Baurecht

Quantitatives Mischungsverhältnis im Mischgebiet zwischen Wohnen und Gewerbe und Errichtung eines Wohnheims für Flüchtlinge

Aktenzeichen  1 ZB 16.589

Datum:
26.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 7005
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 30 Abs. 1
BauNVO § 6

 

Leitsatz

1 Kennzeichnend für den Baugebietstyp „Mischgebiet“ ist die Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von Wohnen und das Wohnen nicht störendem Gewerbe. Dieses gleichwertige Nebeneinander zweier Nutzungsarten setzt zum einen wechselseitige Rücksichtnahme der einen Nutzung auf die andere und deren Bedürfnisse voraus, es bedeutet zum anderen aber auch, dass keine der Nutzungsarten ein deutliches Übergewicht über die andere gewinnen soll (hier Verletzung des erforderlichen Gleichgewichts angenommen wegen Bauvorhabens betreffend die Errichtung eines Wohnheims für Flüchtlinge). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Störung des gebotenen quantitativen Mischungsverhältnisses kann sich aus einem übermäßig großen Anteil einer Nutzungsart an der Grundfläche des Baugebiets, einem Missverhältnis der Geschossflächen oder der Zahl der eigenständigen gewerblichen Betriebe im Verhältnis zu den vorhandenen Wohngebäuden, oder auch erst aus mehreren solcher Merkmale zusammengenommen ergeben. Erforderlich ist stets eine Bewertung aller für eine quantitative Beurteilung in Frage kommenden tatsächlichen Umstände. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 K 15.2357 2016-02-03 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 100.000 € festgesetzt.

Gründe

Der Kläger begehrt auf den Grundstücken FlNr. … und …, Gemarkung P., die Baugenehmigung für die Errichtung eines Wohnheims für Flüchtlinge. Für die Grundstücke gilt der Bebauungsplan Nr. … „S. Straße“, der als Art der Nutzung ein Mischgebiet festsetzt. Der Beklagte lehnte den Bauantrag ab, da mit einer Genehmigung das im Mischgebiet notwendige Gleichgewicht zwischen Wohnen und wohnähnlicher Nutzung und Gewerbe nicht mehr umgesetzt werden könne. Gewerbebetriebe seien nur auf zwei Grundstücken vorhanden bzw. genehmigt. Die erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 3. Februar 2016 ab. Die begehrte Nutzung des Grundstücks als Flüchtlingsheim sei bauplanungsrechtlich unzulässig, da sie gemäß § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO 1977 aufgrund der geplanten Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widerspreche. Wegen der derzeit tatsächlich nur in geringem Umfang vorhandenen Gewerbenutzung sei nicht anzunehmen, dass die Festsetzung der Gebietsart „Mischgebiet“ bereits funktionslos geworden sei, da auf einigen Grundstücken – die klägerischen Grundstücke eingeschlossen – noch eine (verstärkte) gewerbliche Nutzung möglich sei. Die den Gebietscharakter zwingend prägende Durchmischung des Gebiets mit einem bedeutenden Gewerbeanteil sei aber nicht mehr möglich, wenn das klägerische Vorhaben genehmigt würde. Es komme dabei nicht darauf an, ob es sich bei der streitgegenständlichen Nutzung um eine wohnähnliche Nutzung handele. Maßgeblich sei, dass es sich bei der geplanten Nutzung nicht um eine für die Erhaltung des Gebietscharakters erforderliche gewerbliche Nutzung handele.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist, liegen nicht vor oder werden nicht dargelegt (§ 124 a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO).
An der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel im Sinn dieser Vorschrift, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass in dem Bebauungsplan Nr. … „S. Straße“ ein einheitliches Mischgebiet festgesetzt wurde. Die Beigeladene hat die Abgrenzung zwischen dem allgemeinen Wohngebiet und dem Mischgebiet deutlich erkennbar anhand der sog. Perlschnur (vgl. die Zeichenerklärung des Bebauungsplans) vorgenommen (vgl. OVG NW, U.v. 10.10.1997 –7a D 104/95.NE – juris Rn. 52). Auch aus der Begründung des Bebauungsplans, die zur Ermittlung des Planungswillens und zur Auslegung der Festsetzungen heranzuziehen ist (vgl. BVerwG, U.v. 3.2.1984 – 4 C 17.82 – BVerwGE 68, 369), ergibt sich, dass ein einheitliches Mischgebiet festgesetzt wurde (vgl. C 1. der Begründung). Soweit die Klägerin vorträgt, dass sich das Verwaltungsgericht mit der Frage hätte befassen müssen, ob im vorliegenden Fall nicht durch die Festsetzung einer öffentlichen Grünfläche eine Abgrenzung in zwei Mischgebiete erfolgt sei, wird weder konkret ausgeführt, aufgrund welcher Rechtsprechung bei einer vorgenommenen Trennung der Baugebiete durch das in der Planzeichenverordnung vorgesehene Planzeichen ein festgesetztes Straßenbegleitgrün eine (nochmals) trennende Wirkung haben kann, noch ist eine solche Rechtsprechung ersichtlich. Weiter liegt der geltend gemachte „Etikettenschwindel“, bei dem die im Bebauungsplan vorgenommene Festsetzung und die hinter dieser Festsetzung stehende wirkliche städtebauliche Konzeption auseinanderfallen, nicht vor. Aus den Festsetzungen des Bebauungsplans ergibt sich nicht, dass das Mischgebiet unzulässig derart gegliedert werden sollte, dass in einem Teilbereich nur Wohnungen, in dem anderen nur Gewerbetriebe zulässig sein sollten (vgl. BayVGH, U.v. 3.8.2000 – 1 B 98.3122 – BayVBl 2001, 400; U.v. 6.2.2002 – 2 N 00.3406 – juris). Die Klägerin argumentiert selbst, dass auch im südlichen Teil des Mischgebiets gewerbliche Nutzung zulässig und möglich sei. Mit den Ausführungen, dass in dem Bereich zwischen der Westtangente und dem nordwestlichen Bereich der D. Straße nach den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und den vorgeschlagenen Baukörpern eher eine Wohnnutzung zugelassen werden sollte, schließt auch das Verwaltungsgericht dort eine gewerbliche Nutzung nicht aus. Im Übrigen können die Lage und der Zuschnitt von Grundstücken dazu führen, dass sich ein geplantes Mischgebiet mit der Bebauung tatsächlich dahingehend entwickelt, dass ein Teilbereich überwiegend durch eine Nutzungsart geprägt wird. Davon geht auch der Gesetzgeber aus (vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO).
Auch bei der Prüfung, ob die Festsetzung der Nutzungsart funktionslos geworden ist, ist das Mischgebiet nicht in zwei unterschiedliche Bereiche aufzuteilen. Die Klägerin nimmt hier Bezug auf die Entscheidung des Senats vom 3. September 2001 (1 N 98.48 – juris), in der ausgeführt wird, dass die Festsetzungen eines Bebauungsplans funktionslos und damit unwirksam werden, wenn sich die Verhältnisse in dem Bereich, für den die Festsetzungen gelten, so entwickelt haben, dass eine Verwirklichung der Festsetzungen auf nicht absehbare Zeit ausgeschlossen ist, und diese Tatsache so offenkundig ist, dass ein Vertrauen auf die Fortgeltung der Festsetzungen nicht mehr schutzwürdig ist. Mit der Formulierung „Bereich, für den die Festsetzungen gelten“ hat der Senat entgegen dem Vortrag der Klägerin aber nicht auf unterschiedliche Bereiche in dem Mischgebiet abgestellt, sondern wie aus den Entscheidungsgründen klar hervorgeht, auf das gesamte Baugebiet. Dies ergibt sich auch aus der in der Entscheidung zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts; danach kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an, sondern auf den Gesamtgeltungsbereich des Bebauungsplans (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – NVwZ-RR 1997, 512).
Soweit die Klägerin vorträgt, dass das Verwaltungsgericht bei der Gegenüberstellung der Geschossflächenzahlen für Wohnen und Gewerbe nicht berücksichtigt habe, dass auf dem Grundstück FlNr. … sowie den Baugrundstücken weitere gewerbliche Nutzung untergebracht werden könnte, greift sie nur einen Teilaspekt einer gebotenen Gesamtbetrachtung heraus, auf den das Verwaltungsgericht auch nicht allein abgestellt hat. Kennzeichnend für den Baugebietstyp „Mischgebiet“ ist die Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von Wohnen und das Wohnen nicht störendem Gewerbe. Dieses gleichwertige Nebeneinander zweier Nutzungsarten setzt zum einen wechselseitige Rücksichtnahme der einen Nutzung auf die andere und deren Bedürfnisse voraus, es bedeutet zum anderen aber auch, dass keine der Nutzungsarten ein deutliches Übergewicht über die andere gewinnen soll. Für die quantitative Mischung kommt es darauf an, in welchem Verhältnis die dem Wohnen und die gewerblichen Zwecken dienenden Anlagen im Baugebiet nach Anzahl und Umfang zueinander stehen. Dies lässt sich nicht ausschließlich danach beurteilen, mit welchen Prozentsätzen Geschossflächen im jeweiligen Mischgebiet für die eine oder andere Nutzungsart in Anspruch genommen werden. Die Störung des gebotenen quantitativen Mischungsverhältnisses kann sich aus einem übermäßig großen Anteil einer Nutzungsart an der Grundfläche des Baugebiets, einem Missverhältnis der Geschossflächen oder der Zahl der eigenständigen gewerblichen Betriebe im Verhältnis zu den vorhandenen Wohngebäuden, oder auch erst aus mehreren solcher Merkmale zusammengenommen ergeben. Erforderlich ist stets eine Bewertung aller für eine quantitative Beurteilung in Frage kommenden tatsächlichen Umstände (vgl. BVerwG, U.v. 4.5.1988 – 4 C 34.86 – BVerwGE 79, 309; B.v. 11.4.1996 – 4 B 51.96 – NVwZ-RR 1997, 463). Weiter kann auch berücksichtigt werden, dass einzelne Grundstücke für eine Nutzungsart nur eingeschränkt zur Verfügung stehen (vgl. BayVGH, B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 35). Im Übrigen sind die von der Klägerin für eine mögliche gewerbliche Nutzung genannten Geschossflächenzahlen nicht zutreffend, da die auf den Grundstücken vorhandenen bzw. geplanten Baukörper berücksichtigt werden müssen und nicht auf eine maximal zulässige Geschossfläche abgestellt werden kann.
Die Unzulässigkeit des Vorhabens nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO 1977 kann die Klägerin auch nicht damit ausräumen, dass sie sich gegen eine verpflichtende Nutzung ihrer Grundstücke mit Gewerbe wendet. Vorhaben, die an sich ihrer Art nach bauplanungsrechtlich zulässig sind, können im Einzelfall unzulässig sein, wenn sie in einer Situation verwirklicht werden sollen, in der sie städtebaulich nicht (mehr) verträglich sind und die Umgebung sie nicht (mehr) aufnehmen kann. Dies kann seinen Grund auch darin haben, dass in dem fraglichen Gebiet bereits früher – in planungsrechtlich zulässiger Weise – andere Vorhaben verwirklicht worden sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.5.1988 – 4 C 34.86 – BVerwGE 79, 309). Die Tatsache, dass die Klägerin mit der beantragten Nutzung als Flüchtlingswohnheim keine Wohnnutzung (vgl. BVerwG, B.v. 4.6.1997 – 4 C 2.96 – NVwZ 1998, 173; VGH BW, B.v. 6.10.2015 – 3 S 1695/15 – NVwZ 2015, 1781; BayVGH, B.v. 9.12.2015 – 15 CS 15.1935 – juris Rn. 18), sondern eine „neutrale“ Nutzung verwirklichen will, führt zu keinem anderen Ergebnis. Mit der Zulassung des Vorhabens würde die erforderliche Durchmischung des Baugebiets erheblich gestört (vgl. BayVGH, B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 35).
Es liegt auch nicht der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Ob die Gleichgewichtigkeit von Wohnen und das Wohnen nicht störendem Gewerbe vorliegt, kann tatsächlich und rechtlich ohne besondere Schwierigkeiten anhand der genannten Rechtsprechung beurteilt werden. Auch die exakte Berechnung von Geschossflächen ist unabhängig von deren Entscheidungserheblichkeit keine besondere tatsächliche Schwierigkeit der Rechtssache.
Ein Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), ist ebenfalls nicht gegeben. Soweit die Klägerin auf ihre Beweisanregung in dem Schriftsatz vom 11. Januar 2016 Bezug nimmt, dem Beklagten aufzugeben, die Mischungsverhältnisse durch konkrete Geschossflächenangaben zu belegen, verletzt ein Gericht seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich dann nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter nicht ausdrücklich beantragt hat. Die Aufklärungsrüge dient nicht dazu, Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren und insbesondere Beweisanträge zu ersetzen, die ein Beteiligter zumutbarerweise hätte stellen können, jedoch zu stellen unterlassen hat (vgl. BVerwG, B.v. 20.12.2012 – 4 B 20.12 – juris Rn. 6 m.w.N.). Auch wenn sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben, war die Klägerin nicht daran gehindert, einen Beweisantrag zu stellen, über den das Verwaltungsgericht vor der Sachentscheidung hätte entscheiden müssen (vgl. BVerwG, B.v. 6.9.2011 – 9 B 48.11 u.a. – NVwZ 2012, 376). Dass sich dem Verwaltungsgericht eine entsprechende Sachaufklärung aufdrängen musste, wird bereits nicht substantiiert dargelegt. Insbesondere kommt es hier nicht darauf an, ob die Klägerin eine Sach- oder Rechtsfrage für entscheidungserheblich hält.
Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen, da ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 1 VwGO). Es entspricht der Billigkeit der Klägerin gemäß § 162 Abs. 3 VwGO auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen (vgl. Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl., § 162 Rn. 17 m.w.N.). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. 9.1.2.6 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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