Baurecht

Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch Bauvorhaben wegen erdrückender Wirkung und Verschattung bei Einhaltung der Abstandsflächen

Aktenzeichen  M 11 K 17.1611

Datum:
26.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 15956
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 30 Abs. 1
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
BayBO Art. 6 Abs. 6

 

Leitsatz

Zwar bedeutet die Einhaltung der Abstandsflächen nicht, dass damit von einem Bauvorhaben in keinem Fall eine „erdrückende“ Wirkung ausgehen kann. Jedoch spricht die Einhaltung der landesrechtlich verlangten Abstandsfläche regelmäßig indiziell dafür, dass eine „erdrückende Wirkung“ oder „unzumutbare Verschattung“ nicht eintritt. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
1. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Kläger werden durch die angefochtene Baugenehmigung nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nachbarn können eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn sie hierdurch in einem ihnen zustehenden subjektiv-öffentlichen Recht verletzt werden. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen. Hinzukommen muss, dass die Baugenehmigung gerade deshalb rechtswidrig ist, weil Rechte, die dem individuellen Schutz Dritter, d.h. gerade dem Schutz des Klage führenden Nachbarn dienen, verletzt sind.
Die angefochtene Baugenehmigung verstößt nicht gegen nachbarschützende Rechtsvorschriften, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.
Die Festsetzungen im Bebauungsplan des Marktes … zum Maß der baulichen Nutzung, insbesondere zur maximal zulässigen Geschossfläche, sind nicht nachbarschützend.
Festsetzungen in Bebauungsplänen zum Maß der baulichen Nutzung kommt kraft Bundesrecht – anders als Festsetzungen zur Art der Nutzung – grundsätzlich keine drittschützende Wirkung zu (vgl. BVerwG, U. v. 23.06.1995 – 4 B 52.95). Ausnahmsweise kann im Einzelfall etwas anderes gelten, wenn den Festsetzungen im Bebauungsplan oder seiner Begründung zu entnehmen ist, dass der Wille der planenden Gemeinde dahin ging, den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung im Einzelfall drittschützende Wirkung zukommen zu lassen (vgl. Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiss, Baugesetzbuch, Baunutzungsverordnung, 7. Auflage 2013, § 29, Rn. 49 f.).
Im vorliegenden Fall lässt sich weder den Festsetzungen selbst noch der Begründung des Bebauungsplans entnehmen, dass der Geschossflächenfestsetzung in irgendeiner Form unmittelbar nachbarschützende Funktion zukommen sollte. In Nr. 4.1 der Begründung zum Bebauungsplan wird ausgeführt, dass u.a. mit dieser Festsetzung erreicht werden soll, dass bei möglicher zweigeschossiger Bebauung nicht übermäßig große, die bisherige Gebäudestruktur sprengende Gebäude auf den Grundstücken errichtet werden. Bei diesem Ziel einer lockeren Bebauung handelt es sich allein um städtebauliche Belange. Anhaltspunkte, dass diese lockere Bebauung unmittelbar zum Schutz der Grundstückeigentümer zu dienen bestimmt ist, sind nicht ersichtlich.
Anders als vom Klägerbevollmächtigten ausgeführt folgt auch kein Drittschutz alleine aus einem etwaigen Erfordernis einer Umplanung, da ein etwaiges Planungserfordernis als solches grundsätzlich nur dazu dient, eventuell aufgetretene städtebauliche Spannungen zu beseitigen und damit grundsätzlich allein städtebauliche, nicht nachbarschützende Zielsetzungen verfolgt.
Schließlich stellt sich das Vorhaben der Beigeladenen den Klägern gegenüber auch nicht als rücksichtslos dar.
Hierbei ist – was die Kubatur betrifft – von vorneherein nur auf die zwei südlichen, dem klägerischen Grundstück am nächsten liegenden Gebäude (Häuser 1 und 2) abzustellen. Die weiter nördlich und somit deutlich weiter von der Grundstücksgrenze entfernt liegenden Häuser 3 bis 6 stellen sich allein schon aufgrund des großen Abstands zum Wohngebäude der Kläger nicht als rücksichtslos dar.
Zwar ist zuzugeben, dass die Häuser 1 und 2 die maximal festgesetzte Wandhöhe von 6,20 m nicht einhalten (Wandhöhe jeweils knapp 6,50 m). Dies allein begründet allerdings noch keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Ein solcher läge nur vor, wenn das Vorhaben einmauernde, erdrückende oder abriegelnde Wirkung hätte. Dies ist allerdings nicht der Fall.
Ausweislich der vorgelegten Baupläne sind die Vorschriften des Abstandsflächenrechts, die eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung von Nachbargrundstücken sowie einen ausreichenden Sozialabstand sicherstellen sollen, eingehalten. Selbst wenn eine fehlerhafte Berechnung der Abstandsflächen unter Zugrundelegung einer falschen Geländehöhe vorläge und deshalb das Haus 2 H/2 gegenüber dem Haus 1 des Vorhabens der Beigeladenen nicht einhält, kann – entgegen den Ausführungen des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung – daraus nicht zwangsläufig der Schluss gezogen werden, dass hinsichtlich des Hauses 2 gegenüber dem Grundstück generell das 16-m-Privileg des Art. 6 Abs. 6 BayBO entfallen würde und automatisch H zur Anwendung käme. Das 16-m-Privileg kann im vorliegenden Fall für maximal zwei Gebäudeseiten in Anspruch genommen werden, da Haus 2 mit keiner Außenwand auf einer Grundstücksgrenze steht. Die Inanspruchnahme für zwei Seiten ist aber keine Pflicht, vielmehr könnte die Beigeladene H/2 gemäß Art. 6 Abs. 6 BayBO von vorneherein nur hinsichtlich einer Gebäudeseite, insbesondere den Klägern gegenüber, in Anspruch nehmen. Einen möglichen Verstoß gegen die Abstandsflächen an der Ostfassade des Hauses 2, also gegenüber Haus 1, können die Kläger von vorneherein nicht rügen. Dass im Falle des Hauses 1 eine Abstandsflächentiefe von H und im Falle des Hauses 2 eine Abstandsflächentiefe von H/2 gegenüber dem klägerischen Grundstück eingehalten ist, ist auch nicht aufgrund der gewährten Befreiung vom Verbot der Geländeveränderung zweifelhaft. Im Bereich des Hauses 1 ist vom natürlichen Gelände eine Abtragung von 10 cm, im Bereich des Hauses 2 eine Abtragung an der Südostecke von 10 cm und lediglich in der Südwestecke eine Aufschüttung in Höhe von 10 cm erlaubt worden. Das bedeutet, dass selbst bei Zugrundelegung der natürlichen Geländeoberfläche in keinem Fall eine größere Abstandsflächentiefe von 10 cm bei Haus 1 und 5 cm bei Haus 2 zusätzlich zu berücksichtigen wäre. 10 cm bzw. 5 cm tiefere Abstandsflächen lägen aber ebenso noch auf dem Grundstück der Beigeladenen, sodass das Vorhaben selbst in diesem Falle die erforderliche Abstandsflächentiefe einhalten würde.
Zwar bedeutet die Einhaltung der Abstandsflächen nicht, dass damit von einem solchen Bauvorhaben in keinem Fall eine „erdrückende“ Wirkung ausgehen kann. Jedoch spricht die Einhaltung der landesrechtlich verlangten Abstandsfläche regelmäßig indiziell dafür, dass eine „erdrückende Wirkung“ oder „unzumutbare Verschattung“ nicht eintritt (BVerwG, B. v. 11.01.1999 – 4 B 128.98, NVwZ 1999, 879; BayVGH, B. v. 15.03.2011 – 15 CS 11.9). Besondere Gesichtspunkte, die Anlass zu einer anderen Bewertung geben könnten, liegen nicht vor. Die geplanten Wohnhäuser sind weder besonders hoch (Wandhöhe ca. 6,50 m) noch – zu den Klägern hin – besonders breit (ca. 8,15 m). Dass es sich um eine in der näheren Umgebung bisher nicht vorhandene Baumasse handelt, ist als solches noch keine unzumutbare Beeinträchtigung, v.a. in Anbetracht der Tatsache, dass den Klägern lediglich zwei Gebäude zugewandt sind, die zum einen bereits nicht besonders groß sind und zum andern auch baulich mit einem gewissen Abstand voneinander getrennt sind. Insbesondere hat der Augenschein ergeben, dass das klägerische Gebäude selbst eine nahezu identische Höhenentwicklung wie die neu zu errichtenden Gebäude aufweist. Eine einmauernde oder erdrückende Wirkung ist jedoch von vorneherein bei im Wesentlichen gleicher Höhenentwicklung nicht denkbar. Auch hat der Augenschein ergeben, dass das Baugrundstück keineswegs höher als das klägerische Grundstück liegt. Vielmehr fällt das Gelände vom klägerischen Grundstück in Richtung des Vorhabengrundstücks sogar eher leicht ab. Alles in allem ist nach dem beim Augenschein gewonnenen Eindruck keinesfalls von einer unzumutbaren Beeinträchtigung des klägerischen Grundstücks auszugehen. Im Übrigen wäre selbst bei einer hypothetischen minimalen Abstandsflächenüberschreitung in einem Fall wie dem vorliegenden eine einmauernde, erdrückende oder abriegelnde Wirkung aufgrund der Gesamtumstände zu verneinen.
Auch ist das Vorhaben nicht rücksichtslos im Hinblick auf die Verkehrssituation. Zwar mag durch das Vorhaben eine gewisse Zunahme des Verkehrs einhergehen. Selbst in einem bisher locker bebauten und auch verkehrstechnisch ruhigen Bereich wie dem vorliegenden ist eine Zahl von sechs neuen Wohneinheiten und 12 zusätzlichen Stellplätzen allerdings in keinen Fall unzumutbar.
Die Klage war daher abzuweisen.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen den Klägern aufzuerlegen, da sich die Beigeladene durch Stellung eines Antrags dem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben