Baurecht

Zu der Frage, ob es sich bei festgesetzten Baugrenzen um einen Grundzug der Planung handelt

Aktenzeichen  15 ZB 18.96

Datum:
29.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9528
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 23 Abs. 1, Abs. 3
BayBO Art. 6 Abs. 9

 

Leitsatz

Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider läuft.  (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 5 K 17.568 2017-10-19 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Berufungszulassungsverfahren wird auf 7.300,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung unter Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans.
Mit Formblatt vom 23. November 2016 beantragte sie die Genehmigung für den Anbau eines Balkons auf der Nordseite und das Anbringen von Überdachungen auf der Nord- und Südseite an das Gebäude auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung K… (Baugrundstück). Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich des am 23. Dezember 2005 in Kraft gesetzten Bebauungsplans Nr. 277 „Supply Center“ der Beklagten, der südlich der B…Straße auf der betreffenden Fläche ein Sondergebiet mit der Zweckbestimmung „Einzelhandel, Dienstleistungen und Wohnen“ festsetzt. Im Bereich des Baugrundstücks sowie der westlich bzw. östlich angrenzenden Grundstücke FlNr. … und … ist parallel zur B…Straße mittels Baugrenzen ein ca. 220 m langer Bauraum ausgewiesen, wobei die nördliche Baugrenze an zwei Stellen auf einer Länge von ca. 22 m jeweils um ca. 3 m nach Süden zurückversetzt ist. Im Bereich dieser Rücksprünge ist die Zahl der Vollgeschosse zwingend auf fünf, in den übrigen Bereichen auf sechs festgesetzt. Mit undatiertem Schreiben beantragte die Klägerin für ihr Vorhaben die Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur nördlichen Baugrenze. Mit Bescheid vom 20. März 2017 lehnte die Beklagte den Bauantrag ab.
Die auf Verpflichtung zur Erteilung der Baugenehmigung und hilfsweise auf Neuverbescheidung gerichtete Klage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht Augsburg mit Urteil vom 19. Oktober 2017 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die begehrte Baugenehmigung, weil das Vorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans widerspreche. Die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von den Baugrenzen lägen nicht vor, weil hierdurch die Grundzüge der Planung berührt würden.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungsverfahren beschränkt (BayVerfGH, E.v. 14.2.2006 – Vf. 133-VI-04 – VerfGHE 59, 47/52; E.v. 23.9.2015 – Vf. 38-VI-14 – BayVBl 2016, 49 Rn. 52; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124a Rn. 54), ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Solche liegen (nur) vor, wenn der Rechtsmittelführer einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453.12 – NVwZ 2016, 1243 Rn. 16; B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587.17 – DVBl 2019, 1400 Rn. 32 m.w.N.). Dies ist hier nicht der Fall.
Ob eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommt, weil die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider läuft. Je tiefer die Befreiung in den mit der Planung gefundenen Interessenausgleich eingreift, desto eher liegt es nahe, dass das Planungskonzept in einem Maße berührt wird, das eine (Um-)Planung erforderlich macht (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – BRS 67 Nr. 83; U.v. 18.11.2010 – 4 C 10.09 – BVerwGE 138, 166 = juris Rn. 37). Eine Befreiung ist ausgeschlossen, wenn das Vorhaben in seine Umgebung Spannungen hineinträgt oder erhöht, die nur durch eine Planung zu bewältigen sind. Was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch (Um-)Planung ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden. Die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach § 2 BauGB der Gemeinde und nicht der Bauaufsichtsbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.2012 – 4 C 14.10 – BVerwGE 142, 1 = juris Rn. 22 m.w.N.). Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein (vgl. BVerwG, B.v. 29.7.2008 – 4 B 11.08 – ZfBR 2008, 797 = juris Rn. 4).
Ausgehend von diesen Grundsätzen konnte die Klägerin keine Zweifel an der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts darlegen, dass die Erteilung einer Befreiung von der festgesetzten Baugrenze für die Zwischengebäude ausscheidet, weil es sich hierbei um einen Grundzug der Planung handelt. Eine Bebauung entsprechend dem Bauantrag der Klägerin mit einem ca. 3 m außerhalb der Baugrenze liegenden Balkon an der Nordseite und über die komplette Gebäudelänge widerspricht der im Planaufstellungsverfahren deutlich gewordenen Planungskonzeption der Beklagten.
Nach der Planbegründung sollte im Bereich südlich der B…Straße zum einen mit den zwingenden Vorgaben zur Höhenentwicklung und Dachform eine einheitliche Gestaltung gesichert werden (vgl. Planbegründung S. 30). Zum anderen sollte die ursprüngliche Baustruktur der ehemaligen militärisch genutzten Gebäude mit mehreren Lagergebäuden wiederaufgenommen und die ehemals markante Gebäudestruktur baulich wieder aufgegriffen werden (vgl. Planbegründung S. 41, 72 und 76). Ursprünglich waren im Bereich des festgesetzten Sondergebiets entlang der B…Straße sowohl in der vorderen Bauzeile als auch im rückwärtigen Bereich jeweils drei ca. 60 m breite und 13 m tiefe Gebäude vorhanden, die – mit Ausnahme eines der auch heute noch bestehenden Lagergebäude – vollständig abgebrochen wurden (vgl. Planbegründung S. 42); der ca. 22 m breite Bereich zwischen den Gebäuden war unbebaut. Diese Baustruktur mit drei Hauptgebäuden entlang der B…Straße und deutlichen Zäsuren zwischen diesen Hauptgebäuden sollte durch eine entsprechende Gliederung der zugelassenen Bebauung nach außen sichtbar in Erscheinung treten. Dementsprechend wurden im Planaufstellungsverfahren an der Stelle der ursprünglichen Gebäude Bauräume für Baukörper mit einer diesen Gebäuden entsprechenden Dimensionierung ausgewiesen. Im Bereich der vormals unbebauten Zwischenbereiche wurde davon abweichend zunächst als Schutz vor den Emissionen des KfZ-Verkehrs eine ca. 14 m hohe Lärmschutzwand geplant. Im späteren Verlauf wurde diese Planung im Interesse der Klägerin geändert; an die Stelle der Lärmschutzwand wurden durch zurückversetzte Baugrenzen kleinere Verbindungsbauten zugelassen, für die zur Abgrenzung von den Hauptgebäuden anstatt einer Sechsgeschossigkeit eine lediglich fünfgeschossige Bebauung vorgegeben wurde. Diese Entwicklung zeigt, dass es der Beklagten mit den Festsetzungen der zurückversetzten Baugrenzen im Bereich der Zwischenbauten nachhaltig darum ging, zur Kennzeichnung der historischen Baustruktur eine deutlich erkennbare Gliederung der einzelnen Bauteile zu schaffen. Diese angestrebte Baustruktur wird auch dadurch unterstrichen, dass nach § 6 Abs. 4 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Stellplätze, Carports und Garagen im Sondergebiet SOEDW, die nach § 23 Abs. 5 Satz 2 BauNVO i.V.m. § 12 BauNVO und Art. 6 Abs. 9 BayBO grundsätzlich in gewissem Umfang auch außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen zulässig sind, dort nur innerhalb der dafür festgesetzten bzw. in den überbaubaren Flächen zulässig sind.
Ein Abweichen von der festgesetzten nördlichen Baugrenze auf dem Grundstück FlNr. … würde – auch wegen der Bezugswirkung für den weiteren Zwischenbereich auf dem Grundstück FlNr. … – ein weitgehendes Abrücken von dieser planerischen Konzeption bedeuten und eine Umplanung mit einer erneuten Abwägung der Interessenlagen erfordern, die im Wege eines behördlichen Einzelaktes nicht erfolgen kann.
Die Ausführungen im Zulassungsantrag geben keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Das Vorbringen der Klägerin, die Festsetzung einer zurückversetzten Baugrenze sei völlig ungeeignet, um einen Versatz der Baukörper zu erreichen, denn dazu hätte eine Baulinie festgesetzt werden müssen, trifft ersichtlich nicht zu, denn das mittlerweile auf dem Baugrundstück errichtete Gebäude weist ohne den streitgegenständlichen Balkon einen solchen Versatz auf. Die Klägerin setzt sich diesbezüglich auch nicht mit der Argumentation des Verwaltungsgerichts auseinander, es gäbe keinen Grundsatz dahingehend, dass die planerische Konzeption nur dann als Grundzug einer Planung Geltung beansprucht, wenn sie möglichst effektiv ist. Die Klägerin behauptet nur, es sei indiziert, dass es sich nicht um einen Grundzug der Planung handele, wenn zur Erreichung der Zielrichtung besser geeignete Festsetzungen – hier eine Baulinie – zur Verfügung stehen würden. Damit kann sie aber nicht in Zweifel ziehen, dass der Plangeber – so wie das Verwaltungsgericht meint – die Festsetzung von Baugrenzen für die Verwirklichung seiner planerischen Absichten als ausreichend angesehen hat, da er nicht davon ausgegangen ist, dass durch das Zurückbleiben der Bebauung hinter den Baugrenzen die gewünschte Zäsurwirkung verhindert werden würde. Nachdem diese Situation auch eingetreten ist, da der ursprüngliche Bauantrag der Klägerin den Versatz aufgegriffen hat und nicht hinter der Baugrenze zurückgeblieben ist, hätte es einer substantiierten Auseinandersetzung damit bedurft, aus welchen Gründen die Baugrenzen gleichwohl zur Verwirklichung des auch nach Ansicht der Klägerin aus der Satzung zu entnehmenden Ziels, die teilweise noch vorhandene frühere Gebäudestruktur nachzuvollziehen, völlig ungeeignet sein sollten.
Soweit die Klägerin vorträgt, der Versatz sei darüber hinaus im historischen Gebäudebestand so nicht vorhanden gewesen, sondern die Außenwände hätten sich auf einer Linie befunden, kann dies die Annahme des Verwaltungsgerichts, die festgesetzten nördlichen Baugrenzen stellten einen Grundzug der Planung dar, nicht erschüttern. Es trifft zwar zu, dass die Baugrenze sich nicht an den Außenwänden, sondern unter Erweiterung des Bauraums an der Außenkante der an den früheren Gebäuden vorhandenen Laderampen orientiert. Nachdem die Zwischengebäude im historischen Bestand aber überhaupt nicht vorhanden waren, sollen diese nach den im Bebauungsplan niedergelegten planerischen Erwägungen nunmehr hinter die Hauptgebäude zurücktreten und die Lage der Außenwände der früheren Gebäude aufnehmen. Das Planungsziel, die früher vorhandene Struktur der drei einzelnen Gebäude nachzuvollziehen, ist damit hinreichend zum Ausdruck gebracht.
Auch die von der Beklagten bereits erteilten Befreiungen von den Baugrenzen im Plangebiet und auf dem Baugrundstück stellen dieses Ergebnis nicht in Frage. Zum einen hat die Beklagte bisher nur eine Befreiung von der nördlichen Baugrenze für das Treppenhaus erteilt und die übrigen Befreiungen beziehen sich auf die südliche Gebäudeseite. Zum anderen verbleibt trotz Erteilung dieser Befreiung ein von der Planung erwünschter Rücksprung der Fassade. Damit setzt sich die Antragsbegründung nicht hinreichend auseinander.
Der Umstand, dass nur eine Befreiung für einen Balkon im 5. Obergeschoss begehrt wird, kann ebenfalls zu keiner anderen Einschätzung führen. Eine Befreiung für einen Balkon im 5. Obergeschoss hätte möglicherweise eine erhebliche Vorbild- und Folgewirkung für die darunterliegenden Geschosse. Es könnte nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin dann auch für diese Geschosse den Anbau von nach Norden offenen Balkonen oder angesichts der Lärmbelastung durch den KfZ-Verkehr auf der B…Straße sogar von geschlossenen Loggien unter Befreiung von den Festsetzungen bezüglich der Baugrenzen beantragt.
Soweit die Klägerin sich auch darauf bezieht, dass die Festsetzung der Anzahl der Vollgeschosse ungeeignet sei, um die Höhenstruktur des Altbestands exakt nachzubilden und zur Erreichung dieses Ziels die Festsetzung der absoluten Gebäudehöhe zielführender sei, wird auf den Beschluss des Senats vom 23. April 2015 (15 ZB 13.2039 – juris) verwiesen. Danach stellen die Festsetzungen zur Anzahl der Vollgeschosse zusammen mit den zurückversetzten Baugrenzen die optische Wahrnehmbarkeit der Gliederung der Baukörper sicher (vgl. BayVGH a.a.O. Rn. 16).
Da ein Anspruch auf Erteilung einer Befreiung von der festgesetzten Baugrenze ausscheidet, kommt es auf die Frage, ob die Abweichung nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB städtebaulich vertretbar wäre und ob der Klägerin ein Anspruch auf Befreiung von weiteren Festsetzungen des Bebauungsplans zusteht, nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.1.2.6 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Eyermann, VwGO, Anhang) und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag, gegen den die Beteiligten keine Einwände erhoben haben.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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