Baurecht

Vorteilslage im Erschließungsbeitragsrecht erst nach endgültiger technischer Fertigstellung

Aktenzeichen  6 ZB 15.2426

Datum:
30.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BayVBl – 2016, 558
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
KAG Art. 5a Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 Nr. 4, Art. 19 Abs. 2
BauGB § 125 Abs. 2, § 127 Abs. 2, § 132 Nr. 4

 

Leitsatz

1. Im Erschließungsbeitragsrecht entsteht eine Vorteilslage erst mit der endgültigen technischen Fertigstellung der Erschließungsanlage nach dem zugrunde liegenden Bauprogramm und den Satzungsbestimmungen. Nicht ausreichend ist es, dass die Erschließungsanlage zuvor schon “gebrauchsfertig” und “benutzbar” war. (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ist ausgeschlossen, wenn seit dem Entstehen der Vorteilslage durch die endgültige technische Fertigstellung der Erschließungsanlage mehr als 30 Jahre vergangen sind. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 3 K 14.1655 2015-10-01 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I.
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 1. Oktober 2015 – AN 3 K 14.1655 – wird abgelehnt.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 66.989,19 € festgesetzt.

Gründe

Der Antrag der Klägerin, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, bleibt ohne Erfolg. Denn die innerhalb der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 VwGO liegen nicht vor (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. An der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Dieser Zulassungsgrund wäre begründet, wenn vom Rechtsmittelführer ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt würde (vgl. BVerfG, B. v. 23.6.2000 – 1 BvR 830/00 – NVwZ 2000, 1163/1164; B. v. 23.3.2007 – 1 BvR 2228/02 – BayVBl 2007, 624). Das ist nicht der Fall.
Die beklagte Stadt hat die Klägerin, eine BGB-Gesellschaft, als Eigentümerin der Grundstücke FlNr. 287, 287/3, 287/2 und 287/7 mit vier Bescheiden vom 20. November 2013 zu Erschließungsbeiträgen für die erstmalige endgültige Herstellung der Rollnerstraße zwischen Schleifweg und Nordring in Höhe von insgesamt 66.989,19 € herangezogen. Die von der Klägerin gegen die Bescheide erhobenen Widersprüche wies die Regierung von Mittelfranken mit Widerspruchsbescheid vom 11. September 2014 zurück.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Aufhebung der Erschließungsbeitragsbescheide und des Widerspruchsbescheids für unbegründet erachtet und abgewiesen. Aus dem vorgelegten Bildmaterial ergebe sich eindeutig, dass der nordwestliche Gehweg im Bereich des Grundstücks FlNr. 232 bis zu seiner Herstellung im Jahr 2005 noch nicht endgültig hergestellt gewesen sei. Die Fahrbahn der Rollnerstraße sei in diesem Bereich gegenüber dem Gehweg nicht durch Randsteine, Pflasterzeilen oder ähnliche zweckdienliche Einrichtungen abgegrenzt worden, sondern lediglich optisch durch eine weiße Linie. Da es für den Eintritt der Vorteilslage im Erschließungsbeitragsrecht nicht ausreiche, dass die Straße gebrauchsfertig sei und benutzt werden könne, sondern es auf die endgültige technische Herstellung nach dem Bauprogramm und den Satzungsbestimmungen ankomme, sei die Beitragsforderung nicht verjährt. Die sachliche Beitragspflicht sei erst mit dem Beschluss des Verkehrsausschusses der Beklagten vom 16. September 2010 entstanden, mit dem festgestellt worden sei, dass die Erschließungsanlage den Anforderungen des § 125 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 1 Abs. 4 bis 7 BauGB entspreche.
Dem hält die Klägerin im Wesentlichen entgegen, dass die Rollnerstraße zwischen Schleifweg und Nordring schon im Jahr 1978 die satzungsmäßigen Merkmale der endgültigen Herstellung aufgewiesen und eine insgesamt betriebsfertige Erschließungsanlage dargestellt habe. Der Gehweg zwischen Schleifweg und Horneckerweg sei durchgängig mit einem Asphaltbelag versehen und gegenüber der Fahrbahn durch eine zweckdienliche Einrichtung, nämlich eine ununterbrochene weiße Linie optisch abgegrenzt gewesen. Die 30-jährige Ausschlussfrist nach Entstehen der Vorteilslage sei bei Erlass der Erschließungsbeitragsbescheide vom 20. November 2013 bereits abgelaufen gewesen. § 9 EBS stelle nicht auf die Notwendigkeit eines einheitlichen Belags ab. Der Straßenausbau habe nicht die erstmalige endgültige Herstellung der Erschließungsanlage bezweckt, sondern sei – kostenneutral – ausschließlich durchgeführt worden, um dem Verbrauchermarkt E. auf dem Grundstück FlNr. 139 eine neue Anbindung zu ermöglichen.
Die Einwendungen, die die Klägerin den Erwägungen des Verwaltungsgerichts entgegenhält, begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, denen in einem Berufungsverfahren weiter nachzugehen wäre.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die auf der Grundlage von Art. 5a Abs. 1 KAG in Verbindung mit §§ 127 ff. BauGB und der Erschließungsbeitragssatzung (EBS) vom 12. Juli 1989 ergangenen Erschließungsbeitragsbescheide vom 20. November 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. September 2014 rechtlich nicht zu beanstanden sind.
Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb Spiegelstrich 1 Halbs. 1 KAG in der Fassung vom 11. März 2014 (GVBl 70) ist die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig. Nach der Übergangsvorschrift des Art. 19 Abs. 2 KAG gilt für Beiträge, die – wie hier – vor dem 1. April 2014 durch nicht bestandskräftigen Bescheid festgesetzt sind, Art 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb Spiegelstrich 1 KAG mit der Maßgabe, dass die Frist einheitlich 30 Jahre beträgt. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass die Vorteilslage im Erschließungsbeitragsrecht erst mit der endgültigen technischen Fertigstellung der Erschließungsanlage nach dem zugrunde liegenden Bauprogramm und den Satzungsbestimmungen im Jahr 2005 zu laufen begann und es nicht ausreichte, dass die Straße zuvor schon „gebrauchsfertig“ und „benutzbar“ war. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 14. November 2013 (6 B 12.704 – juris Rn. 22) entschieden hat, ist die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen – ohne Rücksicht auf das Entstehen der Beitragsschuld und unbeschadet der Verjährungsregelungen – ausgeschlossen, wenn seit dem Entstehen der Vorteilslage durch die endgültige technische Fertigstellung der Erschließungsanlage mehr als 30 Jahre vergangen sind.
Die Erschließungsanlage Rollnerstraße im Abrechnungsabschnitt zwischen Schleifweg und Nordring war vor dem Jahr 2005 noch nicht endgültig technisch fertiggestellt. Die in § 9 EBS geregelten Merkmale der endgültigen Herstellung im Gehwegbereich auf Höhe des mit einem Autohaus bebauten Grundstücks FlNr. 232 waren nämlich vor 2005 noch nicht erfüllt. Nach § 9 Nr. 1 Satz 3 EBS sind Fahrbahnen und Parkflächen gegenüber den Gehwegen durch Randsteine, Pflasterzeilen oder ähnliche zweckdienliche Einrichtungen abzugrenzen. Gehwege müssen mit Plattenbelag, Asphaltbeton, Pflaster oder ähnlichen Materialien und einem Unterbau versehen sein (§ 9 Nr. 2 Satz 1 EBS). Diese Regelungen genügen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen ebenso wie dem gesetzgeberischen Ziel des § 132 Nr. 4 BauGB, den betroffenen Grundstückseigentümern die endgültige Herstellung der ihre Grundstücke erschließenden Anlage möglichst eindeutig erkennbar zu machen (vgl. BayVGH, U. v. 13.11.2012 – 6 BV 09.1555 – juris Rn. 24 m. w. N.). Aus den Fotos der Behördenakte der Beklagten (Bl. 46 bis 50) ergibt sich, dass der Gehweg auf der Westseite der Rollnerstraße zwischen Schleifweg und Horneckerweg östlich des Grundstücks FlNr. 232 vor den 2005 durchgeführten Baumaßnahmen noch nicht entsprechend der Merkmalsregelung endgültig technisch fertiggestellt war, sondern erkennbar wie ein Provisorium wirkte. Dieser Bereich war auf einer Länge von etwa 50 m nicht – wie die sonstigen Gehwege im Abrechnungsabschnitt – als Gehweg mit Hochbord und Betonplatten angelegt. Auch fehlte eine Abgrenzung von der Fahrbahn durch Randsteine, Pflasterzeilen oder ähnliche zweckdienliche Einrichtungen. Vielmehr handelte es sich um eine mit der Fahrbahn höhengleiche asphaltierte Fläche, die lediglich durch gestrichelte weiße Markierungen eine gewisse optische Abgrenzung zur Fahrbahn hin aufwies. Die Farbmarkierung stellt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht eine „ähnliche zweckdienliche Einrichtung“ im Sinn des § 9 Nr. 1 Satz 3 EBS dar, weil dies eine einem Randstein und/oder einer Pflasterzeile gleichartige bautechnische Abgrenzung voraussetzen würde. Die endgültige technische Fertigstellung dieses Gehwegbereichs und damit der Erschließungsanlage Rollnerstraße zwischen Schleifweg und Nordring erfolgte erst am 13. Dezember 2005. Die Bezeichnung dieser Maßnahme als „Umbau“ in der Beschlussvorlage zur Tagesordnung des Verkehrsausschusses vom 14. April 2005 ist unerheblich, weil es auf die objektiv vorliegenden Tatsachen ankommt. Die gesetzliche Ausschlussfrist von 30 Jahren, die erst mit Ablauf des Jahres 2005 zu laufen begann, war demnach bei Erlass der Erschließungsbeitragsbescheide vom 20. November 2013 bei weitem noch nicht abgelaufen. Ohne Belang ist es, aus welchem Anlass der Gehweg auf Höhe des Grundstücks FlNr. 232 endgültig technisch fertiggestellt wurde.
Die sachlichen Beitragspflichten wiederum entstanden erst im Jahr 2010 durch den Abwägungsbeschluss des Verkehrsausschusses der Beklagten. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil liegt der strittige Bereich der Rollnerstraße nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans. Auch die Klägerin gibt an, dass der westliche Bereich zwischen dem Schleifweg und dem Horneckerweg nicht im Geltungsbereich eines rechtsverbindlichen Bebauungsplans liege. Wenn ein Bebauungsplan nicht vorliegt, dürfen Erschließungsanlagen im Sinn des § 127 Abs. 2 BauGB nur hergestellt werden, wenn sie den in § 1 Abs. 4 bis 7 BauGB bezeichneten Anforderungen entsprechen (§ 125 Abs. 2 BauGB). Das Verwaltungsgericht hat daher zu Recht darauf abgestellt, dass die sachlichen Beitragspflichten erst mit dem Beschluss des Verkehrsausschusses der Beklagten vom 16. September 2010 entstehen konnten, mit dem festgestellt wurde, dass die Erschließungsanlage Rollnerstraße zwischen Schleifweg und Nordring (nach Abrechnungsplan SÖR/2-B/3 vom 5.5.2010) den Anforderungen des § 125 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit § 1 Abs. 4 bis 7 BauGB entspricht. Hierzu legt der Zulassungsantrag nichts dar.
2. Die Rechtssache weist aus den unter 1. genannten Gründen keine besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
3. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die Klägerin wirft mit dem Zulassungsantrag die Frage auf, ob „vom Entstehen der Vorteilslage im beitragsrechtlichen Sinne ausgegangen werden kann, wenn ein Grundstück durch eine insgesamt betriebsfertige Einrichtung, die in Teilbereichen zwar unterschiedliche, aber jeweils satzungskonforme Herstellungsmerkmale aufweist und Erschließungsfunktion besitzt, erschlossen ist“. Diese Frage ist nicht entscheidungserheblich, weil sie unterstellt, dass die Rollnerstraße im Abrechnungsabschnitt vor der endgültigen technischen Fertigstellung im Jahr 2005 „satzungskonforme“ Herstellungsmerkmale aufgewiesen habe, was – wie oben unter 1. Ausgeführt – nicht der Fall war. Abgesehen davon lässt sich die Frage, soweit sie überhaupt einer verallgemeinernden Beantwortung zugänglich ist, auf der Grundlage der Rechtsprechung ohne weiteres verneinen, weil es nicht auf den Zustand der „Betriebsfertigkeit“, sondern den der „endgültigen technischen Fertigstellung“ der Erschließungsanlage ankommt (BayVGH, U. v. 14.11.2013 – 6 B 12.704 – juris Rn. 22).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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