Europarecht

Abschiebung in sicheren Drittstaat

Aktenzeichen  M 25 S 16.50330

Datum:
27.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a
EGMR Art. 4

 

Leitsatz

1 Eine Pflicht deutscher Behörden zur Prüfung eines Asylantrages trotz der grundsätzlichen Zuständigkeit eines Drittstaats kommt nur in Betracht, soweit ein von vornherein außerhalb der Reichweite des Konzepts der normativen Vergewisserung liegender Sachverhalt gegeben ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Dies ist der Fall, wenn sich die maßgeblichen Verhältnisse im Abschiebezielstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung darauf noch aussteht, oder wenn der Aufnahmestaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung zu greifen droht und dadurch zum Verfolgerstaat wird. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3 Einer Abschiebung nach Finnland stehen keine systemischen Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.Die Anträge werden abgelehnt.
II.Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragsteller, ein ukrainisches Elternpaar mit zweijährigem Sohn, begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen ihre drohende Überstellung nach Finnland im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Die Antragsteller reisten nach ihren Angaben auf dem Landweg aus Polen kommend am 7. März 2016 ins Bundesgebiet ein und beantragten am 20. April 2016 Asyl.
Bei ihrer Erstbefragung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 26. April 2016 gaben die Antragsteller zu 1) und 2) jeweils an, ein finnisches Visum vom 25. Februar 2016 mit einmonatiger Gültigkeit zu besitzen (Bl. 7). Bei ihrer Zweitbefragung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gab der Antragsteller zu 1) an, die Prüfung seines Asylantrags in keinem anderen Dublin-Staat zu wollen, weil sein Cousin vor einem Jahr Asyl in Deutschland beantragt habe und sich in Deutschland aufhalte. Außerdem habe er eine Zusage für eine Stelle in der Nähe von … (Bl. 56). Die Antragstellerin zu 2) gab bei ihrer Zweitbefragung am selben Tag an, die Überprüfung ihres Asylantrags durch keinen anderen Dublin-Staat zu wollen, weil sie in Deutschland bleiben wolle und ihr Ehemann Verwandte habe, die ebenfalls ein Asylverfahren in Deutschland betrieben (Bl. 59).
Am 2. und 3. Mai 2016 richtete die Antragsgegnerin Übernahmeersuchen für die Antragsteller an Finnland, die mit Schreiben vom 3. Mai 2016 auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO akzeptiert wurden.
Mit Bescheid vom 18. Mai 2016, am 19. Mai 2016 gemäß § 4 Abs. 2 VwZG als Einschreiben zur Post gegeben, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anträge als unzulässig ab (Nr. 1) und ordnete die Abschiebung nach Finnland an (Nr. 2). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Ausreise befristet (Nr. 3). Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 22. Mai 2016, bei Gericht am 24. Mai 2016 eingegangen, legte die Antragsgegnerin eine unleserliche Behördenakte vor.
Mit Schriftsatz vom 27. Mai 2016, bei Gericht am selben Tag per Fax eingegangen, ließen die Antragsteller Klage gegen den Bescheid erheben (M 25 K 16.50329) und zugleich beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Mit Schriftsatz vom 10. Juni 2016, bei Gericht am 13. Juni 2016 eingegangen, begründete der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller Klage und Eilantrag damit, dass der Abschiebung ein tatsächliches Hindernis entgegenstehe: Der Antragsteller zu 3) sei erst zwei Jahre alt und ein erneuter Umgebungswechsel nach Finnland würde sich äußerst belastend auf ihn auswirken. Er leide am posttraumatischen Syndrom und an Angstzuständen. Der Antragsteller zu 3) sei an einen Kinderpsychiater überwiesen worden, bei dem erst am 7. Juli 2016 eine Untersuchung möglich sei. Der Prozessbevollmächtigte legte einen Überweisungsschein eines Allgemeinmediziners für den Antragsteller zu 3) vom 27. Mai 2016 an einen Kinderpsychiater wegen Verdachts auf posttraumatisches Syndrom, Angst und Schlafstörung seit Januar 2016 vor.
Mit Schreiben vom 21. Juni 2016, bei Gericht am 23. Juni 2016 eingegangen, legte die Beklagte eine lesbare Behördenakte vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf den Inhalt der Gerichtsakten, auch des Klageverfahrens, und die vorgelegte Behördenakte.
II.
Die zulässigen Anträge haben keinen Erfolg, weil sie unbegründet sind.
Die gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragsteller aus. Es bestehen keine durchgreifenden Bedenken an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids.
1. Finnland ist für die Durchführung der Asylverfahren der Antragsteller zuständig und der Asylantrag in Deutschland damit unzulässig (§ 27a AsylG). Dies ergibt sich aus Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 Dublin III-VO.
1.1. Die Antragsteller besaßen nach dem Ergebnis der VIS-Abfrage (Bl. 48) und nach ihren Angaben ein von der finnischen Botschaft in Kiew am 22. Dezember 2015 ausgestelltes Visum mit einmonatiger Gültigkeit, das bis zum 25. März 2016 und damit im Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland am 20. April 2016 seit weniger als sechs Monaten abgelaufen war. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten in der Zwischenzeit verlassen hätten, liegen nicht vor. Ob die Antragsteller das Visum bei ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten tatsächlich benutzt haben, ist für die Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO nicht erheblich. Die finnischen Behörden haben auf die nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO fristgerechte Übernahmeersuchen des Bundesamts ihr Einverständnis mit der Rückübernahme der Antragsteller erklärt.
1.2. Es besteht auch keine Verpflichtung der Antragsgegnerin, ausnahmsweise aus anderen Gründen die Asylanträge der Antragsteller trotz der Zuständigkeit Finnlands inhaltlich selbst zu prüfen.
1.2.1. Von Verfassungswegen kommt eine Prüfungspflicht der Antragsgegnerin nur in Betracht, soweit ein von vornherein außerhalb der Reichweite des Konzepts der normativen Vergewisserung liegender Sachverhalt gegeben ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93) ist dies – bezogen auf die Verhältnisse im Abschiebezielstaat – etwa dann der Fall, wenn sich die für die Qualifizierung des Drittstaates als sicher maßgeblichen Verhältnisse schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung darauf noch aussteht, oder wenn der Aufnahmestaat selbst gegen den schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung zu greifen droht und dadurch zum Verfolgerstaat wird. An die Darlegung eines solchen Sonderfalls sind hohe Anforderungen zu stellen.
Hinsichtlich der Situation in Finnland wurde hierzu nichts vorgetragen, und es ist auch nicht ersichtlich, dass ein von vornherein außerhalb der Reichweite des Konzepts der normativen Vergewisserung liegender Sachverhalt vorliegend gegeben ist.
Eine Prüfungspflicht der Antragsgegnerin von Verfassungswegen scheidet somit aus.
1.2.2. Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 21.12.2011 – C 411/10 und C-493/10) ist Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtscharta) dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.“
Auch hierfür haben die Antragsteller in Bezug auf Finnland nichts vorgetragen, und es ist auch nicht ersichtlich, dass das Asylverfahren in Finnland an systemischen Mängeln leidet oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber dort ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellten, dass die Asylbewerber dort tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
2. Die Abschiebungsanordnung beruht auf § 34a AsylG und ist rechtmäßig. Die Abschiebung nach Finnland kann durchgeführt werden.
2.1. Einer Abschiebung nach Finnland stehen keine systemischen Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegen.
2.2. Auch inlandsbezogene Abschiebungsverbote liegen nicht vor. Zwar ist eine Abschiebungsanordnung dann ausgeschlossen, wenn inlandsbezogene Abschiebungshindernisse – wie sie in § 60a Abs. 2 AufenthG niedergelegt sind – vorliegen (BayVGH, B.v. 28.10.2013 – 10 CE 13.2257 – juris Rn. 4, B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris Rn. 7). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall.
Es wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (§ 60a Abs. 2c AufenthG). Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.
Der vorgelegte Überweisungsschein vom 27. Mai 2016 genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 60a Absatz 2c Satz 2, Satz 3 AufenthG. Denn die geforderte qualifizierte ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60a Abs. 2c AufenthG). Dies ist nicht geschehen.
Aus dem Umstand, dass es sich um eine Soll-Vorschrift handelt, folgt vorliegend nicht, dass sie nicht anwendbar wäre. Denn Umstände, die einen Ausnahmefall begründen, sind nicht geltend gemacht.
Dass trotz einer Überweisung vom 27. Mai 2016 eine kinderpsychiatrische Untersuchung des Antragstellers zu 3) erst am 7. Juli 2016 möglich sein soll, begründet keinen Ausnahmefall. Denn ausweislich des Überweisungsscheins leidet der Antragsteller zu 3) unter den vorgetragenen Symptomen bereits seit Januar 2016. In der Zwischenzeit hätte also Gelegenheit bestanden, eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung zu besorgen. Hilfsweise hätte es den Antragstellerin zu 1) und 2) oblegen, sich um einen früheren Termin für den Antragsteller zu 3) zu kümmern. Dass und wie sie dies erfolglos versucht hätten, ist bereits nicht dargetan.
Anhaltspunkte für eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung einer unterstellten Erkrankung des Antragstellers zu 3) durch die Überstellung nach Finnland sind nicht ersichtlich.
Ohne dass es für die Entscheidung darauf ankommt, merkt das Gericht an, dass weder Vater noch Mutter des Antragstellers zu 3) in ihren Anhörungen auf die nunmehr vorgetragene Erkrankung des Antragstellers zu 3) mit einem Wort eingegangen sind, obwohl die Symptome laut Überweisungsschein bereits seit Januar 2016 bestehen sollen. Der Überweisungsschein datiert vom 27. Mai 2016, mithin dem Tag, an dem die Antragsteller Klage erhoben und Eilantrag gestellt haben.
Die Abschiebungsanordnung begegnet mithin keinen rechtlichen Bedenken.
3. Dies gilt auch für das auf § 11 Abs. 2, 3 AufenthG gestützte sechsmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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