Europarecht

Ablauf der Überstellungsfrist – Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens

Aktenzeichen  M 24 K 15.50836

Datum:
16.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 17 Abs. 1, Art. 29
AsylVfG AsylVfG § 27a, § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 7

 

Leitsatz

1 Da die Überstellungsfrist nach der Dublin-III-Verordnung der Vorbereitung und Durchführung der Rückführung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dient und diesem hierfür ein zusammenhängender Zeitraum von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll, ist für den Beginn der Frist maßgeblich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe eines die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ablehnenden Beschlusses gegenüber dem Bundesamt abzustellen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Antrag auf Abänderung des die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ablehnenden Beschlusses (§ 80 Abs. 7 VwGO) führt nicht zu einer weiteren Unterbrechung der Überstellungsfrist, da dieser nicht die Wirkungen des § 34a Abs. 2 AsylG auslöst, so dass eine ablehnende Entscheidung des Gerichts die Überstellungsfrist nicht erneut in Lauf setzt (BVerwG BeckRS 2016, 46151). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine Verlängerung der Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO setzt eine Beteiligung des Mitgliedstaates, in den der Betroffene überstellt werden soll, voraus. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 24. September 2015 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
1. Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil alle Beteiligten klar, eindeutig und vorbehaltlos (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2013 – 8 B 91/12 – juris Rn. 3) auf mündliche Verhandlung verzichtet haben. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 1. März 2016 und die Beklagtenpartei mit genereller (auch den vorliegenden Rechtsstreit umfassender) Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Regierung von Oberbayern ist vorliegend zwar gemäß § 63 Nr. 4 VwGO als Vertreter des öffentlichen Interesses (VöI) Verfahrensbeteiligter aufgrund der generellen Beteiligungserklärungen vom 11. Mai 2015 und vom 18. Mai 2015 (vgl. zur Zulässigkeit sog. Generalbeteiligungserklärungen BVerwG, U.v. 27.6.1995 – 9 C 7/95 – BVerwGE 99, 38, juris Rn. 11). In diesen Erklärungen hat der VöI allerdings darum gebeten, ihm ausschließlich die jeweilige Letzt- und Endentscheidung zu übersenden und damit unter anderem auch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Dabei bedurfte es weder einer gesonderten Anordnung des schriftlichen Verfahrens durch einen gerichtlichen Beschluss (BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 57/13 – Rn. 20, NVwZ-RR 2014-657) noch vor der Entscheidung im schriftlichen Verfahren der Bestimmung einer Schriftsatzfrist (BVerwG, B.v. 10.10.2013 – 1 B 15/13 – Rn. 5, Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 72, juris).
2. Die Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig. Sie wurde insbesondere fristgerecht erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG).
3. Die Klage ist auch begründet, da sich der streitgegenständliche Bescheid im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) als rechtswidrig erweist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3.1. Die Rechtsgrundlage für den Bescheid sind § 29 Abs. 1 Nr. 1 und § 34a Abs. 1 AsylG (n.F.). Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in diesen zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen diese Voraussetzungen jedoch nicht mehr vor, da die Beklagte nach den Regeln der Dublin-III-VO wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden ist.
3.2. Gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO hat die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten zu erfolgen.
3.2.1. Die Frist beginnt mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gem. Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat (Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO).
Im vorliegenden Fall hat das BAMF auf Grund einer EURODAC-Treffermeldung vom … Juli 2015 innerhalb der gem. Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin-III-VO einschlägigen Frist von zwei Monaten am … August 2015 ein Wiederaufnahmegesuch an Bulgarien gerichtet. Die zuständige bulgarische Behörde stimmte am … September 2015, d.h. binnen der 2-wöchigen Antwortfrist (Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO), der Wiederaufnahme des Klägers zu.
Der Lauf der Frist wurde durch den Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 VwGO) jedoch unterbrochen und mit Ablehnung des Antrags durch gerichtlichen Beschluss neu in Lauf gesetzt, da der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Abschiebungsanordnung wegen § 34 a Abs. 2 AsylG aufschiebende Wirkung entfaltet (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15/15 – juris Rn. 11 f. und Leitsatz). Die Überstellungsfrist begann daher mit Bekanntgabe des ablehnenden gerichtlichen Beschlusses im Verfahren M 24 S. 15. 50837 neu zu laufen. Da die Überstellungsfrist der Vorbereitung und Durchführung der Rückführung durch das BAMF dient und dem BAMF hierfür ein zusammenhängender Zeitraum von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll, ist für den Beginn der Frist maßgeblich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe gegenüber dem BAMF am … Februar 2016 abzustellen, die frühere Bekanntgabe an der Kläger bleibt insoweit außer Betracht.
Der Antrag auf Abänderung des die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ablehnenden Beschlusses (§ 80 Abs. 7 VwGO – Verfahren M 24 S7 16. 50203) führte nicht zu einer weiteren Unterbrechung der Überstellungsfrist, da dieser nicht die Wirkungen des § 34 a Abs. 2 AsylG auslöst, so dass die hierzu ergangene ablehnende Entscheidung des Gerichts auch die Überstellungsfrist nicht (erneut) neu in Lauf gesetzt hat (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 18).
Es bleibt daher für den Beginn der Frist der o.g. Zeitpunkt der Bekanntgabe des ablehnenden Beschlusses im Verfahren M 24 S. 15.50837 maßgeblich. Die Überstellungsfrist endete demnach am 29. August 2016 (Art. 42 Dublin-III-VO). Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist daher gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen.
3.2.2. Die Beklagte kann sich nicht auf eine Verlängerung der Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO berufen.
Voraussetzung für eine Verlängerung der Überstellungsfrist ist auf der Tatbestandsseite, dass die Überstellung wegen oder Flucht Inhaftierung des Betroffenen nicht erfolgen konnte. Im vorliegenden Fall ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger flüchtig, d.h. unbekannten Aufenthalts ist oder ob er sich lediglich am Überstellungstag nicht in seiner Wohnung aufgehalten hat. Das BAMF hat insoweit lediglich festgestellt, dass er am Überstellungstag in seiner Wohnung nicht angetroffen wurde, nicht etwa, dass er untergetaucht sei.
Abgesehen davon ist auf der Rechtsfolgenseite aufgrund des Wortlauts („kann verlängert werden“) zu sehen, dass sich die Frist nicht „von selbst“ verlängert. Vielmehr ist eine Beteiligung des Mitgliedstaates, in den der Betroffene überstellt werden soll, erforderlich. Ob insoweit im Hinblick auf Art. 9 Abs. 2 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 (Dublin-III-DVO) die bloße Unterrichtung des Mitgliedstaates ausreicht (so Filzwieser/Sprung, Dublin-III-Verordnung, Stand 1.2.2014, Art. 29 K13) oder ob es mit Blick auf Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO einer ausdrücklichen (so Funke-Kaiser in GK-Asyl, Stand Nov. 2013, § 27a AsylG, Rn. 232) oder stillschweigenden (so Hailbronner, AuslR, Stand März 2015, § 27a AsylG Rn. 51) Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten bedarf, ist umstritten, kann aber im vorliegenden Fall offen bleiben. Denn es ist nicht ersichtlich, dass das BAMF die zuständige bulgarische Behörde auch nur von der beabsichtigten Fristverlängerung unterrichtet hätte. Das BAMF hat auf entsprechenden richterlichen Hinweis geeignete Unterlagen nicht vorgelegt. Zwar heißt es im Schriftsatz des BAMF vom … Oktober 2016, es würde in der Anlage auch eine Mitteilung an den Mitgliedsstaat übersandt, doch war eine solche dem Schriftsatz nicht beigefügt.
Damit ist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen (s. auch BayVGH, B.v. 15.4.2015 – 13a ZB 15.50066 – juris Rn. 4). Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht (mehr) vor. Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig wegen Unzuständigkeit der Beklagten (Ziffer 1 des Bescheids) sowie die darauf gestützte Abschiebungsanordnung (Ziffer 2 des Bescheids) sind rechtswidrig.
Wegen des Zuständigkeitsübergangs auf die Beklagte durch Ablauf der Überstellungsfrist kommt es auf die Frage, ob einer Rückführung nach Bulgarien systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen entgegenstehen (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO), nicht an. Auch ist nicht entscheidungserheblich, ob sich aus dem neuen Vortrag des Klägers, seine Ehefrau, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, wünsche die Durchführung des Asylverfahren in Deutschland, eine Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung des Asylverfahrens ergibt.
3.3. Der Kläger ist durch den streitgegenständlichen Bescheid auch in seinen Rechten i.S.v. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Die subjektive Rechtsverletzung des Klägers ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO bzw. Art. 16a Abs. 1 GG. Der Kläger hat nach den Grundstrukturen des gemeinsamen Europäischen Asylsystems jedenfalls einen Anspruch auf die Durchführung eines Asylverfahrens und die Prüfung seines Asylbegehrens in zumindest einem Mitgliedstaat. Dieser Anspruch wird vereitelt, wenn eine Überstellung in den ursprünglich für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat nicht erfolgt und nach Ablauf der Überstellungsfrist auch nicht mehr erfolgen kann und die nunmehr zuständige Beklagte weiterhin von der Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgeht (vgl. VGH BW, U.v. 29.4.2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 42; OVG NRW, U.v. 4.2.2016 – 13 A 59/15. A – juris Rn. 64 ff.). In diesem Sinne hat auch das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass sich der Schutzsuchende im gerichtlichen Verfahren gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr.1 AsylG jedenfalls dann auf die Zuständigkeit des nach den einschlägigen Dublin-Bestimmungen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedsstaates berufen kann, wenn die (Wieder-) Aufnahmebereitschaft eines anderen (unzuständigen) Mitgliedstaates nicht positiv feststeht (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20). Anhaltspunkte für eine positive Feststellung im Hinblick auf die Aufnahmebereitschaft Bulgariens sind im vorliegenden Fall weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Der rechtswidrige Bescheid war daher aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83 b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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