Europarecht

Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug

Aktenzeichen  10 ZB 16.1225

Datum:
18.8.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 50743
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1, § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 27, § 29, § 30 Abs. 1, Abs. 3, § 81 Abs. 4 S. 1
ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, Art. 7 S. 1, Art. 13

 

Leitsatz

Ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht aus Art. 7 S. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 besteht nicht, wenn die Voraussetzungen eines mindestens 3-jährigen ordnungsgemäßen Aufenthalts nicht erfüllt sind; daran fehlt es, wenn der Aufenthaltstitel wegen Gültigkeitsablaufs lediglich als fortbestehend gilt. Eine solche vorläufige Position reicht jedenfalls so lange nicht aus, wie nicht endgültig feststeht, dass dem Betroffenen während des fraglichen Zeitraums das Aufenthaltsrecht aus materiellen Gründen zustand. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

24 K 15.5642 2016-04-14 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung gewährt.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
IV.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem die Klägerin ihre in erster Instanz erfolglose Verpflichtungsklage auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis weiterverfolgt, ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig. Die Klägerin hat zwar die Frist für die Begründung ihres Zulassungsantrags vom 19. Juni 2016 nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO versäumt, weil bis zum Ablauf der Frist am 18. Juli 2016 beim Verwaltungsgerichtshof eine Begründung nicht eingegangen ist. Der Klägerin ist insoweit jedoch auf ihren rechtzeitigen Antrag vom 3. August 2016 hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, weil die Versäumung der Begründungsfrist durch ihre Bevollmächtigte (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO) unverschuldet erfolgte. Denn die Klägerin hat mit dem Wiedereinsetzungsantrag unter anwaltlicher Versicherung ihrer Prozessbevollmächtigten und Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung des Rechtsanwalts T. K., mit dem sich ihre Prozessbevollmächtigte in Bürogemeinschaft befindet, dargelegt und glaubhaft gemacht, dass der korrekt adressierte und frankierte Umschlag mit dem am Freitag, 24. Juni 2016, fertig gestellten Zulassungsbegründungsschriftsatz von der Prozessbevollmächtigten am selben Tag in das dafür vorgesehene Postausgangsfach (Tagespost) der Kanzlei gelegt und die darin befindliche Kanzleipost mit der an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gerichteten Rechtsmittelbegründungsschrift am Abend dieses Tages durch Rechtsanwalt T. K. in den auf dessen Heimweg befindlichen Postbriefkasten eingeworfen worden ist. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin durfte davon ausgehen, dass der Zulassungsbegründungsschriftsatz auch rechtzeitig beim Verwaltungsgerichtshof eingeht; Mängel der postalischen Beförderung bzw. ein Verlust auf dem Postweg sind unter den vorliegenden Voraussetzungen einem Beteiligten nicht zuzurechnen (vgl. z. B. BayVGH, B. v. 22.5.2014 – 3 ZB 14.284 – juris Rn. 3 m. w. N.).
2. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist jedoch unbegründet. Weder ergeben sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (2.1.) noch ist die Berufung wegen der behaupteten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen (2.2.).
2.1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerin im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B. v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
2.1.1. Das Verwaltungsgericht hat ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht der Klägerin aus Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 verneint, weil die Voraussetzung eines mindestens 3-jährigen ordnungsgemäßen Wohnsitzes im Bundesgebiet nicht vollständig erfüllt sei. Die Klägerin sei am 29. Januar 2011 ordnungsgemäß mit einem Visum zum Familiennachzug zu ihrem Ehemann, der jedenfalls damals dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehört hat, eingereist und habe sich mit einer zuletzt bis 19. Januar 2014 gültigen Aufenthaltserlaubnis hier aufgehalten. Ab dem 20. Januar 2014 habe ihr Aufenthaltstitel bis zur (ablehnenden) Entscheidung der Ausländerbehörde lediglich als fortbestehend gegolten. Eine lediglich vorläufige aufenthaltsrechtliche Position – etwa in Form einer Erlaubnisfiktion – vermittle aber keinen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Assoziationsratsbeschlusses; vielmehr müsse die betreffende Person dafür im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sein. Für allgemeine Billigkeitserwägungen bestehe im Rahmen des Art. 7 ARB 1/80 kein Raum, weshalb unerheblich sei, dass im Fall der Klägerin nur wenige Tage bis zum Erreichen des 3-Jahres-Zeitraums fehlten.
Dagegen wendet die Klägerin ein, sie könne sich aufgrund der in Art. 13 ARB 1/80 enthaltenen Stillhalteklausel, die die Einführung neuer Beschränkungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen verbiete, auf § 21 Abs. 3 AuslG 1965 berufen. Die darin geregelte Fiktionswirkung habe unter anderem dann einen rechtmäßigen Aufenthalt begründet, wenn die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet bzw. wiederhergestellt worden sei. Letzteres habe im Fall der Klägerin zu geschehen, weshalb sie sich auf einen rechtmäßigen Aufenthalt über den 19. Januar 2014 hinaus berufen könne.
Damit werden jedoch keine Umstände aufgezeigt, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils begründen könnten. Denn die Klägerin verkennt, dass gemäß § 21 Abs. 3 Satz 1 und 3 AuslG 1965, der im Übrigen der aktuellen Regelung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG entspricht, weshalb schon keine neue Beschränkung im Sinne des Verschlechterungsverbots des Art. 13 ARB 1/80 (vgl. dazu BVerwG, U. v. 6.11.2014 – 1 C 4.14 – juris Rn. 17 m. Rspr-nachweisen) vorliegt, der Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde (nur) vorläufig als erlaubt und damit rechtmäßig gilt. Eine solche vorläufige Position infolge dieser Fiktionswirkung reicht jedoch nach zutreffender Auffassung des Verwaltungsgerichts jedenfalls so lange nicht aus, um das Erfordernis der Ordnungsgemäßheit des Wohnsitzes im Sinne von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu erfüllen, wie nicht endgültig feststeht, dass dem Betroffenen während des fraglichen Zeitraums das Aufenthaltsrecht von Rechts wegen aus materiellen Gründen zustand (vgl. BVerwG, U. v. 14.5.2013 – 1 C 16.12 – juris Rn. 18 zur ordnungsgemäßen Beschäftigung i. S. d. Art. 6 ARB 1/80). Die in ständiger Rechtsprechung zur Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 entwickelten Grundsätze, wonach eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt und damit ein unbestrittenes Aufenthaltsrecht vorausgesetzt wird, so dass Fiktionszeiten nicht ausreichen (vgl. z. B. BVerwG, U. v. 14.5.2013 – 1 C 16.12 – juris Rn. 18; BayVGH, B. v. 4.3.2015 – 10 ZB 15.124 – juris Rn. 8 jeweils m. w. N.), sind auch im Rahmen des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 heranzuziehen, weil der Begriff der „Ordnungsgemäßheit“ des Wohnsitzes insoweit dem der „Ordnungsgemäßheit“ der Beschäftigung in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 entspricht (vgl. Kurzidem in Beck’scher Online-Kommentar, Ausländerrecht, Stand: 1.2.2016, EWG-Türkei Art. 7 Rn. 13; zur einheitlichen Auslegung der in den einzelnen Vorschriften des Beschlusses Nr. 1/80 verwendeten unionsrechtlichen Begriffe und des Kriteriums des ordnungsgemäßen Wohnsitzes vgl. EuGH, U. v. 16.6.2011 – C-484/07, Pehlivan – juris Rn. 44; zum Erfordernis des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 11. Aufl. 2016, ARB 1/80 Art. 7 Rn. 37 und EuGH, U. v. 17.4.1997 – C-351/95, Kadiman – juris Rn. 52 f.).
2.1.2. Einen materiellen Rechtsanspruch der Klägerin auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug aus § 30 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 27, 29 AufenthG hat das Verwaltungsgericht verneint, weil es schon an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG fehle. Die Annahme der Lebensunterhaltssicherung im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG setze die hinreichend sichere Prognose voraus, dass sich der voraussichtliche Unterhaltsbedarf künftig auf Dauer mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln bestreiten lasse. Dies sei bei der Klägerin und ihrem Ehemann jedoch nicht der Fall. Diese hätten seit Juni 2013 Sozialleistungen bezogen. Das Einkommen der durch den Ehemann der Klägerin ab Januar 2016 neu aufgenommenen Erwerbstätigkeit (in Höhe von 824,02 Euro) reiche zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus. Aussicht auf eine dauerhafte Einkommenssteigerung, die den Mindestbedarf decke, bestehe schon deshalb nicht, weil der Ehemann der Klägerin nach eigenem Vorbringen seinen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente weiterverfolge und außerdem zu 100% schwerbehindert sei.
Insoweit rügt die Klägerin, § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sei im konkreten Fall unanwendbar, weil diese Regelung gegen die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 verstoße. Denn nach dem AuslG 1965 sei die Sicherung des Lebensunterhalts noch nicht Regelvoraussetzung für die Verlängerung eines Aufenthaltstitels gewesen. Lediglich in § 10 Abs. 1 Nr. 10 AuslG 1965 sei geregelt gewesen, dass ein Ausländer ausgewiesen werden könne, wenn er den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfe bestreiten könne; dabei habe es sich aber um eine Ermessensvorschrift und nicht wie nunmehr um eine Regelvoraussetzung gehandelt.
Auch diese Rüge greift jedoch nicht. Denn nach § 2 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1965 musste die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn die weitere Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigte (Negativschranke). Zur Konkretisierung der Negativschranke des § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 konnte unter anderem auf die Maßstäbe des die Ausweisung regelnden § 10 Abs. 1 AuslG 1965 zurückgegriffen werden (vgl. BVerwG, U. v. 24.6.1982 – 1 C 136.80 – juris Nr. 1. der Gründe). Ergab die anzustellende zukunftsbezogene Beurteilung (Prognose), dass der Ausländer künftig auf Sozialhilfe angewiesen ist, kam grundsätzlich die Negativschranke zum Tragen, wobei bei ihrer Anwendung die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie die Grundrechte gewahrt bleiben mussten (BVerwG, U. v. 24.6.1982 a. a. O.). Die durch die Klägerin insofern behauptete Verschlechterung der Rechtsposition assoziationsberechtigter türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen liegt demnach nicht vor.
2.1.3. Soweit die Klägerin geltend macht, ihr Lebensunterhalt sei im maßgeblichen Zeitpunkt durch das (monatliche) Einkommen ihres Ehemanns aus einer Tätigkeit bei einer Gebäudereinigungsfirma (von im Mai 2016 ca. 1.000 Euro netto) und aus einer Nebentätigkeit (i. H. v. 400 Euro) gesichert, vermag dies die Prognose und die Bewertung des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht ernstlich in Zweifel zu ziehen. Denn die Klägerin hat im parallel geführten Eilverfahren (10 CS 16.1131) selbst vorgetragen, dass die Tätigkeit des Ehemanns bei dieser Gebäudereinigungsfirma zunächst bis zum 30. Juni 2016 befristet sei. Dass dieses Arbeitsverhältnis nunmehr unbefristet fortgeführt werde, hat die Klägerin aber weder geltend gemacht noch gar nachgewiesen. Zudem durfte das Verwaltungsgericht bei der anzustellenden Prognose berücksichtigen, dass der Ehemann der Klägerin, der bereits über einen längeren Zeitraum Sozialleistungen bezogen hat, nach eigenem Vorbringen einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente wegen seiner Schwerbehinderung weiterverfolgt. Nach einem der Beklagten vorgelegten ärztlichen Attest vom 3. September 2015 (Bl. 81 der Behördenakte) soll der Ehemann der Klägerin aufgrund der bei ihm diagnostizierten Erkrankungen im alltäglichen Leben auf die Hilfe seiner Frau angewiesen und derzeit im Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sein.
2.1.4. Weiter ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass bei der Klägerin kein atypischer Fall vorliege, der ein Abweichen von der Regelvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gebiete. Könne ein Ausländer wegen seines Alters oder dauerhafter Erkrankung keine den Lebensunterhalt sichernde Beschäftigung finden, rechtfertige dies als solches (noch) nicht die Annahme eines Ausnahmefalls. Die Tatsache, dass ein Ausländer aufgrund einer Erkrankung keiner ausreichenden Erwerbstätigkeit mehr nachgehen könne, stelle keinen Umstand dar, der im Einzelfall von der im gesetzlichen Tatbestand typisierten Konstellation deutlich abweiche. Sonstige Gründe für eine Atypik seien nicht ersichtlich.
Demgegenüber wendet die Klägerin ein, sie sei infolge ihrer Sehbehinderung fast bis zur völligen Erblindung auf die Betreuung und Fürsorge ihres Ehemannes angewiesen. Sie könne weder schreiben noch lesen und beherrsche die Blindenschrift nicht. Sie könne das Haus nur mithilfe einer Begleitperson verlassen. Eine atypische Ausnahmesituation liege vor, wenn der betroffene Ausländer die benötigte Hilfe nur von seinem im Bundesgebiet lebenden Angehörigen erwarten könne. Dies sei bei ihr der Fall. Ihr Ehemann sei im Bundesgebiet fest verwurzelt. Er sei im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, lebe seit über 20 Jahren im Bundesgebiet, sei erwerbstätig und habe hier sein gesamtes soziales Umfeld. Die Klägerin habe keine Personen in der Türkei, die ihre Betreuung und Pflege übernehmen würden. Sie sei daher unabdingbar darauf angewiesen, bei ihrem Ehemann im Bundesgebiet zu leben.
Auch damit werden keine rechtlichen oder tatsächlichen Umstände aufgezeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist. Durch § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Sicherung des Lebensunterhalts bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln im Ausländerrecht als eine Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen ist. Ausnahmen von der Regel sind daher grundsätzlich eng auszulegen. Ein Ausnahmefall ist nur bei besonderen, atypischen Umständen gegeben, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels muss aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten sein (st. Rspr.; vgl. z. B. BayVGH, U. v. 9.12.2015 – 19 B 15.1066 – juris Rn. 43 m. w. N.). Atypische Umstände in diesem Sinne liegen hier aber nicht vor. Der Umstand, dass der Ausländer zur Sicherung seines Lebensunterhalts aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen (etwa Alter oder Krankheit) nicht in der Lage ist, ist kein derartiger atypischer Umstand (BayVGH, U. v. 9.12.2015 a. a. O. Rn. 44 m. w. N.). Das Verwaltungsgericht ist vielmehr zu Recht davon ausgegangen, dass der Klägerin und ihrem Ehemann die Fortsetzung der Ehe und Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland Türkei möglich und zumutbar ist. Es hat dabei in nicht zu beanstandender Weise darauf abgestellt, dass die Klägerin erst im Alter von 49 Jahren im Januar 2011 aus der Türkei nach Deutschland eingereist ist, die im Jahr 2008 geborene Tochter ohnehin noch bei Verwandten in der Türkei lebt und die Integration der Klägerin in Deutschland weder in wirtschaftlicher noch in sozialer Hinsicht gelungen ist. Einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet kann ihr Ehemann, der sich im Jahr 1999 von der Klägerin hatte scheiden lassen, erst nach seiner Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen im selben Jahr und der Einreise im September 2000 zum Ehegattennachzug zur (damaligen – Scheidung im Februar 2008) deutschen Ehefrau nachweisen. Von einer gelungenen wirtschaftlichen Integration kann bei ihm jedenfalls zuletzt nach dem Bezug von Sozialleistungen seit Juni 2013 ebenfalls nicht (mehr) ausgegangen werden. Durchgreifende, gegen ein Familienleben der Klägerin in ihrem Herkunftsland sprechende Gründe hat das Verwaltungsgericht nach alledem zu Recht nicht erkannt.
2.1.5. Schließlich hat das Verwaltungsgericht auch die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 30 Abs. 3 AufenthG nicht beanstandet. Die Beklagte habe das öffentliche Interesse am Schutz des deutschen Sozialleistungssystems unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls höher bewertet als das Bleibeinteresse der Klägerin. Durchgreifende Gründe dafür, dass der Klägerin die Fortsetzung ihrer Ehe vom Heimatland aus oder eine gemeinsame Rückkehr zusammen mit ihrem Ehemann nicht zumutbar sei, seien nicht ersichtlich.
Insoweit rügt die Klägerin, die Beklagte habe bei der Ermessensentscheidung nach § 30 Abs. 3 AufenthG ihre Schwerbehinderung nicht ausreichend gewürdigt und sie damit als Behinderte in unzulässiger Weise benachteiligt. Auch damit werden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht dargelegt. Das im Rahmen des § 30 Abs. 3 AufenthG durch die Behörde auszuübende Ermessen ist vor allem am Wert der ehelichen Lebensgemeinschaft und am verfassungsrechtlichen Schutz gerade des bereits im Inland geführten Ehelebens (Art. 6 Abs. 1 GG) auszurichten (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 11. Aufl. 2016, § 30 Rn. 31 ff.; Tewocht in Beck’scher Online-Kommentar, Ausländerrecht, Stand: 1.2.2016, AufenthG § 30 Rn. 37). Die Beklagte hat in rechtlich nicht zu beanstandender Weise bei der gebotenen Abwägung die Unterbindung bzw. Beendigung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet im Hinblick auf den verfolgten Zweck des Schutzes der Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme durch eine dauerhafte Hilfebedürftigkeit der Klägerin und ihres Ehemanns als geeignete, erforderliche und unter Berücksichtigung der oben dargelegten Umstände angemessene, d. h. zumutbare Maßnahme angesehen. Die durch die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung im Übrigen gewürdigte Sehbehinderung der Klägerin führt entgegen dem Zulassungsvorbringen nicht zur Fehlerhaftigkeit dieser Ermessensentscheidung.
2.2. Soweit die Klägerin im Hinblick auf die „gemeinschaftsrechtlichen Fragen“ der „Anwendbarkeit der Standstillklausel auf § 21 Abs. 3 AuslG 1965“ und „des Verstoßes des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegen die Standstillklausel des Art. 13 ARB 1/80“ besondere (tatsächliche und) rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) geltend macht, ist auch deshalb die Berufung nicht zuzulassen. Zum einen ist es Sache der nationalen Gerichte, zu beurteilen, ob sich das nationale Recht zulasten der Klägerin verschlechtert hat, so dass sich in diesem Zusammenhang schon keine gemeinschaftsrechtlichen (Zweifels-)Fragen stellen (vgl. BVerwG, U. v. 8.12.2009 – 1 C 16.08 – juris Rn. 30). Zum anderen weist die Rechtssache auch im Hinblick auf die Beurteilung der durch die Klägerin behaupteten Verschlechterungen des nationalen Rechts aus den bereits oben dargelegten Gründen keine besonderen rechtlichen Schwierigkeiten auf. Schließlich hat die Klägerin die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht ansatzweise den Anforderungen von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend (vgl. dazu etwa Happ in Eyermann, VwGO, Kommentar, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72) dargelegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.


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