Baurecht

Rücksichtnahmegebot, Unwirksamer Bebauungsplan

Aktenzeichen  9 ZB 21.2792

Datum:
27.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 10673
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
Art. 76 S. 1 BayBO.

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 17 K 20.311 2021-06-18 Ent VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 sowie der der Beigeladenen zu 2 und zu 3, als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Kläger begehren von dem Beklagten ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen bauliche Anlagen auf dem benachbarten Grundstück der Beigeladenen zu 2 und zu 3.
Die Kläger sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks FlNr. …16 der Gemarkung S. … … … Die Beigeladene zu 1 hat auf dem südlichen Nachbargrundstück (FlNr. …17) ein Einfamilienwohnhaus als Bungalow errichtet und an die Beigeladenen zu 2 und zu 3 veräußert. Die Kläger wenden sich gegen die Eindeckung des Daches mit Trapezblech sowie gegen die Errichtung einer aufgeständerten Solaranlage auf dem Dach. Sie machen im Wesentlichen eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots aufgrund unzumutbarer Lichtimmissionen geltend.
Das Verwaltungsgericht hat die von den Klägern erhobene Untätigkeitsklage mit Urteil vom 18. Juni 2021 abgewiesen. Das Stahltrapezdach sei in der ausgeführten Weise formell legal, weshalb eine Beseitigungsanordnung nach Art. 76 Satz 1 BayBO ausscheide. Die wirksame und bestandskräftige Baugenehmigung vom 16. Juli 2019 entfalte insofern eine legalisierende Wirkung, weil eine Blend- und Spiegelungswirkung auch im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren (gem. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO) zu prüfen gewesen sei. Das Dach sei darüber hinaus auch materiell rechtmäßig. Auf drittschützende Bestimmungen eines am 1. September 2015 bekannt gemachten Bebauungsplanes könnten sich die Kläger nicht berufen, weil dieser vom Bürgermeister erst am 14. September 2015 ausgefertigt worden sei. Darin liege ein beachtlicher formeller Fehler, der zur Unwirksamkeit der Satzung führe. Ein Verstoß gegen das in § 34 Abs. 1 BauGB und alternativ in Art. 11 BayBO verankerte Rücksichtnahmegebot, das drittschützende Wirkung entfalten könne, liege nicht vor. Die Klage sei auch hinsichtlich der aufgeständerten Solaranlage unbegründet. Insofern entfalte zwar eine von der Gemeinde erteilte Befreiung keine legalisierende Wirkung, die Anlage verstoße aber nicht gegen materiell-rechtliche Bauvorschriften und sei vor allem nicht rücksichtslos. Nach dem Vortrag der Klägerseite spiegle sich das Sonnenlicht lediglich am Gestänge des Metallständers und dies auch nur in der Zeit von etwa 16.30 Uhr bis 19.00 Uhr. Eine derartige Beeinträchtigung hätten die Kläger hinzunehmen. Sie beschränke sich auf jeweils wenige Stunden an Sonnentagen und sei in Anbetracht der Entfernung zwischen Blendquelle und Einwirkungsort nicht erheblich. Metallische Ständer in dieser Breite seien allgemein üblich und sozialadäquat. Vergleichbare Reflexionen gingen auch von Laternen oder Verkehrsschildern aus, beträfen eine Vielzahl von Personen und seien nach dem Empfinden eines durchschnittlichen Betroffenen hinzunehmen.
Mit ihrem Zulassungsantrag verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Die Beklagte sowie die Beigeladenen verteidigen das Urteil.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
1. Aus dem Vorbringen der Kläger ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Solche bestehen nur, wenn einzelne tragende Rechtssätze oder einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts durch schlüssige Gegenargumente infrage gestellt werden (vgl. BVerfG, B.v. 13.5.2020 – 1 BvR 1521/17 – juris Rn. 10; B.v. 16.7.2013 – 1 BvR 3057/11 – BVerfGE 134, 106 = juris Rn. 36; BayVGH, B.v. 12.4.2021 – 8 ZB 21.23 – juris Rn. 8). Das ist hier nicht der Fall.
Der Senat teilt die Auffassung des Erstgerichts, dass die Kläger keinen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten haben. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass bei einer genehmigungsbedürftigen Anlage die Voraussetzungen des Art. 76 Satz 1 BayBO nur dann erfüllt sind, wenn sie formell und materiell rechtswidrig ist, d. h. ohne durch die hierfür erforderliche Baugenehmigung gedeckt zu sein, errichtet oder geändert wurde, und wenn sie zudem auch so, wie sie errichtet oder geändert wurde, nicht (nachträglich) genehmigt werden kann (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2021, Art. 76 Rn. 79 m.w.N.). Bei verfahrensfreien Vorhaben besteht die Befugnis zur Beseitigung, wenn sie dem materiellen Recht (vgl. Art. 55 Abs. 2 BayBO), sei es Bauordnungs- oder Bauplanungsrecht oder sonstiges von der Bauaufsichtsbehörde zu prüfendes Recht, widersprechen (vgl. Decker a.a.O. Rn. 89 m.w.N.). Diese Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar verneint.
Der klägerische Vortrag, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass „die Dachgestaltung“ nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoße, gibt keinen Anlass zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der Entscheidung. Selbst wenn das Vorbringen dahingehend ausgelegt wird, dass sich die Kläger damit sowohl auf die Illegalität des Stahltrapezdachs als auch der aufgeständerten Solaranlage berufen, verfängt die Kritik nicht. Sie setzen im Ergebnis lediglich ihre eigene Bewertung an die Stelle der Darlegungen des Ausgangsgerichts, ohne diese dadurch ernstlich infrage zu stellen.
1.1 Hinsichtlich eines möglichen Anspruchs auf bauaufsichtliches Einschreiten in Bezug auf das Stahltrapezdach haben die Kläger nicht dargelegt, dass ein solcher besteht. Das Verwaltungsgericht hat die Unzulässigkeit einer Beseitigungsanordnung auf zwei selbständig tragende Begründungen gestützt: Zum einen auf die Legalisierungswirkung der bestandskräftigen Baugenehmigung vom 16. Juli 2019, die sich auf die Ausführung des Daches erstreckt und der Anwendung des Art. 76 Satz 1 BayBO entgegensteht (vgl. Decker a.a.O., Rn. 99 m.w.N.), und zum anderen auf die materielle Rechtmäßigkeit der Anlage. In derartigen Fällen der Doppelbegründung eines Urteils ist es erforderlich, dass in Bezug auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht ist und vorliegt (stRspr. vgl. etwa BVerwG, B.v. 3.7.1973 – IV B 92.73 – Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 109; BayVGH, B.v. 27.6.2013 – 13a ZB 13.30158 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 15.12.2017 – 8 ZB 16.1814 – juris Rn. 30). Daran fehlt es. Die Beschwerde setzt sich mit der im Urteil festgestellten formellen Legalität nicht auseinander.
Im Übrigen überzeugt auch das Vorbringen zur materiellen Illegalität nicht. Das Verwaltungsgericht ist nachvollziehbar davon ausgegangen, dass der Bebauungsplan unwirksam ist. Die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich daher gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nach dem sich aus der vorhandenen Bebauung ergebenden Maßstab (vgl. etwa BayVGH, U.v. 19.6.2013 – 1 B 10.1841 – juris Rn. 42 ff.). Von diesen Grundsätzen ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen und hat im Einzelnen dargelegt, warum vom Stahltrapezdach nach den von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben zum Rücksichtnahmegebot keine für die Kläger unzumutbaren Beeinträchtigungen ausgehen. Damit setzt sich der klägerische Vortrag nicht näher auseinander. In der Zulassungsbegründung wird die Unzumutbarkeit der Lichtimmissionen lediglich behauptet, ohne dies näher zu begründen. Gleiches gilt für die Argumentation, bei der rechtlichen Beurteilung spielten unwirksame Satzungsbestimmungen eine Rolle, wobei nicht einmal konkretisiert wird, auf welche drittschützenden Bestimmungen – wenn diese nicht formell unwirksam wären – sich die Kläger hätten berufen können.
1.2 Ebenso wenig überzeugt die pauschale Kritik der Kläger in Bezug auf die aufgeständerte Solaranlage. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass es sich bei deren Errichtung um ein verfahrensfreies Vorhaben handelt (Art. 57 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a) aa) BayBO), das nicht im Widerspruch zum materiellen Recht steht. Es hat vor allem im Einzelnen dargelegt, warum die durch das Gestänge des Metallständers verursachten Lichtreflexionen zu keiner Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme führen. Damit setzt sich die Zulassungsbegründung, die schon nicht hinreichend zwischen den unterschiedlichen Anlagen differenziert, nicht näher auseinander. Die Kläger stellen den überzeugenden Urteilsgründen lediglich ihre eigene Einschätzung gegenüber, ohne diese im Einzelnen zu begründen oder in ausreichender Tiefe auf die Ausführungen des Erstgerichts einzugehen.
2. Die Berufung ist nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich, bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist; die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – NVwZ 2016, 1243 = juris Rn. 20; BVerwG, B.v. 4.8.2017 – 6 B 34.17 – juris Rn. 3 zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 1.4.2014 – 1 B 1.14 – juris Rn. 2; B.v. 19.1.2022 – 1 B 83.21 – juris Rn. 21 m.w.N.)
Die von den Klägern formulierte Frage, „inwieweit die Festsetzungen eines Bebauungsplans, dessen formeller Mangel Jahre später in Erscheinung tritt, im Rahmen drittschützender Normen Berücksichtigung finden müsse“, erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Es fehlt bereits an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit. In der Zulassungsbegründung wird nicht aufgezeigt, welche (unwirksamen) Normen aus welchen Gründen der Klage zum Erfolg verhelfen könnten.
Zudem lässt sich die Fragestellung am Maßstab der höchstrichterlichen Rechtsprechung ohne Weiteres beantworten. Die Rechtswidrigkeit führt grundsätzlich zur Unwirksamkeit einer Norm, wobei unerheblich ist, ob sie aus formellen oder materiellen Gründen resultiert (vgl. Hoppe in Eyermann, 15. Aufl. 2019, VwGO, § 47 Rn. 80 m.w.N.; VerfGH, E.v. 10.3.1981 – Vf. 16-VII-79 u.a. – juris Rn. 35 ff.). Derartige Normen können danach keine Rechtswirksamkeit entfalten (vgl. dazu grundlegend Ossenbühl, NJW 1986, 2805/2806 f.). Für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens im unbeplanten Innenbereich kommt es nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB auf die Eigenart der näheren Umgebung und damit auf die vorhandene Bebauung an (vgl. etwa BayVGH, U.v. 19.6.2013 – 1 B 10.1841 – juris Rn. 42 ff.). Die rechtlichen Maßstäbe sind insofern auch für Fallgestaltungen geklärt, in denen ein in einem unwirksamen Bebauungsplan enthaltenes gemeindliches Planungskonzept vollständig verwirklicht worden ist und seinen Niederschlag im Ortsbild sowie in der Struktur der vorhandenen Bebauung gefunden hat. Beurteilungsmaßstab für das „SichEinfügen“ eines Vorhabens gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist auch in diesen Fällen das tatsächlich in der maßgeblichen Umgebung prägend Vorhandene. Daran ändert sich im Grundsatz auch dann nichts, wenn die vorhandene Orts- bzw. Bebauungsstruktur das Ergebnis der Verwirklichung eines unwirksamen Bebauungsplanes ist (BVerwG, B.v. 10.1.1994 – 4 B 158.93 – juris Rn. 10).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Die Beigeladenen haben sich im Zulassungsverfahren geäußert. Es entspricht deshalb der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten den Klägern aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO)


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