Baurecht

Zulässige Abweichung von den Regelabstandsflächen bei Baumaßnahmen im historischen Altstadtbereich

Aktenzeichen  Au 4 K 16.456

Datum:
2.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 6 Abs, 5, Abs. 6, Art. 63 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen kann gerechtfertigt sein, wenn sich die betroffenen Grundstücke in einem seit über Jahrhunderten dicht bebauten Innenstadtrevier ergeben, in dem historische Bausubstanz vorhanden ist und in dem – wenn überhaupt – nur verschwindend wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstücksgrenzen einhalten. Soll eine zeitgemäße, den Wohnungsbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden, so kommt man nicht umhin, Ausnahmen vom generalisierenden Abstandsflächenrecht zuzulassen.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Anfechtungsklage des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gegenstand des Verfahrens ist allein die vorgelegte und mit Bescheid vom 22. Februar 2016 genehmigte Planung des Vorhabens der Beigeladenen.
Nach Überzeugung der Kammer verletzt die streitgegenständliche Baugenehmigung keine drittschützenden Rechte des Klägers, die im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren.
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, 22).
Im vorliegenden Fall wurde ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO durchgeführt. In dessen Rahmen sind neben den bauplanungsrechtlichen Vorschriften die Anforderungen des Abstandsflächenrechts nur zu prüfen, soweit Abweichungen nach Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO beantragt wurden (vgl. BayVGH, U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – juris Rn. 33). Dass eine solche Abweichung ausweislich der Bauantragsunterlagen nicht explizit beantragt wurde (Bl. 2 Bauantragsmappe), kann vorliegend jedoch nicht verhindern, dass der klagende Nachbar die Genehmigung einer Abweichung von der Einhaltung der gesetzlichen Regel-Abstandsfläche schon alleine kraft ihres Regelungsgehaltes angreifen können muss (vgl. jüngst BayVGH, B.v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 29).
1. Die Überprüfung der nachbarschützenden Vorschrift des Art. 6 BayBO ergibt, dass Abstandsflächen zulasten des Klägers nicht verletzt sind, weil jedenfalls diesbezüglich die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO vorliegen. Der Kläger kann sich vorliegend insbesondere nicht auf eine Verletzung seiner Rechte durch die Gewährung einer Abweichung von Art. 6 Abs. 5 und Abs. 6 BayBO nach Art. 63 Abs. 1 BayBO berufen.
Denn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind gegeben. Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von den Anforderungen dieses Gesetzes zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlichrechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar sind. Da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann, muss es im Einzelfall besondere Gründe geben, die es rechtfertigen, dass die Anforderung zwar berücksichtigt, ihrem Zweck aber nur unvollkommen entsprochen wird. Es müssen rechtlich erhebliche Umstände vorliegen, die das Vorhaben als einen atypischen Fall erscheinen lassen und die dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (König in Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 63 Rn. 12 m. w. N.). Voraussetzung für einen atypischen Sachverhalt ist also, dass Gründe vorliegen, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23).
a) Die erforderliche Atypik für eine Abweichung als ersten Prüfungsschritt hält die Kammer im konkreten Fall für gegeben, bereits unabhängig davon, wie die systematische Einordnung der Problematik des hier in Frage kommenden Grundsatzes von Treu und Glauben in die Prüfsystematik im Rahmen der Prüfung der Abweichung vorgenommen wird (ein der Atypik vorrangiges Ausschlusskriterium für eine erfolgreiche Nachbarklage, ein nachrangiges Ausschlusskriterium oder Teil der Interessenabwägung im Rahmen der Abweichung, vgl. dazu jüngst BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn. 15-17):
aa) Die Besonderheit des Falles, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber dem Grundstück des Antragstellers rechtfertigt, ergibt sich aus der Lage der betroffenen Grundstücke in einem seit über Jahrhunderten dicht bebauten Innenstadtrevier, in dem historische Bausubstanz vorhanden ist. In diesem halten – wenn überhaupt – nur verschwindend wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstücksgrenzen ein, was der Augenschein und die vorgelegten Katasterauszüge nachweisen. Jedwede bauliche Veränderung der bestehenden Anwesen ist in solchen Lagen geeignet, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 34; BayVGH, B.v. 4.8.2011, 2 CS 11.997 – juris Rn. 23) Soll auch in diesen Bereichen eine zeitgemäße, den Wohnungsbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden, so kommt man nicht umhin, Ausnahmen vom generalisierenden Abstandsflächenrecht zuzulassen. Dies gilt auch insbesondere deshalb, weil im dicht bebauten innerstädtischen Bereich kaum ein Anwesen die Abstandsflächen wahrt (vgl. BayVGH vom 07.10.2010 Az. 2 B 09.328 – juris).
Vorliegend geht es um die Modernisierung durch Umbauten und Sanierung des bestehenden Wohn- und Geschäftshauses mit Anbau eines Treppenhauses. Die Beigeladene möchte das Gebäude, das sie nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung von ihren Eltern geerbt hat, wirtschaftlich nutzbar machen. Sie stimmte sich dabei eng mit der Unteren Denkmalschutzbehörde und dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege ab (Bl. 50, 55 ff. Verfahrensakte), welche sich mit der vorgelegten Planung einverstanden erklärten. Kernforderung des Hauptkonservators Dr. … war dabei, neben den vorgeschlagenen Auflagen für die Baugenehmigung möglichst weitere Eingriffe in die bauliche Substanz zu vermeiden (Bl. 58 Verfahrensakte). Eine Außentreppe wird dieser Forderung gerecht, da nur durch diesen ergänzenden Raum weitere Eingriffe in die Substanz verhindert werden. Ein weiterer Aspekt ist, dass durch die zu beurteilende Planung in Gestalt der Baugenehmigung eine Weiterbenutzung des noch vorhandenen Stellplatzes ermöglicht wird, wie sich aus den Antragsunterlagen und den Einlassungen der Beigeladenen und des Beklagten ergibt. Die Beigeladene plant zudem durch das Treppenhaus die Erschließung des historischen Kellergewölbes im südlichen Teil des Vorhabengrundstücks, welches eine Lage des Treppenhauses an dieser Stelle notwendig macht. In der Zusammenschau aus Lage des Grundstücks im dicht bebauten Bereich und seinem Schnitt mit dem verfügbaren Raum leitet die Kammer daher vorliegend einen atypischen Sachverhalt ab.
bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des VG Augsburg vom 4. Mai 1995 (Az.: Au 5 S 95.439). Der dort entschiedene Fall betraf hauptsächlich die Bebauung der nordwestlich des Klägergrundstücks gelegenen Grundstücke Fl.Nr. …, … und … mit einer Reihenhausanlage. Die erkennende Kammer lehnte damals die erforderliche Atypik für die nordwestlichen Grundstücke mit dem Argument ab, dass die genannten Grundstücke nicht für die beabsichtigte massive Bebauung geeignet seien. Zum Einen betrifft diese Entscheidung jedoch nicht das Grundstück der Beigeladenen bzw. die Modernisierung des dort schon seit Jahrhunderten bestehenden Gebäudes nordöstlich des Klägergrundstücks. Die Entscheidung erging zum Anderen auch nach Art. 77 Abs. 1 BayBO a. F. (Geltungszeitpunkt 1995), welcher damals von seinem Wortlaut anders gefasst war als der heutige Art. 63 BayBO. Die Entscheidung betraf ein Eilverfahren und beinhaltete nicht die weiterentwickelte Rechtsprechung in Bezug auf die Atypik sowie den Aspekt von Treu und Glauben bei eigener Überschreitung der Abstandsfläche (vgl. BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris m. w. N.). Ferner geht es im zu entscheidenden Fall auch nicht um eine massive Neubebauung mit Reihenhäusern, sondern lediglich um den Anbau eines auskragenden Treppenhauses am Bestandsgebäude auf Fl.Nr. ….
b) Die Abweichung ist auch unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlichrechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen vereinbar, Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO.
Gemessen am Schutzzweck der Abstandsvorschriften, nämlich ausreichender Belichtung und Belüftung der Gebäude sowie Brandschutz und Wohnfrieden (vgl. Dhom in Simon/Busse, BayBO, Stand Januar 2016, Art. 63 Rn. 42), führt die Erteilung einer Abweichung nicht zu für den Kläger schlechthin untragbaren Verhältnissen. Zwar wird der Zweck des Abstandsflächenrechts regelmäßig nur dann erreicht, wenn die Abstandsflächen in dem gesetzlich festgelegten Umfang eingehalten werden (hier 1 H, also 8,72 m, Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO, wobei das 16 m Privileg wegen der Wandlänge der Südseite des Grundstücks der Beigeladenen nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO nicht zur Anwendung gelangt). Mit einem Abstand von etwa 1,8 m zum auskragenden Treppenhaus findet tatsächlich eine Verschlechterung der bisherigen Situation für den Kläger statt, weil durch den Treppenhausanbau eine erhöhte Verschattung seiner nördlichen Gebäudewand zu erwarten ist. Zu berücksichtigen sind im Rahmen der Abwägung jedoch folgende Aspekte: Die betroffenen Fenster des Klägers befinden sich ohnehin auf der dunklen Nordseite seines Gebäudes. Soweit ein Lichteinfallswinkel von 45 Grad zur Waagrechten nicht eingehalten werden kann (vgl. zu dieser früheren Anforderung Art. 6 Abs. 2 Satz 3, Abs. 7 BayBO in der bis 31.8.1982 geltenden Fassung), ist dies überwiegend auf die bis auf die Nordgrenze erfolgte bauliche Ausnutzung des Grundstücks des Klägers und nur teils auf das streitige Vorhaben zurückzuführen. Ein gewisser Lichteinfall bleibt von der nordwestlichen Seite (Bezugspunkt Nordwand des Klägergebäudes) erhalten, wie der Augenschein ergeben hat. Letztlich muss dies jedoch nicht entschieden werden, da nach Art. 46 Abs. 1 Satz 2 BayBO sogar fensterlose Küchen oder Kochnischen zulässig sind, wenn eine wirksame Lüftung gewährleistet ist.
Dem Brandschutz wird dadurch Rechnung getragen, dass der angegriffene Bescheid unter Punkt 1.7. mit der Anzeige der vorgesehenen Nutzungsaufnahme des Gebäudes eine Bestätigung des Nachweiserstellers oder eines anderen Nachweisberechtigten im Sinne des Art. 62 Abs. 2 Satz 3 BayBO über die mit dem Brandschutznachweis übereinstimmende Bauausführung fordert.
Der Wohnfrieden wird dadurch gewahrt, dass der geplante Treppenhausanbau nach den Bauantragsunterlagen derart gestaltet ist, dass Einblicke in die Fenster des Klägers nicht möglich sind. Für den Kläger sind damit keine schlechthin untragbaren Verhältnisse zu befürchten.
3. Letztlich entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch der Umstand, dass der Kläger seinerseits die Abstandsflächen zum Grundstück der Beigeladenen (Fl.Nr. …) nicht einhält. Sein Gebäude, das nach den Erkenntnissen des Augenscheins und des Lageplans mindestens genauso hoch ist wie das geplante Treppenhaus, steht mit der gesamten Länge genau auf der Grundstücksgrenze zum Grundstück der Beigeladenen. In dieser Situation kann der Kläger billigerweise nicht verlangen, dass die Beigeladene auf dem Baugrundstück entsprechende Flächen freihält (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2014 – 15 B 12.2672 – NVwZ-RR 2015, 247 = juris Rn. 37 m. w. N.; VG München, B.v. 11.6.2015 – M 8 SN 15.1421 – juris Rn. 34 ff.: eine dennoch erhobene Rüge gegenüber einer „gleichgewichtigen“ Abweichung für das Neubauvorhaben verstieße gegen Treu und Glauben).
Das Bundesverwaltungsgericht (B.v. 14.10.2014 – 4 B 51.14 – juris) hat bestätigt, dass der Grundsatz von Treu und Glauben in der gesamten Rechtsordnung gilt. Eine konkrete Entscheidung zur Geltung im Abstandsflächenrecht sowie zur systematischen Einordnung hat das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis darauf, dass hier Landesrecht betroffen ist, nicht getroffen. Die herrschende obergerichtliche Rechtsprechung wendet den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB auch im Rahmen des landesrechtlichen Abstandsflächenrechts an. Dabei ist es unerheblich, ob das Gebäude des klagenden Nachbarn seinerzeit in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften errichtet worden ist oder Bestandsschutz genießt (vgl. OVG Berlin-Bbg, U.v. 11.2.2003 – 2 B 16.99 – juris; VGH SH, U.v. 15.12.1992 – 1 L 118/91 – juris; NdsOVG, B.v. 30.3.1999 – 1 M 897/99 – NVwZ-RR 1999, 716; VGH BW, U.v. 18.11.2002 – 3 S 882/02 – VBlBW 2003, 235; OVG NRW, B.v. 12.2.2010 – 7 B 1840/09 – juris; U.v. 26.6.2014 – 7 A 2057/12 – BauR 2014, 1924; ThürOVG, B.v. 5.10.1999 – 1 EO 698/99 – NVwZ-RR 2000, 869). Der Kläger kann sich demnach nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sein Gebäude bereits seit dem 18. Jahrhundert an dieser Stelle stehe.
a) Hinsichtlich der systematischen Einordnung des Grundsatzes von Treu und Glauben in das bauordnungsrechtliche Prüfprogramm lassen sich verschiedene Ansätze vertreten (hierzu BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn. 15 ff.). So könnte das Korrektiv des Grundsatzes von Treu und Glauben bereits grundsätzlich eine Berufung auf die Verletzung des Abstandsflächenrechts ausschließen, so dass es auf das Vorliegen der Voraussetzungen einer Abweichung nach Art 63 BayBO nicht weiter ankäme (so BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris; ThürOVG, B.v. 5.10.1999 – 1 EO 698/99 – NVwZ-RR 2000, 869). In diesem Fall hätte die Kammer das Vorliegen der Atypik bereits dahinstehen lassen können und allein aus diesem Grund die Klage abweisen müssen.
b) Als zweite Variante wäre eine Prüfung des Korrektivs des Grundsatzes von Treu und Glauben als Ausschlusskriterium nach Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen einer Abweichung denkbar (BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn. 16). Da die Kammer die nötige Atypik als gegeben erachtet (s.o.), wäre eine Prüfung der nachbarlichen Belange in diesem Fall nicht mehr in Frage gekommen.
c) Als dritte Variante käme in Betracht, die bei Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Abstandsflächenrecht vorauszusetzende wechselseitige Verletzung der Abstandsflächen im Rahmen der nach Art. 63 BayBO zu treffenden Interessenabwägung einfließen zu lassen (BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn. 16). Nach dieser Lösungsvariante ist zu berücksichtigen, dass der Anteil des seitens des Klägers auf das Baugrundstück entfallenden Abstandsfläche größer als die vom Baugrundstück fallende Abstandsfläche des auskragenden Treppenhauses ist, weil sein Gebäude unmittelbar an der Grenze steht, das geplante Treppenhaus jedoch noch einen Mindestabstand von etwa 1,8 m aufweist. Es handelt sich damit um eine mindestens gleichgewichtige Verletzung bezüglich des Umfangs des Abstandsflächenverstoßes seitens des Klägers, welche nach Treu und Glauben die Berufung auf einen Abstandsflächenverstoß der Beigeladenen ausschließt.
Insoweit bestätigt sich (auch in dieser dritten Variante) das vorgefundene Abwägungsergebnis im Rahmen der Prüfung der nachbarlichen Belange mit dem Schutzzweck der jeweiligen Anforderungen.
Damit war nach allen denkbaren Varianten eine Verletzung des Klägers in eigenen Rechten durch die Gewähr einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO von Art. 6 Abs. 5 und 6 BayBO ausgeschlossen.
4. Das Vorhaben fügt sich auch nach der Art seiner Nutzung nach unbestritten gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die maßgebliche nähere Umgebung ein, wie der Augenschein ergeben hat. Es ist insbesondere nicht rücksichtslos.
Bei Wohnbauvorhaben ist eine Verletzung des in § 34 BauGB enthaltenen Rücksichtnahmegebots ausgeschlossen, wenn sich das Vorhaben nach seiner Art oder seinem Maß der baulichen Nutzung, nach seiner Bauweise oder nach seiner überbauten Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – BayVBl 1999, 568 = juris Ls 2 und Rn. 6, zweigeschossiges Sechsfamilienhaus neben Flachdachbungalow). Ob das Rücksichtnahmegebot verletzt ist, hängt nicht davon ab, ob die landesrechtlichen Abstandsflächen eingehalten sind (BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – a. a. O. Ls 1 und Rn. 3). Maßgeblich erscheint hier allein die Frage, ob durch das Bauvorhaben eine „erdrückende Wirkung“ gegenüber der nördlichen Gebäudewand des Klägers erzeugt wird. Die zu der Problematik einer „erdrückenden Wirkung“ veröffentlichte Rechtsprechung (Überblick bei Troidl, BauR 2008, 1829) macht deutlich, dass die Situation auf dem Grundstück des Klägers noch nicht durch jene Unzumutbarkeit geprägt ist, die im Einzelfall eine solche Annahme gerechtfertigt hat. Die Hauptkriterien für die Beurteilung einer „erdrückenden Wirkung“ sind die Höhe des Vorhabens, seine Länge und die Distanz, hilfsweise das Erscheinungsbild des Vorhabens (vgl. Troidl, BauR 2008, 1829 (1843)). Nach herkömmlicher Rechtsprechung hat eine bauliche Anlage erdrückende Wirkung zudem nur dann, wenn sie wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, in dem sie diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die Größe der „erdrückenden“ Anlage aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls – und ggf. trotz Wahrung der erforderlichen Abstandsflächen – derart übermächtig ist, dass das – erdrückte – Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden“ Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird (vgl. BayVGH, B.v. 6.10.2015 – 2 NE 15.1612; OVG NW, B.v. 10.1.2013 – 2 B 1216/12. NE juris Rn. 21). Für die Annahme einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist aber grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (BayVGH, B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9).
Gerade an letzterem scheitert vorliegend eine Verletzung des Gebotes der Rücksichtnahme, da die Höhe des Treppenhauses mit 8,72 m jedenfalls nicht die Größe des Gebäudes auf dem Grundstück des Klägers überschreitet. Zudem ist die Treppe selbst lediglich 2,74 m breit und riegelt die Nordwand damit nicht vollkommen ab.
Vorliegend kann somit in der Zusammenschau von keiner Verletzung des Gebotes der Rücksichtnahme ausgegangen werden.
5. Nach allem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Kosten der Beigeladenen waren hiervon wegen §§ 154 Abs. 3 Halbsatz 1, 162 Abs. 3 VwGO auszunehmen, da sie mangels Antragstellung auch kein Risiko eigener Kostentragungspflicht übernommen hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 20. Auflage 2014, § 162 Rn. 23).
6. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg, Hausanschrift: Kornhausgasse 4, 86152 Augsburg, oder Postfachanschrift: Postfach 11 23 43, 86048 Augsburg, schriftlich zu beantragen.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstr. 23, 80539 München, oder Postfachanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München, Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4. das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind die in § 67 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch die in § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO genannten Personen vertreten lassen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs.


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