Europarecht

Aufgrund unklarer Unterbringungsverhältnisse setzt die Rückführung eines Kleinkindes nach Italien das Erfordernis einer konkret-individuellen Zusicherung voraus

Aktenzeichen  M 19 K 19.51141

Datum:
28.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36390
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin-III-VO
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen mit der Maßgabe, dass dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vor Überstellung nach Italien eine Zusicherung der italienischen Behörden vorliegt, dass der Kläger zusammen mit der/den sorgeberechtigten Person/en unverzüglich nach der Ankunft in Italien einen sicheren Platz in einer Einrichtung erhält, die für Alleinstehende mit Kindern oder Familien eine spezielle Versorgung und Betreuung gewährleistet und deren individuelle Bedürfnisse abdeckt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 10 m.w.N.) auf Aufhebung des Bescheids vom 9. Oktober 2019 bleibt in der Sache ohne Erfolg, und zwar im Haupt- und im Hilfsantrag.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtmäßig und verletzt den Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG, § 84 Abs. 1 VwGO) nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit des Klägers als einjähriges Kleinkind erfolgt die Klageabweisung allerdings mit der Maßgabe, dass dem Bundesamt vor der Überstellung des Klägers eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden vorliegen muss, der zufolge er zusammen mit seiner Mutter unverzüglich nach der Ankunft in Italien einen sicheren Platz in einer Einrichtung erhält, die für alleinstehende Frauen mit Kindern oder Familien eine spezielle Versorgung und Betreuung gewährleistet und deren individuelle Bedürfnisse abdeckt. Ebenso ist der hilfsweise gestellte Anspruch, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen, zwar als Verpflichtungsklage zulässig, aber unbegründet.
I.
Die Beklagte hat in ihrem Bescheid vom 9. Oktober 2019 zu Recht den Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (nachfolgend unter 1.), das Fehlen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festgestellt (nachfolgend unter 2.), die Abschiebung nach Italien angeordnet (nachfolgend unter 3.) und eine 15-monatige Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (nachfolgend unter 4.) ausgesprochen.
1. Der Asylantrag des Klägers ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG unzulässig. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin-III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Vorliegend ist Italien aufgrund der Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
1.1. Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des minderjährigen Klägers bestimmt sich nach der für seine Mutter zu ermittelnden Zuständigkeit (Art. 20 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Dublin-III-VO). Bezüglich des „Dublin-Verfahrens“ des nachgeborenen Kindes ist gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO „die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss.“
Vorliegend ist für den Kläger die allein sorgeberechtigte Mutter (§ 1626a Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) Familienangehörige im Sinne des Art. 2 lit. g 3. Spiegelstrich Dublin-III-VO. Sie ist damit die für den ein Jahr alten Kläger Verantwortliche. Aus der Akte und dem Vortrag der Klägerseite geht nicht hervor, ob auch der Vater des Kindes, der bislang allein eine Vaterschaftsanerkennung vorgelegt und sonst keine Nachweise für eine Ehe mit der Kindsmutter vorgetragen hat, sorgeberechtigt ist. Bezüglich der Zuständigkeitsermittlung des Klägers ist damit allein auf den für die Mutter zuständigen Mitgliedstaat abzustellen.
1.2. Die Beklagte ging im Zeitpunkt des Bescheidserlasses der Mutter am 3. Juni 2019 zurecht von der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung deren Asylverfahrens aus.
Ausgehend von den Eurodac-Daten, dem Vortrag der gesetzlichen Vertreterin des Klägers und der fehlenden Reaktion Italiens innerhalb der Antwortfrist auf das gestellte Wiederaufnahmegesuch, war vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG zuständig. Aufgrund des am 31. März 2019 ermittelten Eurodac-Treffers mit der Kennzeichnung der Kategorie 1 („IT1“) dürfen das Bundesamt und auch das entscheidende Gericht davon ausgehen, dass die Mutter in Italien einen Asylantrag gestellt hatte. Im Sinne des dementsprechend durchzuführenden Wiederaufnahmeverfahrens (Kapitel VI, Abschnitt III der Dublin-III-VO) hat die Beklagte gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung am 26. April 2019 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien gestellt. Ein Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO trat damit nicht ein. Da Italien innerhalb der 2-wöchigen Antwortfrist des Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO keine Antwort erteilte, trat die Stattgabefiktion des Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO ein, mit der nach sich ziehenden Verpflichtung Italiens, die betreffende Person wiederaufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen (Art. 18 Abs. 1 lit. b – d Dublin-III-VO).
1.3. Die Zuständigkeit Italiens ist auch nicht aufgrund Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen. Gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO erfolgt die Überstellung eines Antragstellers aus dem ersuchenden Mitgliedstaat (hier: der Beklagten) in den zuständigen Mitgliedstaat (hier: Italien) gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und „spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat“.
Der zunächst aufgrund der Stattgabefiktion des Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO ab 10. Mai 2019 laufende Fristbeginn der sechsmonatigen Überstellung wurde durch die Klageerhebung der Mutter am … Juni 2019 unterbrochen. Die Überstellungsfrist begann seitdem nicht erneut zu laufen, da über die Klage der Mutter bislang nicht rechtskräftig entschieden wurde (Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 Dublin-III-VO „endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung“). Die Erhebung der Klage impliziert, dass die genannte Frist erst zu laufen beginnt, wenn die endgültige Entscheidung über den Rechtsbehelf ergangen ist, sofern der Rechtsbehelf gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat (EuGH, U.v. 26.7.2017 – A.S., C-490/16 – juris Rn. 60).
Vorliegend kommt der Klage der Mutter des Klägers die grundsätzlich bestehende, aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu. Denn die Beklagte hat unter Nr. 3 des Bescheids der Mutter vom 3. Juni 2019 eine Abschiebungsandrohung und keine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 oder 2 AsylG verfügt. Rechtsgrundlage dieser Abschiebungsandrohung ist § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG.
Die Beklagte hatte vorliegend auch zurecht eine Abschiebungsandrohung erlassen, da zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids der Mutter am 3. Juni 2019 vom Vorliegen eines Abschiebungshindernisses im Sinne einer Reiseunfähigkeit auszugehen war aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Niederkunft des schließlich am … Juli 2019 geborenen Klägers. Dies ergibt sich unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung aus den gesetzlichen Schutzvorschriften der § 3 Abs. 2, § 6 Abs. 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG). In Anlehnung daran beginnt der Abschiebungsschutz sechs Wochen vor der Entbindung und endet acht bzw. bei Früh- und Mehrlingsgeburten zwölf Wochen nach der Entbindung. Der erwartete Entbindungstermin war am 19. Juli 2019; innerhalb von vier Tagen vor Beginn der sechswöchigen Mutterschutzfrist wäre eine Durchführung der Abschiebung nicht realisierbar gewesen, sodass das Bundesamt bereits im Zeitpunkt des Bescheidserlasses vom Vorliegen der Voraussetzung des § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG ausgehen durfte.
Gemäß der in Nr. 3 des Bescheids der Mutter des Klägers verfügten Abschiebungsandrohung endet die Ausreisefrist erst 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss ihres Asylverfahrens. Ihre Abschiebung kann somit in keinem Fall früher als 30 Tage nach dem „unanfechtbaren“ Abschluss ihres Asylverfahrens bzw. nach Bestandskraft des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamts vom 3. Juni 2019 in Betracht kommen, vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Der Klage kommt damit kraft Gesetzes nach § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 38 AsylG aufschiebende Wirkung zu (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.4.2020 – W 10 K 19.30677 – juris Rn. 33 ff. m.w.N.). Nachdem über die Klage der Mutter noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, ist die sechsmonatige Überstellungsfrist nach wie vor unterbrochen und konnte nicht neu anlaufen.
1.4. Ebenfalls ist auch nicht von einem Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin-III-VO auszugehen. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung „gemäß diesem Absatz“ an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann. Bezuggenommen wird auf Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO, wonach vorausgesetzt wird, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
1.4.1. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rs. „Jawo“, juris Rn. 80 f.; U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 84.; U.v. 21.12.2011 – C- 411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) gilt die Vermutung, dass in den Mitgliedstaaten die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der GRC und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Einklang steht. Demzufolge ist davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründet jedoch nur eine widerlegliche Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 83 f.).
Um diese Vermutung zu widerlegen, müssten Umstände substantiiert vorgetragen und ggf. belegt werden, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Im Hinblick auf das Ziel der Dublin-III-VO, zügig und effektiv den für das Asylverfahren zuständigen Staat zu bestimmen, können geringfügige Verstöße hierfür nicht ausreichen. Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417, Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41).
Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91). Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S., Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413 Rn. 342).
Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 93). Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen.
1.4.2. Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, wird nach Auffassung des Gerichts die hohe Schwelle des Art. 4 GRC, bei deren Überschreitung eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (unions-)rechtswidrig ist, nicht überschritten (nachfolgend unter (1)). Daran vermag auch die vom Gericht erkannte, nicht zweifelsfrei sichergestellte Unterbringung vulnerabler Personen in Italien nichts zu verändern. Den verbleibenden Zweifeln hinsichtlich einer unverzüglichen Sicherstellung der Unterbringung vulnerabler Personen in einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Weise kann durch die Einforderung einer Zusicherung der italienischen Behörden begegnet werden (nachfolgend unter (2)).
(1) Bezüglich nicht vulnerabler Personen ist auf die umfassende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu verweisen, die auch vor dem Hintergrund der am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen gesetzlichen Änderungen bezüglich Aufnahmebedingungen und Unterbringung durch das „Decreto Legge No. 113 vom 4. Oktober 2018“ über Sicherheit und Migration, dem sog. „Salvini-Dekret“, nicht vom Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO ausgeht (vgl. insbesondere VGH Bad.-Würt., U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 112 ff.; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201/18 – juris Rn. 40; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 – juris Rn. 36 m.w.N.; NdsOVG, B.v. 6.6.2018 – 10 LB 167/18 – juris Rn. 32, bestätigt von BVerwG, B.v. 12.9.2018 – 1 B 50/18, 1 PKH 39/18 – juris; VG Würzburg, U.v. 3.4.2020 – W 10 K 19.30677 – juris Rn. 36ff.; VG Augsburg, U.v. 9.7.2020 – Au 9 K 20.30303 – juris Rn. 44; VG Cottbus, U.v. 26.8.2020 – 5 K 1123/19.A – juris Rn. 17 ff.; VG Freiburg, U.v.19.8.2020 – A 10 K 3159/18 – juris Rn. 42 ff.).
Die Kammer schließt sich diesen Einschätzungen auch unter Berücksichtigung der im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) neu hinzugekommenen Erkenntnismittel an. Diese führen nicht zu einer anderen Bewertung der für Rückkehrer maßgeblichen Verhältnisse in Italien.
Die mit dem Salvini-Dekret einhergehende Umstrukturierung führt nicht per se zu einem Mangel an Unterbringungsplätzen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Dublin-Rückkehrer in der Lage sein werden, sich den – zwar im Vergleich zu Deutschland schwierigeren – Bedingungen zu stellen und durch ein gewisses Maß an Eigeninitiative diese auch zu bewältigen. So wurden Ende 2018 zwar in gewissen Bereichen (Streichung der Integrationsmaßnahmen; psychologische Betreuung nur noch in Hotspots und Schubhaftzentren) Einsparungen vorgenommen. Doch auch nach dem Salvini-Dekret erhalten Flüchtlinge während des Asylverfahrens weiterhin Leistungen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, insbesondere Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung. Streichungen oder Kürzungen sind insoweit nicht vorgesehen (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Gesamtaktualisierung 9.10.2019, S. 13). Abstriche sind durch das Dekret auch nicht bezüglich medizinischer Basisleistungen und insbesondere der kostenfreien Notfallversorgung angeordnet. In den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben Ärzte beschäftigt, die medizinische Erstuntersuchungen und Notfallmaßnahmen vornehmen, auch um die nationalen Gesundheitsdienste zu entlasten. Zudem bleibt der Zugang zu öffentlichen Krankenhäusern gewährleistet (BFA, Italien, 9.10.2019, a.a.O., S. 19, 20; AIDA – Asylum Information Database: Association for Legal Studies on Immigration (ASGI) / European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Country Report: Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, S. 113 ff.).
Auf die noch 2018 bestehenden Defizite, wonach unangemessene und überfüllte Einrichtungen in Rom und anderen Hauptstädten und limitierter Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Rechtsberatung, Grundbildung und anderen öffentlichen Diensten zu verzeichnen waren (US Departement of State, Country Report on Human Rights Practices 2017 – Italy vom 20.4.2018, https://www.ecoi.net/en/document/1430262.html), wirken sich zumindest die seitdem stetig abnehmenden Anlandungszahlen positiv aus. Die Neuankünfte 2018 betrugen nur ca. ein Viertel der Neueinkünfte des Zeitraums im Vorjahr (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8.5.2019, S. 12). Hinsichtlich der insgesamt von Italien untergebrachten Migranten sind sinkende Zahlen zu verzeichnen, waren es 2018 noch 182.537, waren es 2019 nur noch 131.067 und 2020 sank die Zahl auf 90.198 (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2.4.2020, S. 7; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 – Rn. 57). Angesichts fortbestehender Rücküberstellungen, einem Rückstau anhängiger Verfahren und der Schließung von Aufnahmezentren bleibt der Druck auf das italienische Asylsystem dennoch bestehen (SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8.5.2019, S. 12).
Die defizitären Umstände sind jedoch nicht so gravierend, dass sie den obergerichtlich aufgestellten Kriterien folgend (vgl. Rn. 31, 32), zu einer existentiellen Not der Dublin-Rückkehrer in Italien führen würden. Weder kann aus den dargelegten Mängeln eine Gleichgültigkeit der italienischen Behörden entnommen werden, noch eine zu befürchtende Verelendung der Dublin-Rückkehrer.
(2) An die Behandlung vulnerabler Personen sind allerdings – speziell hinsichtlich ihrer Unterbringung – besondere Anforderungen zu stellen, von deren zweifelsfreien Einhaltung durch Italien nach den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln nur bei Vorliegen einer individuellen Zusicherung Italiens ausgegangen werden kann (vgl. VG Regensburg, U.v. 29.5.2020 – RN 7 K 17.51851 – n.v. S. 7, 12, bestätigt von BayVGH, B.v. 9.9.2020 – 9 ZB 20.50011 – juris, Rn. 6 ff.; in Folge ebenso BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 13a ZB 18.30891 – juris Rn. 4f.).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 4. November 2014 im Fall einer Familie mit minderjährigen Kindern entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung der Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127, Rn. 114 ff.). Die allgemeine Situation der Asylbewerber in Italien war zwar nicht mit der Griechenlands vergleichbar und hatte nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern nach Italien verhindert (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 114 ff.). Es konnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Anzahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht war. Um sicherstellen zu können, dass die Aufnahmebedingungen an die Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen angepasst sind, mussten vor deren Abschiebung die vorgenannten individuellen Garantien eingeholt werden, (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 120, 122).
Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH), der mit seinen Urteilen vom März 2019 (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 90 f.; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rs. „Jawo“, juris Rn. 92 ff.) die Maßstäbe für Rückführungen im Dublinraum präzisierte und tendenziell eher verschärfte (vgl. Rn. 34, 35), erkennt das Erfordernis einer Differenzierung zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits und Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit andererseits an (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a – Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 93).
In gleicher Weise forderte auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, B.v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – juris Rn. 19 f.; B.v. 8.5.2017 – 2 BvR 157/17 – juris Rn. 16; B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 16), dass jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen (vgl. Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-VO) und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen ist, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für die in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.
Die italienischen Behörden reagierten auf die „Tarakhel“ Rechtsprechung des EGMR mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015, in denen sie allgemein zusicherten, dass Familien mit (Klein-) Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten SPRAR-Unterkünften untergebracht werden. Daraufhin relativierte der EGMR im Jahr 2016 sein Urteil insofern, als von dem Erfordernis der konkret-individuellen Zusicherung wieder abgesehen wurde (EGMR, E.v. 4.10.2016, Ali v. Switzerland and Italy, Nr. 30474/14, https://dejure.org, Rn. 34). Zu diesem Zeitpunkt sicherten die allgemeinen Zusicherungen Italiens jedoch noch eine grundsätzliche Unterbringung von Familien mit (Klein-) Kindern in SPRAR-Unterkünften zu.
Dies änderte sich jedoch seit den Umstrukturierungen durch das Salvini-Dekret vom Oktober 2018 in entscheidungserheblicher Weise, die die vorliegend getroffene Maßgabe-Entscheidung erforderlich macht. Das neue Unterbringungssystem Italiens differenziert nun zwischen einer Erstaufnahme („prima accoglienza“) und einer sekundären Versorgungsschiene („Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“ – SIPROIMI). Asylsuchende – auch Dublin-Rückkehrer – werden in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und verbleiben während des Asylverfahrens dort. In den SIPROIMI (bis Ende 2018 SPRAR), den Aufnahmeeinrichtungen der zweiten Ebene, werden ausschließlich unbegleitete Minderjährige sowie international Schutzberechtigte untergebracht. Unstreitig ist damit, dass die vom EGMR in Bezug genommenen besser ausgestatteten SPRAR-Unterkünfte, die jetzigen SIPROIMI, den Dublin-Rückkehrern und somit auch Familien mit (Klein-) Kindern nicht mehr zur Verfügung stehen. Davon, dass die übrigen Unterkünfte für Asylsuchende (CAS und CARA) eine kind- und familiengerechte Unterbringung gewährleisten, kann jedoch nicht ohne Weiteres ausgegangen werden.
Der allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 ist zunächst die Unterbringung vulnerabler Personen in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu entnehmen. Darüber hinaus kann aus ihr nicht die hinreichende Gewissheit gewonnen werden, dass, wo und wie, die italienischen Behörden eine dem Alter und der Situation einer Familie mit Säugling angemessene Unterbringung tatsächlich ermöglichen können (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23). Denn den durch den EGMR aufgestellten Anforderungen an die Unterbringungsgarantien bezüglich Familien und schwer erkrankten Asylsuchenden kann dieses allgemeine Schreiben vom 8. Januar 2019 hinsichtlich der dargestellten, weitreichenden Änderungen des italienischen Unterbringungssystems nicht mehr standhalten (vgl. Schweizer Bundesverwaltungsgericht, BVGer, U.v. 17.12.2019 – E-962/2019 – abrufbar unter https://www.bvger.ch/bvger/de/home/rechtsprechung/referenzurteile/asyl/dublin-italien.html; AIDA – Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, a.a.O. S. 62).
Den geänderten Verhältnissen bezüglich der Unterbringung vulnerabler Personen Rechnung tragend, ist damit bei dieser Personengruppe eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung zu fordern (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23 f.; VGH Bad.-Würt., U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 7 AS 19.50020 – juris Rn. 17 f.). Dieser obergerichtlichen Rechtsprechung folgend, geht das Gericht daher derzeit davon aus, dass für den Kläger als besonders schutzbedürftige Person eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien eingeholt werden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind.
Die in den zuletzt verfügbaren Erkenntnismitteln geäußerten Bedenken, dass nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass selbst vulnerable Personen sofort nach ihrer Ankunft in Italien Zugang zu einer angemessenen Unterkunft haben werden (SFH Januar 2020, a.a.O. S. 16, 102; Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, S. 61), können auch weder durch den Bericht des Bundesamts vom April 2020 (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2.4.2020) noch durch die Erläuterungen des Bundesamts in der mündlichen Verhandlung ausgeräumt werden.
So weist das Bundesamt in seinem Bericht vom 2. April 2020 selbst auf regionale Unterschiede im Unterbringungssystem hin (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 51) und kann bei der Darstellung der drei besuchten Aufnahmeeinrichtungen in Rom, Mailand und St. Anna (Nähe Crotone) keine verbindlichen Aussagen zum Zeitpunkt und zum Ort der gesicherten Unterbringung treffen (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 25 – 38). Vage Begrifflichkeiten („in der Regel“ werde in Rom […] untergebracht; „üblicherweise“ würden zurückgekehrte Familien von Mitarbeitenden der Unterkünfte am Flughafen abgeholt und in die jeweiligen Unterkünfte gebracht, BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 27) sowie der im Bericht durchgehend verwendete Konjunktiv verstärken die Zweifel an einer Sicherstellung der erhöhten Anforderungen im Hinblick auf den vulnerablen Personenkreis. Gleiches gilt bezüglich der Aussagen des italienischen Flüchtlingsrats, der die Sorge, dass eine Familie mit Kindern nach der Rücküberstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens unfreiwillig obdachlos würde, nicht vollkommen ausschließen konnte (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 40). Vielfach werden Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die zeitnahe Unterbringung vulnerabler Personen durch ehrenamtliche Helfer oder NGOs aufgefangen (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 47), was jedoch nicht sicher planbar und verlässlich ist.
Ebenso lassen die klageerwidernden Schriftsätze vom 19. November 2019 und vom 4. Mai 2020 zu den italienischen Aufnahmebedingungen für vulnerable Personen Zweifel offen. So können beispielsweise die im Zusammenhang mit dem Abbruch von Überstellungen durch italienische Behörden gemachten „hiesigen Erfahrungen“ nicht näher konkretisiert werden. Die Erkenntnisse oder Umstände, aufgrund derer das Bundesamt trotz fehlender Rückmeldung Italiens – sowohl im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung als auch bei der (Ankündigung der) Rückführung – von einer adäquaten Unterbringung und Versorgung vulnerabler Personen ausgeht, werden nicht dargestellt. Statistische Auswertungen hierzu seien laut Bundesamt nicht möglich, da jede Überstellung als Einzelfall behandelt werde. Weshalb eine Einzelfallbehandlung eine statistische Auswertung unmöglich machen soll, erschließt sich dem Gericht nicht.
Schließlich verdeutlicht der Vortrag des Bundesamts in der mündlichen Verhandlung, dass das derzeitige Überstellungssystem nach Italien die Sicherstellung der Bedürfnisse vulnerabler Personen, wie beispielsweise von Kleinkindern, nicht gewährleisten kann. Demzufolge wird selbst bei der Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen keine individuelle konkrete Zusicherung über eine kinder- und familienfreundliche Unterkunft eingeholt. Abgestimmt werden allein die Modalitäten hinsichtlich des Überstellungstermins. Bezüglich nach Italien zu überstellender vulnerabler Personen kommt das generell in den Mitgliedstaaten für Dublin-Überstellungen vorgesehene Verfahren zur Anwendung. Demnach teilt das Bundesamt die konkreten Überstellungsmodalitäten der Ausländerbehörde mit, die im Anschluss einen Flug bucht und diesen Termin mitsamt einem Laissezpasser dem Bundesamt mitteilt. Der darauffolgende Kontakt zwischen Bundesamt und Mitgliedstaat erfolgt ausschließlich über das Dublin Net. Hierüber erfährt der Mitgliedstaat, für wann die Abschiebung vorgesehen ist (Flugdaten und Flugnummer). Danach erhält das Bundesamt nur noch Kenntnis darüber, ob eine Überstellung erfolgreich war oder nicht, nicht dagegen, ob und wie die Unterbringung erfolgt ist. In Fällen wie dem vorliegenden, in dem keine aktive Zustimmung Italiens zur Überstellung vorliegt, kommt erschwerend hinzu, dass dem Bundesamt auch das Stadium, in dem sich das Asylverfahren der zu überstellenden Person befindet, unbekannt ist.
Das Verfahren bei vulnerablen Personen unterscheidet sich nach der Aussage des Bundesamts in der mündlichen Verhandlung von der Überstellung einer nicht vulnerablen Person allein dadurch, dass im Standardformular unter dem Feld „Sonstige Bemerkungen“ ein Hinweis auf die besondere Schutzbedürftigkeit der zu überstellenden Person gemacht wird. Auch wird in Fällen wie dem vorliegenden nicht der Liaisonbeamte in Rom eingeschaltet, der lediglich im Falle straffälliger Rückkehrer in Erscheinung tritt. Wie bei den „klassischen“ Dublin-Überstellungen in sonstige EU-Mitgliedstaaten vertraut das Bundesamt auch in der vorliegenden, besonderen Fallkonstellation darauf, dass der Mitgliedstaat die Bemerkungen zur Kenntnis nimmt und die Unterbringung entsprechend den Notwendigkeiten der zu überstellenden Person gestaltet. Begründet wird dies damit, dass eine Vorabklärung der Unterbringung in den jeweiligen Mitgliedstaaten operativ unmöglich sei. Dies liege an den fehlenden personellen Kapazitäten der europäischen Asylbehörden und den behördlichen Zuständigkeiten. So würden derzeit sowohl in Deutschland als auch in Italien die Überstellung und die Unterbringung der überstellten Personen von unterschiedlichen Behördeneinheiten (sog. Dublin-Units) organisiert.
Diese Vorgehensweise mag sich für die Masse der Dublin-Überstellungen bewährt haben. Hinsichtlich der Überstellung vulnerabler Personen nach Italien stellt sie sich jedoch vor dem Hintergrund der Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR als unzureichend dar. Finanzielle oder behördenorganisatorische Gründe rechtfertigen nicht den Verzicht auf eine Einholung einer individuellen Zusicherung, die angesichts der dargestellten Änderungen durch das sog. Salvini-Dekret erforderlich wurde.
Schließlich kann (noch) nicht aus dem vom Bundesamt in der mündlichen Verhandlung mündlich vorgetragenen Quartalsbericht des Verbindungsbeamten in Rom auf eine zweifelsfrei sichere Unterbringung des Kleinkindes mit der für ihn verantwortlichen Person geschlossen werden. Hieraus ergibt sich, dass nach einem Kabinettsbeschluss der italienischen Regierung vom 5. Oktober 2020 das sog. Salvini-Dekret entschärft werden soll und die sog. SPRAR-Einrichtungen wiedereingeführt und als Sistema Accoglienza e Integrazione bezeichnet werden sowie nun auch wieder für vulnerable Personen offenstehen sollen. Allerdings ist bereits der Umsetzungsstand des Kabinettsbeschlusses unklar. Auch könnte es sich hierbei möglicherweise nur um eine Absichtserklärung handeln. Schließlich sieht der Beschluss zwar eine grundsätzliche Rückkehr zur Unterbringung der Familien in die qualitativ hochwertigeren SPRAR /SIPROIMI-Einrichtungen vor, gewährleistet diese aber nur im Rahmen der tatsächlichen Verfügbarkeit. Im Falle ihrer Auslastung müssten die Familien wiederum mit der Unterbringung in den Ersteinrichtungen rechnen.
Im vorliegenden Einzelfall ist es daher geboten, dass dem Bundesamt aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit des Klägers als einjähriges Kleinkind vor der Überstellung eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden vorliegt, dass der Kläger zusammen mit seiner Mutter unverzüglich nach der Ankunft in Italien einen sicheren Platz in einer Einrichtung erhält, die für alleinstehende Frauen mit Kindern eine spezielle Versorgung und Betreuung gewährleistet und deren individuelle Bedürfnisse abdeckt.
1.5. Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO verpflichten würden, sind nicht ersichtlich.
2. Die unter Nr. 2 des Bescheids vom 9. Oktober 2019 getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
2.1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
In ganz außergewöhnlichen Fällen können auch die hier allein relevanten zielstaatsbezogenen Umstände (VGH Bad.-Würt., U.v. 13.12.2012 – A 2 S 1995/12 – juris Rn. 15) Art. 3 EMRK verletzen, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Die Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 – Rn. 278, 282 f.) als auch des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167) macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 22; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153 – juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.).
Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22; B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6 m.w.N.; BayVGH U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 22 und 23). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzustellen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Wie der EGMR (U.v. 9.1. 2018 – Nr. 36417/16, X./Schweden – Rn. 50) klargestellt hat, ist ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent und kann daher nicht ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis verlangt werden, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6). Auf diesen Maßstab nimmt auch der EGMR in der Tarakhel-Entscheidung ausdrücklich Bezug (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127, Rn. 93, 104 f.), sieht ihn aber bereits dann als erfüllt an, wenn „die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann“, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht wird (vgl. EGMR a.a.O., S. 131 Rn. 115).
Letztendlich können vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und dem im Anwendungsbereich der Dublin-III-VO geltenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C- 163/17 – Rs. „Jawo“, juris Rn. 80 ff.; U.v. 25.7.2018 – C-216/88 – Rs. „PPU“ http://curia.europa.eu, Rn. 37) keine geringeren Anforderungen gelten als zur Frage der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC (vgl. hierzu VGH Bad.-Würt., U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 120).
Zur Vermeidung von Wiederholungen sei damit auf die Darstellung der Defizite der Überstellung und Unterbringung vulnerabler Personen bei der Prüfung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO verwiesen. Aufgrund der im Tenor geforderten konkreten Zusicherung zum Zeitpunkt der Rückführung kann jedoch eine unmenschliche Behandlung des Klägers ausgeschlossen werden. Es ist daher nicht vom Vorliegen eines Abschiebungsverbots auszugehen.
2.2. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Persönliche Abschiebungshindernisse, die über die allgemeinen Verhältnisse für vulnerable Asylbewerber in Italien hinausgehen, hat der Kläger nicht geltend gemacht. Für ihn und seine sorgeberechtigte Mutter wurden insbesondere keine besonderen Beschwerden, Erkrankungen oder Gebrechen geltend gemacht.
3. Die unter Nr. 3 des Bescheids vom 9. Oktober 2019 verfügte Abschiebungsanordnung nach Italien findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt dann, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Italien ist der nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständige Staat. Des Weiteren bestehen unter Zugrundelegung der tenorierten Maßgabe keine Hindernisse für die Durchführung der Abschiebung, insbesondere hinsichtlich des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO (vgl. Ausführung unter 1.).
Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG angesichts des Wortlauts der Norm („feststeht“) von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Beklagten zu prüfen sind (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 11; NdsOVG, B.v. 30.1.2019 – 10 LA 21/19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 125), sind nicht ersichtlich. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote bestehen ebenfalls nicht (vgl. Ausführung unter 2.).
4. Die unter Nr. 4 des Bescheids vom 9. Oktober 2019 ausgesprochene 15-monatige Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) beruht auf §§ 11 Abs. 2, 75 Nr. 12 AufenthG und begegnet nach Maßgabe des § 114 VwGO keinen rechtlichen Bedenken. Insbesondere hat sich die Beklagte bei der Festsetzung der Frist auf 15 Monate im unteren Bereich des durch § 11 Abs. 3 AufenthG aufgezeigten zeitlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren gehalten.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtkostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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