftigkeit dieser Frage und damit eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht ansatzweise dargelegt (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Der Beigeladene hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen, da sein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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